6. August 2021

Kraft und Sensibilität: Zum Tod der fast vergessenen Malerin Marianne Simtion-Ambrosi

Die Malerin und Grafikerin Marianne Simtion-Ambrosi starb am 24. Juni 2021, drei Tage vor Vollendung ihres 91. Lebensjahres, in Berlin, Anlass, uns ihr Leben und Schaffen in Erinnerung zu rufen.
Marianne Simtion-Ambrosi in ihrem Bukarester ...
Marianne Simtion-Ambrosi in ihrem Bukarester Atelier, aufgenommen von Edmund Höfer(?). Links ihr Aquarell „Konzentrisch“ von 1973. Foto: Samml. Bernd Ambrosi, München
Marianne, Tochter des Zahnarztes Friedrich Simtion und seiner Frau Margarete, geb. Wagner, wurde am 27. Juni 1930 in Hermannstadt geboren, der Stadt, in der sie auch aufgewachsen ist. Bildende Kunst, Musik und Glaube haben in der Erziehung der beiden Töchter der Familie Simtion, Marianne und Ingrid, eine wichtige Rolle gespielt.

Von 1949 bis 1955, zu einer Zeit als der dogmatische sozialistische Realismus die staatlich verordnete Kunstrichtung war, besuchte Marianne das Bukarester Institut für bildende Künste „Nicolae Grigorescu“, wo sie dank ihrer Professoren, die in der Zwischenkriegszeit in Westeuropa, insbesondere in Frankreich, studiert hatten, eine solide fachliche Ausbildung erhielt. Ihr Mentor war der Maler Catul Bogdan (1897-1978), ein Vertreter des Postimpressionismus, der seit 1951 als Professor am Bukarester Institut tätig war. Bereits ihre Diplomarbeit, das Porträt eines alten rumänischen Bauern aus dem Dorf Veștem bei Hermannstadt, erregte Aufsehen, wurde in mehreren Ausstellungen gezeigt und hängt heute in der dänischen Nationalgalerie.

Nach Beendigung des Studiums trat Marianne Simtion dem Verband der bildenden Künstler bei und kehrte in ihre Heimatstadt zurück, wo sie an den lokalen und regionalen Ausstellungen (in Kronstadt, Stalinstadt von 1950 bis 1960) der Filiale des Künstlerverbandes mit figurativen Porträts, Landschaften, Stillleben und Kompositionen teilnahm. Ihre Arbeiten waren der Kunstkritikerin Elisabeth Axmann (1926-2015) bereits in der Regionalausstellung von 1955 aufgefallen, die Marianne Simtion und Helmut von Arz (1930-2014) als vielversprechende Nachwuchskünstler vorstellte. Zu den gelungenen Werken jener Jahre gehören das Porträt ihres Großvaters Aurel Simtion sowie eine Komposition mit dem Titel „Die Geigerin“.

1957 heiratete sie den evangelischen Pfarrer Günther Ambrosi (1932-1991), an dessen Seite sie sich in Arbegen tatkräftig an der Gestaltung des Gemeindelebens beteiligte. Wegen ihrer Liebenswürdigkeit und herzlichen Teilnahme an den Freuden und Sorgen ihrer Mitmenschen war sie als Pfarrfrau sehr beliebt. In der Arbeger Zeit wurden auch ihre beiden Söhne Wolfgang (geb. 1958) und Bernd (geb. 1961) geboren. Trotz der zahlreichen Aufgaben, die das Leben als Mutter und Pfarrfrau mit sich brachte, vernachlässigte Marianne Simtion-Ambrosi ihre künstlerische Laufbahn nicht und nahm auch weiterhin an den Ausstellungen des Künstlerverbandes teil.

1965, nachdem die Familie acht Jahre in Arbegen verbracht hatte, wurde Günther Ambrosi zum Stadtpfarrer von Bukarest gewählt, ein Amt, das mit zahlreichen Herausforderungen, aber auch mit größeren Chancen für die bildende Künstlerin verbunden war. Marianne Simtion-Ambrosi unterstützte auch in der Hauptstadt die Arbeit ihres Mannes, indem sie die kulturellen Tätigkeiten in der Gemeinde mitgestaltete und sich sozial engagierte. Sie kümmerte sich insbesondere um Kranke, Benachteiligte und Bedürftige.
Bilder, die einen in ihrer Leuchtkraft anspringen ...
Bilder, die einen in ihrer Leuchtkraft anspringen (Hans Joachim Köhler): Marianne Simtion-Ambrosis „Frühlingssturm“. Aquarell (um 1980); gezeigt in der Gruppenausstellung „Wege siebenbürgischer Künstler“ in München 1988.
Als Künstlerin hatte sie Glück, da gerade 1965, als sie nach Bukarest übersiedelte, eine relative Öffnung des Eisernen Vorhangs in Rumänien einsetzte, die Zeitspanne der höchstmöglichen Liberalisierung, die das Land im Kommunismus erlebte. Die Kultur erblühte, in Bukarest wurden zahlreiche Ausstellungen namhafter ausländischer Künstler eröffnet (Henri Moore, 1966; Picasso, 1968; Paul Klee und eine zur zeitgenössischen amerikanischen Malerei, beide 1969; Wiener Phantastischer Realismus, 1971), während sich die heimischen Kunstschaffenden vom sozialistischen Realismus distanzierten und versuchten, Anschluss an die Avantgarde der Zwischenkriegszeit oder an die zeitgenössische (west)europäische und amerikanische Kunst zu finden. Nach der Bekanntmachung der Julithesen (6. Juli 1971) des Diktators Nicolae Ceaușescu, die den Beginn einer Kulturrevolution nach maoistischem Vorbild einleiteten, stand das kulturelle Leben erneut unter ideologischem Druck, was dazu führte, dass die bedeutendsten Künstler Rumänien nach und nach verließen.

Während einer Reise in die Bundesrepublik Deutschland lernte Marianne Simtion-Ambrosi den abstrakten Stuttgarter Maler Lothar Schall (1924-1996) kennen, der sie davon überzeugte, die gegenständliche Darstellungsweise zu verlassen und sich der Abstraktion zu widmen. Dieses war ein Wagnis, wenn man bedenkt, dass nur wenige Jahre zuvor Abstraktion noch als dekadent diffamiert und verboten war.

1967 trat die Künstlerin mit großformatigen abstrakten Aquarellen in der Bukarester Jahresausstellung vor die Öffentlichkeit, Werke, die sie als eine große Begabung auswiesen und großes Aufsehen erregten. Im gleichen Jahr eröffnete sie im Bukarester Dalles-Saal, dem berühmtesten Ausstellungssaal der Hauptstadt, ihre erste persönliche Ausstellung, die sowohl auf die Fachwelt als auch auf die Besucher eine besondere Anziehungskraft ausübte. Namhafte Kunstkritiker und -journalisten wie Titus Mocanu (1923-2004), Eugen Schileru (1916-1968) und Elisabeth Axmann (1926-2015) lobten ihre Neuorientierung und überbordende Kreativität und Inventivität und widmeten ihr deutende Beiträge, die im Ausstellungskatalog (Mocanu), in der Zeitschrift Contemporanul (Schileru) und in der Tageszeitung Neuer Weg (Axmann) veröffentlicht wurden. Desgleichen besprach der Schriftsteller Paul Schuster (1930-2004) den „Spaziergang ins Abstrakte“ in der Zeitschrift Neue Literatur. Diese erste Exposition machte Marianne Simtion-Ambrosi zu einer der bekanntesten Künstlerinnen der rumänischen Neoavantgarde und bald sollte sie jener Kategorie angehören, die der sozialistische Staat als Vorzeigeschild benutzte, um dem ­(kapitalistischen) Ausland zu beweisen, dass sich Kunst und Künstler absoluter Freiheit erfreuten. Dazu kam, dass sie als Deutsche auch für die gerechte Minderheitenpolitik des Staates stand und, als Pfarrfrau, für dessen Toleranz den religiösen Kulten gegenüber.

Ab 1970 wurden Werke Marianne Simtion-Ambrosis in mehreren Städten Westdeutschlands – Düsseldorf, Dortmund, Arnsberg, Bonn –, aber auch in Genf, Paris-Orly, Torino, Merignac, Minneapolis und in Japan gezeigt und lösten überall Begeisterung aus. Die Begegnung mit den großformatigen Aquarellen, mit ihrer glühenden Farbpalette und den großzügigen, wohlgestalteten Formen – letztere als Synthese des inneren Erlebens und der äußeren Eindrücke der Künstlerin – suggerierten Kritikern Vergleiche mit bekannten Namen wie Maurice Estève (1904-2001), den Expressionisten Emil Nolde (1867-1956) und Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976), Wilhelm Nay (1902-1968) sowie Mark Rothko (1903-1970) anzustellen. In Rumänien nahm man die Urteile ausländischer Fachleute voller Stolz an und lobte die universelle Dimension von Marianne Simtion-Ambrosis Oeuvre, so wie es die Kunsthistorikerin Viorica Andreescu 1976 in einer Studie über die Kunst des Aquarells getan hat. Im Allgemeinen wurde das Werk der verstorbenen Künstlerin dem Abstrakten Expressionismus zugeordnet, wobei jedoch auch auf dessen lyrische Werte hingewiesen wurde, auf den allmählichen Verzicht auf kompakt-kräftige Farbigkeit zugunsten einer Differenziertheit in Farbe, Linie und Bewegung.

Bedingt durch den zunehmenden ideologischen Druck, der nach den Julithesen von 1971 einsetzte, verließ Marianne Simtion-Ambrosi 1980 Rumänien und lebte fortan in Berlin. Nach der Aussiedlung stellte sie nur noch selten aus, zuletzt 2003 im Rumänischen Kulturinstitut „Titu Maiorescu“ in Berlin zusammen mit Helmut von Arz. Die Einführung hielt der Schriftsteller und Publizist Hans Bergel, der u.a. sagte: „Es gibt Aquarelle der Marianne Ambrosi-Simtion, deren Verlorenheit an die Farbe atemberaubend ist. Sie erscheinen mir wie Lichtoffenbarungen, deren chromatische Akkorde und Valeurs ebenso Kraft wie Sensibilität, offensives Zugreifen wie verletzlichen Gestaltungsdrang zeigen.“

Nach einer derart langen Abwesenheit aus dem öffentlichen Raum wäre es wünschenswert, eine Gedächtnisausstellung Marianne Simtion-Ambrosi zu veranstalten und einen Begleitkatalog herauszubringen, um die einst hoch geschätzte Künstlerin dem Vergessen zu entreißen.

Gudrun-Liane Ittu

Auch zeitgeschichtlich interessiert: Marianne ...
Auch zeitgeschichtlich interessiert: Marianne Simtion-Ambrosi mit dem Historiker Dr. Dr. Gerald Volkmer auf der bereits legendären „Securitate-Tagung“ in München 2009. Foto: Konrad Klein

Keine Zeit für Kunst

Einige Ergänzungen seien hier noch angefügt. Bereits im Maßstäbe setzenden Künstlerlexikon „Zeichen des Aufbruchs, Spuren des Abschieds“ (München 1994) wird von einer „Übersiedlung“ Marianne Simtion-Ambrosis gesprochen. Tatsächlich waren die Fakten eher tragisch („es war ihr nicht geschenkt, eine lebenslange Ehe zu führen“, wie Dekan Hermann Schuller in der Beilage „Kirche und Heimat“, SbZ vom 30. Juni 2010, schrieb) und mithin eine west-östliche Trennungsgeschichte, wie sie damals nicht eben selten waren. Was war geschehen? Die Künstlerin war nach der Ausstellung ihrer Bilder im November 1980 in der Galerie Schloss Remseck nicht mehr nach Rumänien zurückgekehrt. Ihr Mann sollte mit den Kindern nachkommen, zog aber nach einigen Monaten seine Ausreiseakten zurück. Er ließ sich scheiden (1981) und heiratete im Jahr darauf die Souffleuse Renate Müller, eine Schwester der Schauspielerin Rosemarie Müller. Mit Hilfe von Außenminister Genscher konnten die beiden Söhne nach Deutschland ausreisen.

Hier freilich musste sich Marianne Simtion-Ambrosi beruflich neu orientieren, weil sie von ihrer nonfigurativen Malerei als Unbekannte nicht leben konnte. „[Kunsthistoriker] Schmalenbach hob sie in Bukarest in den Himmel, hier war sie niemand mehr“, wie es ihr alter Freund und Berufskollege Helmut von Arz in einem Gespräch 2010 mit Unterzeichnetem formulierte. Deshalb besann sie sich ihrer stets mit Herzblut betriebenen Gemeindearbeit und ging zum Diakonischen Werk, wo sie bis zu ihrem Ruhestand 1990 als Einsatzleiterin in der ambulanten Altenpflege tätig war. Doch während andere sich zur Ruhe setzen, weitete sie ihr soziales Engagement danach sogar noch aus – nicht zuletzt bestärkt durch die damals aufgedeckten katastrophalen Zustände im siebenbürgischen „Kindergulag“ Cighid. Zeitweilig übernahm sie in der alten Heimat auch die Ausbildung von Fachkräften für die Altenpflege und rief ehrenamtlich vielfältige Initiativen ins Leben. Für Kunst blieb da keine Zeit, höchstens mal im Urlaub oder für eine gelegentliche Auftragsarbeit, wie sich ihr Sohn Bernd erinnert.

Zu bedauern ist auch, dass die exzellente Porträtistin nur wenige Bildnisse gemalt hat, z.B. den Schäßburger Stadtpfarrer Dr. Wilhelm Wagner (1955, Kirchengemeinde Schäßburg) und den Maler Hans Hermann (1956, Brukenthalmuseum). Unzutreffend ist die Behauptung, dass sie auch Bischof D. Dr. Albert Klein (vgl. Beilage „Kirche und Heimat“, SbZ v. 30.6.2000, S. 23) gemalt habe – den seinerzeit Marianne Simtion-Ambrosis Kollegin Sieglinde Bottesch vor ihrer Ausreise 1987 meisterhaft porträtiert hat.

Zuletzt noch eine Richtigstellung zu ihrer Studentenzeit, während der sie um 1954 dem nie um eine Anekdote verlegenen Geschichtenerzähler Hans Liebhardt zufolge zusammen mit Roswith Capesius und Juliana/Susi Fabritius(-Dancu) im selben Zimmer gewohnt habe („Deutsche in Bukarest“, ADZ Verlag Bukarest 2003, S. 123). Als ich Marianne Simtion-Ambrosi danach fragte, meinte sie nur lachend, dass das frei erfunden sei, sie habe als Studentin lediglich mit Edith Gross ihr Zimmer geteilt. Nun ist eben diese Dame, geboren am 4. Oktober 1929 in Bukarest und seit 1961 zweite Ehefrau des Schriftstellers Paul Schuster, die letzte noch lebende Zeitzeugin ihrer Generation geblieben. Ihren Lebensabend verbringt die Katholikin im Caritas Altenzentrum St. Heribert in Köln, jener Stadt, wo sie als freischaffende Malerin gewirkt hatte. Gross wird nicht die einzige sein, der Mariannes Klugheit, Mitmenschlichkeit und mädchenhafte Charme fehlen wird.

Konrad Klein

Schlagwörter: Kultuir, Nachruf, Künstlerin, Malerin, Hermannstadt, Bukarest

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