23. April 2002

Europa neu gestalten - mit oder ohne Minderheiten?

Eine internationale Tagung zum Thema "Die Europäische Union und ihre östlichen Nachbarn - Kooperation und Integration für die Zukunft Europas" fand kürzlich in Tutzing statt. Das Rundtischgespräch zum „europäischen Babel“ wurde vom Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet.
Eine Lehrerfortbildungsveranstaltung zum Thema "Die Europäische Union und ihre östlichen Nachbarn - Kooperation und Integration für die Zukunft Europas" wurde vom Haus des Deutschen Ostens München initiiert und in Kooperation mit der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen, der Akademie für politische Bildung in Tutzing und dem Bayerischen Rundfunk (BR) vom 11. bis 15. März in Tutzing veranstaltet. In sie eingebunden war auch ein Symposium mit Bestandsaufnahme und Rundtischgespräch, an dem zwölf Vertreter ethnischer Minderheiten aus Mittelosteuropa teilnahmen.
Das vom Direktor der Akademie, Prof. Heinrich Oberreuter, und Henryk Jarczyk für den BR moderierte ganztägige Symposium wurde vom BR vollständig aufgezeichnet. In kurzen Einführungsstatements stellten zwölf Minderheitenvertreter Daten und Fakten ihrer elf Volksgruppen vor: Sorben in Deutschland, Deutsche in Italien, Slowenen in Österreich, Ukrainer in Polen, Deutsche in Polen, Deutsche in der Slowakei, Ungarn in der Slowakei, Slowaken in der Republik Tschechien, Deutsche in der Republik Tschechien, Zigeuner (Roma) in Ungarn, Deutsche in Ungarn – Minderheiten aus Rumänien waren leider nicht vertreten. Sie diskutierten über die Bedingungen der Aufnahme ihrer Heimatstaaten in die europäische Gemeinschaft und die damit verbundenen Schwierigkeiten für ihre Volksgruppe, aber auch über die Definition des Begriffs "ethnische Minderheit oder Volksgruppe" sowie die Frage der Identität der Minderheitenangehörigen. Den größten Teil der zahlreichen Zuhörerschaft und der Mitdiskutanten stellten die Teilnehmer der Lehrerfortbildungsveranstaltung - bayerische Lehrer aller Schularten sowie vier Deutschlehrer aus Ungarn.
Die Leitung des Lehrgangs lag in den Händen von Dr. Jürgen Weber, der in der Akademie für politische Bildung Tutzing für die Bereiche Politikwissenschaft und Zeitgeschichte zuständig ist, und Siegfried Münchenbach, der als Dozent der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen die Fächer Geschichte und Sozialkunde betreut. Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch zwei grundlegende Vorträge: "Demokratisierung und Entwicklung der politischen Kultur im östlichen Mitteleuropa - Perspektiven für die Integration Europas" von Prof. Dr. Gerd Meyer vom Institut für Politikwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und "Minderheiten im östlichen Mitteleuropa" vom neuen Direktor des Hauses des Deutschen Ostens in München, Dr. Ortfried Kotzian, der auch am Rundtischgespräch teilnahm.
Während Meyer sich in seinen Ausführungen auf die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn beschränkte, ging Kotzian in seiner problemorientierten Einführung auf alle Transformationsländer, und zwar auf ethnische Minderheiten, die den Kriterien des Entwurfs eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 1. Februar 1993 entsprechen. Kotzian beleuchtete objektive und subjektive Kriterien für die Anerkennung einer Gruppe als ethnische Minderheit und zeigte wie sehr diese sich auch strukturell unterscheiden: Eigen- und Außengruppen (Letztere sind Teil von Staatsnationen, die in einem anderen Staat als Minderheit leben), die wiederum Grenzlandminderheiten, Sprachinselminderheiten oder Streuminderheiten sein können. Danach verdeutlichte er, wie sehr die Minderheitenproblematik ein elementares gesellschaftliches und politisches Problem in den EU-Beitrittsländern darstellt - unter anderem wurde die Zunahme von Minderheiten von West nach Ost anhand von aussagekräftigem Kartenmaterial veranschaulicht. (Island ist das einzige europäische Land ohne ethnische Minderheiten. Berücksichtige man auch Russland und die Türkei gehören aber laut Aussage von Professor Christoph Pan, Autor des Handbuches "Die Volksgruppen in Europa" und Tagungsteilnehmer, mehr als 100 Millionen Menschen einer der über 300 ethnischen Minderheiten an.) Schließlich stellte der Referent die historische Entwicklung in Bezug auf die Minderheiten vor.
Dr. Kotzian verglich die Situation zu Beginn und zum Ende des 20. Jahrhunderts miteinander und stellte fest, dass die drei "ökumenischen Reiche" Zarentum Russland, Donaumonarchie und Osmanisches Reich in der Pariser Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg abgelöst wurden durch Nationalstaaten, welche oftmals auf der "Fiktion" einer Staatsnation aufgebaut waren. Da außerdem in diesen Mischsiedlungsgebieten klare Staatsgrenzen, die sich an ethnischen Grenzen orientieren, nicht zu ziehen waren, entstanden neue Minderheiten und neue Gegensätze zwischen "Sieger“- und "Verlierer"-Völkern, die auch mit Minderheitenschutzverträgen nicht befriedet werden konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg büßten außerdem die drei "symbiotischen ethnischen Gruppen" - Deutsche, Juden und Zigeuner – ihre Brückenfunktion zu und zwischen den Völkern Ostmitteleuropas ein, und es entstanden auch damals neue Minderheiten, die ebenso wie die alten unter den sozialistischen Regimen zu leiden hatten und ihre ethnische Identität nur zum Teil bewahren konnten.
Im Rahmen des weiteren Lehrgangsprogramms informierte Jochen Kubosch von der Vertretung der Europäischen Kommission in München über die Mechanismen des EU-Beitritts. Die erworbenen Informationen setzten die Teilnehmer in einem eintägigen Planspiel unter der Leitung von Andreas Schumann von der Europäischen Akademie Bayern mit dem Titel "Europa neu gestalten - Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung" um.
Ein Nachmittag war dem Besuch kultureller Einrichtungen in München gewidmet. Im Polnischen Zentrum wurde die Lehrergruppe von Leiterin Dorota Krzywicka empfangen, und dort wurde auch mit Konsul Wolski zum Thema "Welche Bilder haben wir voneinander?" diskutiert. Im selben Haus untergebracht ist das Tschechische Zentrum, das der Institutsleiter Jan Sicha vorstellte und in erfrischend humorvoller Art gegenseitige Vorbehalte zwischen Deutschen und Tschechen aufzeigte. Abschließend besuchte man das Haus des Deutschen Ostens, wo nach der Führung des Stellvertretenden Direktors Udo W. Acker durch die Ausstellung „Holzkirchen in den Karpaten“ siebenbürgische Bläser die Lehrgangsteilnehmer nach Tutzing verabschiedeten. Der Reichtum mittelosteuropäischer Völkervielfalt war somit auch in den vorgestellten Einrichtungen in der bayerischen Landeshauptstadt München deutlich geworden.
Im zusammenfassenden Rückblick auf die Studienwoche stellten die beteiligten Lehrkräfte vor allem ihre eigene Sensibilisierung für Probleme der Minderheiten in den europäischen Ländern in den Mittelpunkt ihres Erkenntnisgewinns. Eine Übertragung der gewonnenen Informationen und Methoden in den konkreten Unterrichtsalltag hielten fast alle Lehrkräfte nicht nur für möglich, sondern für notwendig. Die Vertreter der Minderheiten waren für den Informationsaustausch mit Kollegen aus den Nachbarländern und vor allem für die Erfahrungen, die mit Minderheitenproblemen in den EU-Staaten gesammelt wurden, dankbar und auch wegen dieser positiven Rückkoppelung will sich das Haus des Deutschen Ostens weiterhin vergleichenden Studien mit dem "europäischen Babel" (Prof. Rudolf Grulich) widmen.

Dr. Ortfried Kotzian

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