24. Dezember 2001

Heilig Abend ohne Pfarrer

Aus dem Zyklus "Baaßner Geschichten" von Christine Franck
Das Zusammenläuten der Glocken war verklungen. Sie hatten ganz eindringlich gerufen, sie hatten gemahnt, das kleine Glöcklein hatte geklagt, und dann hatten sich ihre drei Stimmen vereint, und ihr Brausen war bis hinaufgestiegen, war an die bewaldeten Hügel gestoßen und in der kalten, klaren Luft von dort zurückgehallt.
Die dreischiffige romanische Basilika auf dem St. Michaels-Berg in Michelsberg bei Hermannstadt. Foto: Michael Leh
Die dreischiffige romanische Basilika auf dem St. Michaels-Berg in Michelsberg bei Hermannstadt. Foto: Michael Leh

Es seien alte, wertvolle Glocken, wurde erzählt, jahrhundertealt, mit gotischer Inschrift. Die große Glocke sei dem heiligen Nikolaus geweiht, sie sei ausgestattet mit der Kraft der Dreifaltigkeit, und ihr Klang würde uns vor Unwettern beschützen.
Teure Glocken hatten wir in Baaßen, denn wenn sie mit ihrer ganzen Gewalt riefen, gingen die Menschen gemessenen Schrittes zur Kirche oder zum Begräbnis und legten so viel Würde an, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Sie schritten mit Maskengesichtern, nickten zum Gruß nur leicht mit dem Kopf und verzogen dabei keine Miene.
In der Kirche war es still, die Lichtlein an der Tanne verzauberten das Kirchenschiff, die Orgel setzte ein.
Das Orgelspiel dauerte und dauerte, der Pfarrer war noch immer nicht da, die Gemeinde wartete geduldig. Der Pfarrer aus der Nachbargemeinde Wölz würde sich nicht mehr lange verspäten, es war ja Heilig Abend. An diesem Abend konnte man das Leuchten in den vielen Kinderaugen nicht übersehen, und man durfte es nicht enttäuschen.
Unser Herr Pfarrer Rosenauer war im Frühsommer gestorben, zur Zeit der großen Regen, an einem Schlaganfall, der ihn mitten im Dorf getroffen hatte, vor dem Dudusch Kares Sam. Man hatte ihn ins Haus getragen, man hatte einen Arzt gerufen, für ihn zu spät.
Ich sah ihn vor mir. Mit seinen weißen Haaren, mit seiner gütigen Stimme. Damals, als ich noch ein kleines Mädchen war, als ich mein erstes Gedicht vor der Tanne mit den Lichtlein aufsagte, hatte er mich auf den Arm genommen und um die Tanne herum getragen, und die Frauen hatten mir allerhand gute Sachen in mein Sacktuch gelegt. Daheim sagte ich der Mutter, ich hätte mit dem lieben Gott gesprochen.
Es war ein großes Begräbnis gewesen. Von allen Nachbardörfern und aus dem fernen Hermannstadt waren die Pfarrer gekommen. Unser ganzes Dorf war auf den Beinen, und wir Schulkinder waren von Haus zu Haus, mit großen Körben, um Blumen gegangen. Mit diesen Blumen und mit grünen Zweigen, die die jungen Burschen aus dem Wald holten, banden de Meed, die jungen Maiden, Kränze und erstellten Blumengebinde.
Damals standen alle Sträucher in der Blüte, aber alles war nass vom vielen Regen, und manche Hausfrau rümpfte die Nase, weil wir Trittspuren in den Gartenbeeten hinterließen. Ich kannte alle Rosensträucher in den Gärten und konnte auch freundlich bitten, so dass unser Grüppchen meistens die schönsten Blumen herbeiholte. Aber auch die Feiger Susi vom Heffel war immer dabei, und die hatten einen großen Garten mit vielen Rosen, rosa Rosen, ohne Stacheln, große, duftende Sträucher, Probinzriusen, wie wir sie nannten.
Unter einem riesigen Rosenhügel hatten wir unseren Herrn Vueter und seine schönen Geschichten aus dem Religionsunterricht im Lechguerten (Friedhof) zurückgelassen.
Eilige Schritte näherten sich durch den Mittelgang und wir drehten gespannt unsere Köpfe. Es war nur die Burchhaider-Grius (Burghüter-Großmutter). Sie ging zur Fra Motter, die ganz in Schwarz vorne bei den Ausschussfrauen war, bei den Frauen, die mit den Gaben rund um den Christbaum saßen. Diese Frauen hatten wahre Wunderwerke für uns Kinder gezaubert. Einen ganzen Monat hatten sie gesammelt, eingekauft, gebacken und wieder gebacken: Honigkuchen, Weihnachtsmänner, große Herzen, alles schön verziert, mit Nusskernen, mit weißen und roten Blümchen und Schleifchen aus süßem Eierschnee.
Die Fra Motter hatte alles organisiert und überwacht, wie all die Jahre. Sie hatte auch mit uns Kindern an mehreren Nachmittagen die Weihnachtslieder geprobt und die Gedichte eingeübt. Unser Fräulein hatte sie dabei unterstützt, indem sie uns einige neue Weihnachtslieder lehrte.
Es war alles vorbereitet, ein Pfarrer war nur für die Predigt notwendig und für die Lesung der Weihnachtsgeschichte.
Die Burchhaider-Grius überbrachte der Fra Motter, ganz leise, eine Botschaft, verneigte sich dann kurz und schritt auf Zehenspitzen zum Mittelgang.
Die Frau Pfarrer Ida Rosenauer, unsere Fra Motter, trat vor den Christbaum.
Die Orgel verstummte, es wurde ganz still.
Laut und deutlich erklang die Stimme der kleinen Frau, ihr ungarischer Akzent störte niemanden, jeder kannte sie, man respektierte sie, sie war seit ewig die Fra Motter. Jahrelang hatte sie die Pfarrei bewirtschaftet, den großen Garten bebaut, die vier Enkelkinder großgezogen, hatte gerackert und geschuftet, war mit Tatkraft dem Herrn Pfarrer zur Seite gestanden.
Der Wölzer Pfarrer würde nicht kommen, aber wir würden nach altem Baaßner Brauch, Heilig Abend feiern. Heilig Abend für die Kinder. Und wir sangen unsere Lieder und sagten unsere Gedichte und die Fra Motter las die Bibelgeschichte über die Geburt des Jesuskindes. Dann spielte die Orgel und die ganze Gemeinde sang die altbekannten Weihnachtslieder, während wir Kinder um die Tanne herum zur Bescherung gingen und geduldig warteten, bis jede Frau uns etwas aus ihrem großen Korb ins Sacktuch legte.
Mit unseren prall gefüllten Tüchern setzten wir uns dann wieder, ganz still und leise, auf unsere Plätze und betrachteten die Tanne, an der eine der Ausschussfrauen immer wieder eine Wunderkerze entzündete. Hüpfende Sternlein sprangen auf die Ästchen, flossen nach unten und verschwanden.
Und die Traumwelt war wieder da. Lächelte der Herr Vueter nicht dort vorne bei der Tanne mit den Lichtlein? Hatte er nicht ganz ergreifend die Jesusgeschichte vorgelesen?
Ich blickte genau hin.
Ganz allein und schwarz stand nur die Fra Motter da. Sie stand in der Wirklichkeit, klein und kraftvoll. Und dann betete sie mit der ganzen Gemeinde das ,Vaterunser? und anschließend brauste die Orgel ,Stille Nacht, heilige Nacht?.

Christine Franck


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