31. März 2002

Schätze der Siebenbürgischen Bibliothek: Gesang- und Andachtsbücher

In der Siebenbürgischen Bibliothek Gundelsheim werden in Siebenbürgen gedruckte Gesang- und Andachtsbücher, die vielfach den Liederbüchern beigebunden waren, gesammelt. Die Gesangbücher waren neben der Bibel oft die einzigen Bücher einfacher bäuerlicher Haushalte.
Diese „Zalmebeäjer“ (Psalmenbücher) wurden in der Regel jahrzehntelang benutzt, und so weisen die vorhandenen Exemplare vielfach intensive Gebrauchsspuren auf. Bis in jüngste Zeit war es üblich, in Siebenbürgen mit dem eigenen Gesangbuch zum Kirchgang zu erscheinen. Es waren also Bücher, zu denen man einen persönlichen Bezug hatte. Auch außerhalb des Gottesdienstes spendeten sie dem Leser in schwierigen Zeiten Trost und Zuversicht.
Gesangbuchsammlungen haben eine große kulturgeschichtliche Bedeutung und können unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Eine umfassende Bibliographie für den deutschsprachigen Raum wird derzeit an der Universität Mainz unter Federführung der Professoren Hermann Kurzke und Stephan Füssel erarbeitet. Der Gesangbuchforschung widmet sich eine eigene Wissenschaftsdisziplin, die so genannte Hymnologie. Gesangbücher sind eine kultur- und mentalitätsgeschichtliche Quelle ersten Ranges. Im Wandel der Lieder spiegelt sich der Wandel der Zeiten. Auch wenn viele Kirchenlieder durch ihre jahrhundertelange Tradierung eine scheinbar überzeitliche Bedeutung erlangt haben, so sind sie doch immer eingebunden in den historischen Kontext: einerseits in den Kontext der Entstehung, also in die jeweilige theologie-, literatur- und musikgeschichtliche Situation, und andererseits in einen rezeptionsgeschichtlichen Kontext, in die jeweiligen Zusammenhänge ihrer praktischen Verwendung.
An der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz widmen sich seit mehreren Jahren Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche dem Phänomen Kirchenlied, das jeweils auf dem Hintergrund der eigenen fachspezifischen Fragestellungen, aber auch interdisziplinär, im Kontext der anderen Wissenschaften, untersucht wird. Derzeit sind die Fächer und Fachbereiche Katholische und Evangelische Theologie, Sozialwissenschaften, Deutsche Philologie, Buchwissenschaft und Musikwissenschaft an den Forschungen beteiligt. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der Mainzer Hymnologie bildet das Gesangbucharchiv, das mehr als 2 000 Gesangbücher seit dem 16. Jahrhundert bis in unsere Tage bereitstellt. Die Bestände der Siebenbürgischen Bibliothek Gundelsheim – rund 100 Gesangbücher – sind ein wichtiger Baustein dieses Vorhabens. Sie stammen überwiegend aus dem 19. und 20. Jahrhundert, einige auch aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ältere Bestände dürfte lediglich die landeskirchliche Bibliothek in Hermannstadt besitzen sowie Bibliotheken in Rumänien und Ungarn. Sollte jemand im Privatbesitz Gesangbücher des 16.-18. Jahrhundert haben, so ist die Siebenbürgische Bibliothek angesichts der großen dokumentarischen Bedeutung dieser Drucke an deren Erwerb sehr stark interessiert.
Der deutsche Kirchengesang beginnt gleichzeitig mit der Reformation und reformatorisches Gedankengut wurde auch durch neue Lieder popularisiert. Im Jahr der Herausgabe des Reformationsbüchleins von Johannes Honterus (1543) erschien in dessen Druckerei auch das erste evangelische Gesangbuch Siebenbürgens, eine Sammlung geistlicher Lieder von Andreas Moldner. Ein weiteres siebenbürgisches Gesangbuch erschien um 1555 und wurde von dem in Wittenberg promovierten Valentin Wagner, Nachfolger des Honterus im Stadtpfarramt und als Drucker, herausgegeben und trägt den Titel Geistliche Lieder und Psalmen durch D.M.L. und andere gelehrte Leuth gemacht. Die Abkürzung D.M.L. steht für Dr. Martin Luther, der bis heute ein bedeutender Liederdichter geblieben ist. Die Siebenbürger Sachsen identifizieren sich mit seinem Lied „Ein feste Burg“ bis heute nahezu vollständig. Vielfach soll Luther seinen Texten bekannte Melodien mit säkularen Texten unterlegt haben, ähnlich wie heute die Fußballfans bei ihren Schlachtgesängen mit populären Weisen verfahren.
Durch den regen kulturellen Austausch der Siebenbürger Sachsen mit dem binnendeutschen Raum – die evangelischen Theologen studierten fast ausnahmslos in den deutschen Ländern – stammt ihr kirchliches Liedgut zum Großteil auch aus diesem Bereich. Dr. Christian Weiss hat siebenbürgische Gesangbücher auf Berliner, Wiener und Göttinger Vorbilder untersucht. Jedenfalls wäre es eine Aufgabe der Forschung, Schöpfungen von Melodien und Texten siebenbürgischer Verfasser herauszufinden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Siebenbürgen nur regionale Gesangbücher, in Kronstadt und Bistritz wurden z.T. andere Lieder gesungen als in Hermannstadt. Nach dem ersten Hermannstädter Gesangbuch von 1616/17 erschien des zweite in drei Teilen zwischen 1697 und 1710 und stand unter dem Einfluss des Pietismus, der seit dem 17. Jahrhundert die dominierende theologische Strömung war. 1766 erschien ein weiteres Hermannstädter Gesangbuch mit 688 Liedern. Seit etwa 1790 gab es Bestrebungen, das „Christliche Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch der Evangelischen Gemeinden in Siebenbürgen“, ebenfalls ein Hermannstädter Gesangbuch, in ganz Siebenbürgen zu etablieren. Das war auch ein Anliegen des aufgeklärten Gubernators im damaligen Siebenbürgen, Samuel von Brukenthal. Das vom Rationalismus geprägte Liederbuch räumte gründlich mit dem Pietismus, aber auch mit der gesamten Tradition der Reformationszeit auf. Nur „theologisch einwandfreie“ Lieder wurden aufgenommen. Nur acht Lutherlieder waren in diesem Gesangbuch vertreten. Das Vorgängerbuch hatte noch 30! Viele Lieder wurden zudem umgedichtet oder entstellt. So weist Pfarrer Christian Weiss in einem Aufsatz nach, dass im Hermannstädter Gesangbuch 1792 aus einem neunstrophigen Text von Paul Gerhardt lediglich „ein halber Satz und vier Zeilen“ übrig geblieben waren. Die Entstellungen wurden freilich bis heute wieder rückgängig gemacht, zumal Paul Gerhardts Lieder noch immer sehr populär sind und als schön empfundenen werden. Kein Mensch käme heute auf die Idee, sie aus den Gesangbüchern zu verbannen. Aus Sicht des Forschers ist es freilich interessant zu beleuchten, welche Lieder von den Herausgebern ausgewählt, von wem die Texte verändert wurden und welche Theologie hinter den Liedern steht.
1898, rund hundert Jahre nach den ersten Bemühungen ein einheitliches Gesangbuch zu verwenden, erschien das erste für alle Gemeinden gültige Gesangbuch für die Evangelische Landeskirche A.B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns. Die rationalistische Theologie war aus der Mode gekommen, die reformatorische und pietistische Tradition wieder stärker vertreten. Das Gesangbuch blieb 80 Jahre lang im Gebrauch; bei insgesamt 39 Auflagen änderte sich nur ein Teil des Titels, der sich auf die veränderte Staatszugehörigkeit oder politische und ideologische Veränderungen bezog. 1978 gab die Landeskirche ein neues Gesangbuch heraus. Vielfach blieben aber auch die alten Bücher im Gebrauch. Dass Gottesdienstbesucher konservativ und wenig aufgeschlossen für neue Lieder und Melodien sind, zeigt sich immer wieder bei der Einführung neuer Gesangbücher.
Die meisten Gesangbücher für den Allgemeingebrauch enthielten lediglich die Liedtexte mit der Angabe einer Melodie oder eigenen Melodie, und daher gab es weniger Melodien als Texte. Wann sich das sehr getragene Singen der Melodien in Siebenbürgen eingebürgert hat, ob es spezifisch siebenbürgisch ist oder sich nur lange - bis heute - erhalten hat, ist anhand der Gesangbücher nicht zu klären. Möglicherweise hat es mit der geringen Fingerfertigkeit der Organisten zu tun, die überwiegend dem einfachen Volke entstammten - Berufsorganisten gab es nur in den Städten. Dass dem Kirchengesang aber auch im kleinsten Dorf eine wichtige Rolle zukam, beweist die bemerkenswerte siebenbürgische Orgellandschaft, über die Hermann Binder erst kürzlich eine Monographie veröffentlicht hat.

Gustav Binder


(Siebenbürgische Zeitung, Folge 5 vom 31. März 2002)

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