25. Dezember 2001

Schätze der Siebenbürgischen Bibliothek: Märchen- und Sagensammlungen

Zugegeben, nicht alle Menschen sind Bücherliebhaber oder Sammler. Nicht jeder hat sich eine Bibliothek eingerichtet, nicht jeder kauft sich ständig neue Bücher. Aber zu ein paar Büchern hat doch jeder eine besondere Beziehung. Vielfach sind das die allerersten Bücher überhaupt, die man kennen gelernt hat: Kinder-, Jugend- und Schulbücher.
Vor allem die Ersten sind einem noch gegenwärtig, die Bilder- und Märchenbücher. Vielfach konnte man noch nicht selber lesen und wollte von den Erwachsenen - Eltern oder Großeltern - die Geschichten vorgelesen bekommen, die einen in die Welt der Phantasie entführten.
Märchenbücher sind bis heute weit verbreitet und nehmen es an emotionaler Wärme jederzeit mit den Zeichentickfilmen im Fernsehen auf. Vorlesen aus Märchenbüchern ist "interaktiv", gestattet kindliches Zwischenfragen und lässt Raum, eigene kreative Vorstellungen zu entwickeln. Märchen und Sagen werden in allen menschlichen Kulturen - vor allem mündlich - überliefert. Sie sind miteinander verwandt, da sie universelle Themen in kindgerechten Beispielen zur Sprache bringen und damit die Grundlagen für ein ethisches Empfinden schaffen.
Seit rund 200 Jahren gibt es Bestrebungen, die Märchen der Völker in Schriftform festzuhalten, denn man befürchtete, dass in einer sich schnell verändernden Welt diese Überlieferungen bald vergessen seien. Wie die Welt sich verändert, so verändern sich jedoch auch die Märchen. Zu den bekanntesten Märchensammlungen gehören die von Jacob und Wilhelm Grimm zusammengetragenen "Deutschen Hausmärchen". Zwar hat die Forschung erwiesen, dass diese Märchen nicht unbedingt Jahrtausende alt sind und nicht von germanischen Stämmen am Lagerfeuer erzählt wurden, sondern vielfach auf französische Kunstmärchen zurückgehen, die von Hugenotten, die in Deutschland Zuflucht fanden, verbreitet wurden und so über einfache Erzähler oder vielleicht auch manche literarische Bearbeitung den Weg in die "unsterbliche Sammlung" fanden. Dies tut ihnen jedoch im Kontext unserer Betrachtung keinen Abbruch.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden ein paar siebenbürgisch-sächsische Studenten, die in deutschen Ländern studierten, angeregt, auch die Märchen und Sagen ihrer Region zu sammeln. Zwei jedem bis heute geläufige Namen sind hier zu nennen: Friedrich Müller, der sich den Sagen zuwand, und Josef Haltrich, dem wir die wichtigste Dokumentation sächsischer Volksmärchen verdanken. Als Lehrer und Pfarrer auf sächsischen Landgemeinden gelang es ihnen, Mittelsleute zu finden, die ihnen das mündlich überlieferte Erzählgut berichteten. Sie bearbeiteten diese Sammlungen für den Druck und gaben sie in lokalen Verlagen in Koproduktion mit einem sächsischen Verleger in Wien heraus, so dass für eine Verbreitung im gesamten deutschen Sprachgebiet gesorgt war. Diese Sammlungen sind immer wieder nachgedruckt worden und wurden selbst im Kommunismus geschätzt.
Bis in die 1970er und 1980er Jahre hatten Haltrich und Müller in Siebenbürgen Nachfolger - Journalisten, Volkskundler und Sprachwissenschaftler, die weitere Märchen und Sagen aus dem Sachsenlande aufgespürt haben. Es seien hier nur beispielhaft genannt: Gisela Richter und Anneliese Thudt, Friedrich Schuster und Claus Stephani. Das von den erstgenannten Autorinnen herausgegebene Märchenbuch "Der tapfere Ritter Pfefferkorn" dürfte das erfolgreichste siebenbürgisch-sächsische Buch überhaupt sein. Nicht nur in Siebenbürgen, sondern vor allem in der DDR fand dieses Buch eine große Verbreitung und wurde mehrere Hunderttausend Mal verkauft.
Fast jeder von uns ist also neben den Grimmschen Märchen auch mit denen von Josef Haltrich und seinen Nachfolgern aufgewachsen. Vielfach wurden diese Märchenbücher von bekannten siebenbürgischen Künstlern illustriert. Ob diese Illustrationen bloße Auftragsarbeiten um des Lohnes willen oder künstlerische Herausforderungen waren, ist heute oft nicht mehr zu entscheiden. Auf jeden Fall sind diese illustrierten Werke die am weitesten verbreiteten geblieben. Wer erinnert sich nicht an die Illustrationen von Helmut von Arz, Viktor Stürmer, Sieglinde Bottesch oder Renate Mildner-Müller? Ihre Bilder haben sich fast noch mehr als die Texte in den kindlichen Köpfen festgesetzt und der Phantasie Konturen gegeben.
Wie das so ist mit Kinderbüchern. Man wächst aus ihnen heraus, man vermacht sie kleineren Geschwistern oder Bekannten. Sie erhalten unweigerlich immer mehr Gebrauchsspuren, werden unansehnlich, wandern in den Müll. Nach Jahrzehnten, wenn man selbst in die Rolle eines Vorlesers schlüpft, erwacht eine Sehnsucht, die Geschichten, die einen selbst fasziniert haben, weiterzugeben oder sie zumindest noch einmal zu lesen und zu prüfen, ob sie den gleichen Zauber auf die eigenen Kinder entfalten, dem man einst erlegen war. Bei den Grimmschen Märchen ist das kein Problem. Sie sind noch in zahlreichen Ausgaben erhältlich. Weniger zahlreich sind die siebenbürgischen Märchen. Von Zeit zu Zeit erscheinen auch in Deutschland immer wieder Sammlungen mit siebenbürgischen Märchen von sächsischen Verlegern oder großen Verlagen in verschiedenen Reihen wie die "Märchen der Welt". Ob diese Bücher dann auch die Kinderherzen erreichen, weiß ich nicht zu sagen.
Neben den klassischen sächsischen Märchen- und Sagensammlungen in zahlreichen Auflagen besitzt die Siebenbürgische Bibliothek auch deutsche Übersetzungen rumänischer Volks- oder Kunstmärchen. Auch diese Märchen sind uns vielleicht noch aus Kindertagen bekannt, und wir wissen noch, wie der Prinz oder andere wichtige Figuren im rumänischen Märchen hießen. Mehrere sächsische Volkskundler haben auch die Überlieferungen der Rumänen oder anderer ethnischer Gruppen gesammelt und veröffentlicht. In Gundelsheim befinden sich mehrere Publikationen der Pfarrerstochter Pauline Schullerus über "Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal" oder des Volkskundlers Heinrich von Wlislocki, der Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich durch die Erforschung der Wanderzigeuner in der Fachwelt bekannt wurde. Seine Märchensammlung zigeunerischer Märchen ist noch heute Grundlage aller diesbezüglichen Anthologien. Ihn interessierten alle ethnischen Gruppen Siebenbürgens, und so entstand sogar eine Sammlung armenischer Märchen.
Die Märchenbücher der Siebenbürgischen Bibliothek sind verständlicherweise nicht zum Gebrauch von Kindern oder zum Vorlesen für Kinder gedacht. Die Bibliothek ist in diesem Sinne keine Publikumsbibliothek - die Ausleihe ist reglementiert -, sondern wendet sich an Wissenschaftler, die die Bücher unter bestimmten fachlichen Gesichtspunkten und Fragestellungen untersuchen. Die Märchen- und Sagenbücher müssen - wie alle anderen Bücher der Bibliothek auch - sorgfältig behandelt werden, denn vielfach sind sie nur hier nachgewiesen. Auch stehen sie bei Bedarf als Quellen für Nachdrucke und Neuauflagen zur Verfügung, so dass sie wieder eine große Verbreitung finden können.

Gustav Binder


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