1. Mai 2002

Auf Schusters Rappen durch die deutschen Lande

Siebenbürgisches Ehepaar wanderte auf dem „Europäischen Fernwanderweg E1“ über 1800 Kilometer von Flensburg zum Bodensee.
In ihrem nicht zu bremsenden Unternehmungsgeist hatte Erika etwas Neues entdeckt: „Europäischer Fernwanderweg E1“, ein Buch, das uns eine Idee für eine Wanderung durch Deutschland gab, die wir unbedingt durchführen wollten. Die Marschroute war genau beschrieben und in 75 Tagesetappen, die im Schnitt 20-30 km maßen, gegliedert. Meine anfängliche Skepsis schlug bald in Begeisterung um, und kurz darauf stand es fest: Diese Wanderung wollten wir, denen alljährliche Streifzüge im Gebirge vertraut waren, als eine völlig neue Erfahrung unbedingt durchziehen.
 Ehepaar Binder auf den Ketzersteinen bei Liebenscheid (südlich von Siegen), einer 30 Millionen Jahre alten Basaltblockgruppe
Ehepaar Binder auf den Ketzersteinen bei Liebenscheid (südlich von Siegen), einer 30 Millionen Jahre alten Basaltblockgruppe

Da wir berufstätig waren, mussten wir in den Ferien wandern. Wir packten also die Rucksäcke mit dem Nötigsten: etwas Wechselwäsche, Wegzehrung, eine kleine Apotheke, Wanderbuch und Kompass, und fuhren mit dem Zug nach Flensburg. Von da brachte uns ein Bus an die Grenze Dänemarks, nach Kupfermühle. Der Fernwanderweg E1 beginnt am Schlagbaum. Die Markierung, ein weißes Andreaskreuz auf schwarzem Feld, das uns über viele hundert Kilometer leiten sollte, fanden wir auf einer Verkehrstafel. Ein Blick, und wir marschierten los.
Im kurzen Überblick sieht das, was vor uns lag, etwa so aus: Von Kupfermühle über Flensburg und Schleswig nach Eckernvörde an der Kieler Bucht, dann südwärts über Kiel, Plön und Eutin nach Neustadt und Lübeck. Von da am Ratzeburger See vorbei nach Mölln, westlich nach Hamburg, südwärts nach Soltau in der Lüneburger Heide, durch Celle und am Steinhuder Meer vorbei nach Hameln. Von hier durch das Weserbergland über Lemgo nach Detmold im Teutoburger Wald. Südwärts in das Sauerland, über Bad Berleburg nach Siegen, durch den Westerwald nach Nassau, an der Lahn entlang und über Idstein nach Frankfurt am Main. Von hier südwärts an Darmstadt vorbei, durch den Odenwald, an Mannheim und Heidelberg vorbei nach Pforzheim. Hier beginnt der Schwarzwald-Westweg, auf dem das weiße Andreaskreuz durch eine rote Raute auf weißem Grund abgelöst wird. Südwärts, am Titisee vorbei, auf den Feldberg (Abstecher), dann wendet sich der Weg östlich über Engen und Singen zum Wanderziel Konstanz am Bodensee.
Der Wanderweg ist so angelegt, dass der Wanderer mit jedem Schritt die Naturschönheiten Deutschlands hautnah erleben kann. Es kam selten vor, dass wir kurze Strecken entlang von Verkehrsstraßen gehen oder solche überqueren mussten. Wir übernachteten hauptsächlich bei Privat („Zimmer frei“) oder in Gasthäusern und Pensionen. Voranmeldungen waren nur in den von Touristen häufig besuchten Gegenden nötig. Die Haltung der Gastgeber war sehr unterschiedlich: Die meisten waren an unserer Fernwanderung sehr interessiert, und einige wussten bereits davon und gaben uns zusätzlich ein paar Tomaten oder gekochte Eier auf den Weg mit. Eine einzige Wirtin hatte uns von Anfang an mit schiefen Blicken bedacht, wahrscheinlich wegen unseres leicht strapazierten Outfits.
Auf unserem langen Weg südwärts waren wir nicht die Einzigen. Wir hatten im Laufe der Wochen gelernt Fernwanderer von „Eintagsfliegen“ zu unterscheiden. Wenn Erstere uns einholten oder entgegenkamen, wechselten wir ein paar Worte über den Weg, die Entfernungen, das Wetter und die Gastleute, und trabten weiter. Wir begegneten vielen jungen Leuten, etwas Mittelalter und sogar einem achtzigjährigen Ehepaar! Ein jüngeres Paar ging den „E1“ zum zweiten Mal, in entgegengesetzter Richtung, so begeistert waren sie davon.
Wir haben Deutschland in sieben Etappen durchwandert und dabei mehr als 1 800 km zurückgelegt. Für uns war es mit Abstand die schönste und abwechslungsreichste Wanderung. Wunderbare, gepflegte Landschaften rollten im ständigen Wechsel wie ein wahrer Heimatfilm vor unseren Augen vorbei, die würzige Luft der Wälder stärkte unsere Lungen, und wenn die Vögel bei aufgehender Sonne ihre Lebensfreude in den Morgen jubelten, fühlten auch wir uns eins mit dieser herrlichen Natur. Davon beschwingt, verfielen wir oft in einen wahren Gehrausch und gingen im Sog der Ferne kilometerlang schweigend nebeneinander her.
Oft wurden wir gefragt, warum wir, anstatt uns im Urlaub zu erholen, solche Strapazen auf uns nehmen? Für uns bedeutet „Erholung“ nicht Faulenzen und Nichtstun. Physische Passivität ist den körperlichen Funktionen abträglich und schadet dem Organismus mehr, als dass sie ihn „erholt“. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir immer eine aktive Urlaubsgestaltung angestrebt. Im Falle der Fernwanderung kam noch hinzu, dass wir etwas Originelles tun wollten, einmal weg von den üblichen Klischeevorstellungen und Standardurlauben. Wir haben viele Städte und reizende Ortschaften, Sehenswürdigkeiten und nette Menschen kennengelernt, täglich neue Landschaften gesehen, und es war nie eintönig! Und vielleicht dient unsere Deutschlandwanderung sogar manch einem ratlosen Urlaubswilligen als Anregung für eine Freizeitgestaltung der besonderen Art, die ihn mit Sicherheit nur bereichern kann.

Kurt H. Binder


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 7 vom 30. April 2002, Seite 16)

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