12. November 2014

Interview mit Annemarie Schiel zum 90. Geburtstag

Die Biografie von Annemarie Schiel ist genauso spannend wie die zahlreichen Vorträge über ihre Reisen. Ihr 90. Geburtstag ist daher ein willkommener Anlass für ein Gespräch mit dieser außergewöhnlichen Frau. Geboren am 29. September 1924 in Bușteni, entdeckte die Unternehmertochter schon als Kind ihre Leidenschaft für das Fotografieren und Bergsteigen. Von ihren Reisen brachte sie über 26000 Dias mit. Ihre Begeisterung für das Bergsteigen führte sie auf unzählige Berge, die höchsten davon sind über 5000 m hoch. Sie bestieg den Mont Blanc, durchstreifte Ostafrika, Mexiko und die Antarktis und kehrte regelmäßig zurück nach Siebenbürgen. Die passionierte Alpinistin ist Gründungs- und Ehrenmitglied der Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins. Bis heute hält sich Frau Schiel mit täglichen Spaziergängen oder kleinen Wanderungen durch ihre Wahlheimat Herrsching am Ammersee fit. Sarah Hummler sprach mit der 90-Jährigen über die verschlungenen Pfade von Glück, Schicksal und Zufall.
Wie kam es dazu, dass Sie im August 1944 von Ihrer Familie getrennt wurden?
Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, sondern im Banater Bergland. Ich habe über Umwege erfahren, dass die Familie weg ist. Bei meiner Arbeitsstelle konnte ich nicht bleiben und ich hatte kein Geld mehr, um die Miete zu bezahlen. Das letzte Geld habe ich in eine Crèmeschnitte investiert. Es gab so viele Zufälle in dieser Zeit. Im Oktober lernte ich eine Siebenbürgerin kennen, die als Organistin arbeitete, und begleitete sie bei einem Gottesdienst auf meiner Blockflöte. Ein paar Wochen später kam ein Siebenbürger, der von Verwandten geschickt wurde, um mich abzuholen. Eine Cousine meiner Mutter wusste, dass ich in Reschitza bin, und hat den evangelischen Pfarrer dort angerufen. Da ich nur kurze Zeit davor in der Kirche gespielt hatte, kannte er mich. Die Cousine verständigte die Familie und so bin ich durch einen großen Zufall nach Kronstadt gekommen.

Wie ging es für Sie weiter?
Dort blieb ich in etwa bis Dezember 1944. Rumänische und russische Soldaten sowie Zivilisten gingen von Haus zu Haus. Die Familie ­beschloss, dass ich und meine Großcousine verschwinden müssen. Wir hatten eine große Papierfabrik in Bușteni und ein Forsthaus. Dort sind wir hin. Eines Tages sind wir Skifahren gegangen. Als wir an einen Steg kamen, ging ich instinktiv darüber, obwohl ich eigentlich wusste, dass wir links bleiben müssen und nicht rechts. Nachdem ich bemerkt hatte, falsch gefahren zu sein, beschlossen wir, nicht umzukehren. Als wir wieder am Forsthaus ankamen, gab es schon eine große Aufregung. Genau in dieser Zeit, in der ich mich verirrt hatte, hatte eine Militärpatrouille nach Versteckten gesucht. Bis heute frage ich mich, was mich bewogen hat, den falschen Weg zu nehmen, wider besseres Wissen. Dadurch sind wir gerettet worden.

Hat in Ihrem Leben der Zufall bzw. das Schicksal oft eine Rolle gespielt?
Ja, schon. Eine andere Geschichte: Einige Reparaturen mussten an dem Forsthaus erledigt werden. Die Elektriker, die kamen, erzählten, dass in Bușteni das Gerücht umgehen würde, dass eine Kommission kommen würde, um mich auszuheben. Sie waren schon einmal unterwegs zu uns, sind aber in einen Schneesturm gekommen. Der Cousin meines Vaters ist mit einem russischen Militärauto gekommen und hat mich per Ski abgeholt. Gerade als wir an der Waldgrenze waren, kam ein Gendarm. Ich ging in den Wald zurück, versteckte mich und wartete eine Stunde, bis er ging. In Bukarest haben mich dann Bekannte der Familie aufgenommen. Dort war ich bis Mai 1945, als Bekannte aus Kronstadt mich aufnahmen und versteckten. Eines Nachts klingelte es dort an der Tür, man suchte mich. Schnell schlüpfte ich in meine Sachen und entkam in den Garten. Solche Erlebnisse hat es in meinem Leben immer wieder gegeben.

Annemarie Schiel ...
Annemarie Schiel
Was haben Sie nach den drei Jahren des Versteckens gemacht, nachdem Sie wieder „offiziell“ in Rumänien leben konnten?
Ich habe gearbeitet und angefangen, wieder Sport zu treiben. Ab 1947 war ich in der Leichtathletik-Nationalmannschaft und habe als Speerwerferin an Wettkämpfen teilgenommen, bis zu meiner Ausreise 1950. Ich trat bei Kreis- und Landesmeisterschaften an. International war ich nur zwei Mal dabei, bei der Balkaniade 1947 in Bukarest und in Budapest 1948.

Haben Sie, als Sie nach Deutschland gekommen sind, gleich wieder eine Anstellung als Sportlehrerin gefunden?
Das wollte ich, aber 1950 waren viele Schulen noch nicht wieder aufgebaut. So musste ich eben das tun, was ich nie wollte, ins Büro gehen, und das bis zu meiner Rente. Als meine Mutter krank wurde, ging ich sie nach der Arbeit besuchen. Frau Nicolaus, die Ehefrau des Besitzers der München-Dachauer Papierfabriken, war gerade bei ihr und ich kam ins Gespräch mit ihr. Ein paar Tage später bekam ich einen Anruf aus der Papierfabrik. Frau Nicolaus hatte es gemeinsam mit ihrem Mann arrangiert, dass ich dort in der Buchhaltung arbeiten konnte, bis ein Platz im Lohnbüro frei geworden ist. Später wurde ich dann sogar Leiterin des Lohnbüros.

Sie sind in siebenbürgischen Kreisen vor allem durch Ihre Vortragstätigkeit bekannt. Woher kam die Idee, Ihre Reiseberichte als Vorträge anzubieten?
Die Idee kam von meiner Mutter. Sie war 17 Jahre Frauenreferentin in der landsmannschaftlichen Kreisgruppe München. Sie wollte ein Programm anbieten und kannte meine Dias. Eigentlich nenne ich das auch nicht Vorträge, sondern Erlebnisberichte. Ein Vortrag ist ein ausgearbeiteter Text und das habe ich nicht gemacht.

Woher haben Sie Ihr umfangreiches Wissen zu den jeweiligen Ländern?
Vor jeder Reise habe ich nur den kleinen Polyglott, einen kleinen Kurzführer, gelesen, damit ich wusste, was auf mich zukommt. Erst im Anschluss habe ich alles, was ich konnte, gelesen. Denn was man vorher liest, ist nur Theorie. Nach einer Reise hat man so viel erlebt, dass einem das besser im Gedächtnis bleibt.

Gemeinsam mit Ortrun Scola veröffentlichten Sie 1990 das Buch „Siebenbürgisch-sächsische Frauengestalten“. Was war der Grund für dieses Buch?
Die Idee stammt von Frau Scola. Wir sind gemeinsam nach Gundelsheim gefahren und ­haben dort aus der Kartei entsprechend die Frauen ausgewählt. Auch aus unserem Bekanntenkreis haben wir noch ein paar dazu genommen. Etwa ein halbes Jahr hat die Arbeit an dem Buch insgesamt gedauert. Das Buch hat die Stellung der Mutter hervorgehoben. Neben dem Haushalt und dem Großziehen der Kinder haben die Frauen auch etwas für die Allgemeinheit getan. Wir haben die Künstlerinnen bewusst ausgelassen, da wir der Ansicht waren, dass das eine Fachkraft machen sollte. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen. Aber vielleicht holt das jemand in der Zukunft noch nach.

Frau Schiel, vielen Dank für das anregende Gespräch.

Schlagwörter: Interview, Frauenreferentin, Geburtstag, Zeitzeugin

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