8. Mai 2017

Vergangenes in die Zukunft holen: Henriette Vásárhelyis zweiter Roman

„Ich packte meinen Koffer ...“. Die Autorin Henriette Vásárhelyi lässt ihr Buch „Seit ich fort bin“ mit einer verbalen Ouvertüre anheben, in der das Hauptthema aufleuchtet und Seitenthemen angeschlagen werden. Der Koffer als Vehikel, in dem Mirjam alles verstaut, was sie mit sich schleppt, um es auf der nun beginnenden Fahrt loszuwerden. Es sind vor allem Erinnerungen, schöne und schwere – Kindheit, beste Freundin, erster Freund, Übersiedlung nach Prag.
Der Anlass für eine Reise mit solchem Gepäck ist die Hochzeit des Bruders Karl mit der aus Rumänien stammenden Luminitza in der Heimatstadt Rostock. Orte und Wege weisen auf autobiographische Anklänge, von der Autorin geschickt mit fiktiven Klängen verwirbelt. Wie Mirjam den Koffer packt, gepackt wird von Erinnerungen, so wird der Leser eingesogen von einer in die nächste Situation. Kurze Szenen um die Hochzeit, Rückblenden in Momente von Jugendreisen zu dritt nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Es geht, wie Henriette Vásárhelyi in einem Interview antwortet, „um die Welt von gestern, die kulturelle Welt des Einzelnen, aus der jemand hervorgeht“, auch um die „Lebenswirklichkeit während der Umbrüche von der DDR zu Deutschland ...“. Stichworte lassen erkennen, wie sich der Fokus in verschiedenen Lagen auf die Protagonisten richtet: Hansenstraße, Barlachstadt, „Schießerei“ (Stasi), Neuer Markt, Steintor, Schwanenteich – autobiographische Splitter in Güstrow/Rostock, Mecklenburg. Budapest, Schwarzes Meer, Lieder der Roma, Sibiu, Zibinsmarkt – Reisen, Kontakte nach Osteuropa. Ähnliches findet sich für den abrupten Gesellschaftswandel – Friedensgebet, Denunziant, das Volk – ein Volk. Die Lebenswirklichkeiten, die Umbrüche vor, während und nach der Wende werden klarsichtig aus der Perspektive der nachrückenden Generation beschrieben, insbesondere in den Folgen für die südosteuropäischen Ethnien. Für die jüngste Entwicklung zu nationalen Egoismen, Fremdenhass und europäischer Festungsmentalität findet die Autorin prophetische Worte. Mirjam: „Nicht die Angst vor den Menschen, die da zu Fuß in die EU unterwegs waren, nahm in mir täglich zu, sondern jene vor denen, mit denen wir – abgeriegelt von der Wirklichkeit – allein gelassen würden, wenn die Festung erst vollständig geschlossen wäre.“

Regionales, Transnationales, Persönliches, verlorene Menschen, abgestreifte Blütenträume; es geschieht – alles zieht sich durch von der Vergangenheit bis in die Zukunft, denn Vergangenes ist nicht vergangen, ist nicht einmal tot. Poetisch und politisch zeichnet der Roman reale Menschen in irrealen Momenten, weist auf Unmögliches hin, um nach Möglichem zu suchen, taucht in Vergangenes ein, um Wege zu finden, auf denen es weitergehen kann.

Henriette Vásárhelyi, Trägerin mehrerer Schweizer Literaturpreise für ihren Erstling „immeer“, bekam bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse erhöhte Aufmerksamkeit bis hin zu einem NDR-Interview, da die Mecklenburg-Bezüge im zweiten Roman noch zahlreicher waren als im ersten. Die Autorin wird ihr Buch am 9. Mai, 20.00 Uhr, in der Rostocker „Anderen Buchhandlung“, Wismarsche Straße 6/7, und am 14. Juli, 19.00 Uhr, in der Güstrower Buchhandlung „Inselliebe“, Domstraße 2, vorstellen.

Eberhard Erdmann


Henriette Vásárhelyi, „Seit ich fort bin“, Roman, Dörlemann Verlag, Zürich, 2017, 240 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-03820-041-3.
Seit ich fort bin
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Schlagwörter: Rezension, Roman, Osteuropa

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