28. März 2024

Roman-Allegro der Extraklasse: Dagmar Dusils Roman „Das Geheimnis der stummen Klänge“

Dieser Roman ist wie ein Erzählkino der Extraklasse – ein potenzielles Drehbuch für aufregende Genussstunden, getragen von einer eindrucksvollen Mischung aus musikalischen Rauschzuständen, innerfamiliären Notstandsszenarien, eiskalt-kochenden Emotionen, dramatischer Beziehungsunfähigkeit, tragischen Konfrontationen mit dem Staatsterror und erlösender Selbstbefreiung.
Während der diesjährigen Berlinale wurde im Schweizer Filmbeitrag „Les Paradis de Diane“ eine Protagonistin ins Bild gerückt, die unmittelbar nach der Geburt ihr Neugeborenes verlässt und es radikal ablehnt. Der jahrtausendealte Topos der Mutterliebe wird in diesem Film ähnlich wie in – überraschend unsiebenbürgisch – Dagmar Dusils Roman ins Gegenteil verkehrt: Abneigung und Ablehnung schlagen dem Neugeborenen entgegen. Während aber die Film-Mutter Diane kopflos und destabilisiert in einen bemühten Egotrip flieht und ein retorten-großstädtisches Seelengeschwurbel seinen Lauf nimmt, schaukelt sich in Dagmar Dusils Roman eine mit beachtlichen Spannungsvalenzen besetzte Dramödie auf – ganz wie in einem klassischen Erzählkino.

Verglichen mit Dianes vermeintlichem Paradies ist „Das Geheimnis der stummen Klänge“ geradezu erdenschwer und zupackend. Hier wird gelitten, aber es wird auch agiert, hier wird nicht nur reflektiert, es wird auch gehandelt. Hier werden Verstrickung und Schicksal nicht im selbstbezogenen schlaffen Seelenquatsch ertränkt, sondern sie werden in eine herkömmliche, uns fast schon fremd gewordene, packende Handlung eingebunden. Was sich in einem erregend-dramatischen Erzählstrang niederschlägt, der zwar durch Rückblenden, Aussparungen und Zeitebenenwechsel in seiner Linearität nicht sofort erkennbar ist, aber aufs Ganze gesehen klassisch daherkommt: Exposition, Schürzung des Knotens, Steigerung der Handlung, Katastrophe und Lösung. Nicht zu vergessen die finale Katharsis, angeregt vom erlösenden „Epilog“! Das ist mir als Leseerfahrung schon lange nicht mehr untergekommen. Eine zweitausend Jahre alte Rezeptur, aber unverändert ein Erfolgsrezept!

Die Starpianistin Lavinia ist die „Frucht“ der Vergewaltigung eines bildhübschen Romamädchens. Durch wen, soll aus Gründen der Spannungsdramaturgie nicht verraten werden, aber es ist für Kenner ein erzählerischer Leckerbissen. Sie selbst wird bei einem emotionsarmen, aber gierigen One-Night-Stand ungewollt schwanger (bei uns Siebenbürgern heißt es griffiger: sie bleibt schwanger), bringt das Kind in einer perfekt funktionierenden Regiekulisse der Securitate – man staune! – zur Welt und gibt es ungesehen und angewidert zur Adoption frei.

Die Ingredienzien einer turbulenten Romanhandlung könnten nicht besser gewählt sein: Vergewaltigung, europaweit striktestes Abtreibungsverbot, zerstörerische Geheimdienstmachenschaften, Kindesablehnung und Adoption, euphorisierender Musikrausch, gnadenlose Ahndung des „Vaterlandsverrats“ bei Flucht in den freien Westen, Mord usw. Es sind prall gefüllte „Lebensakte“ in einem Personengeflecht, das von Dagmar Dusil gekonnt sequenziert in Szene gesetzt wird.

Die Autorin fängt in ihrem neuen Roman „Das Geheimnis der stummen Klänge“ die abgrundtiefe Verworfenheit südosteuropäischer Zeitumstände in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Sie zeichnet das Leben zweier Frauen nach, die sich leidenschaftlich dem virtuosen Klavierspiel verschrieben haben. Sie sind Mutter und Tochter, wissen aber fast bis zum Schluss der Erzählung nichts voneinander, weil sie durch die malignen gesellschaftlichen Verhältnisse frühzeitig getrennt werden. Beide müssen sie Opfer bringen und ungeahnte Hürden überwinden, damit sie ihren Traum vom Einswerden mit der Musik verwirklichen können. Sie leben teils in Siebenbürgen an der Peripherie Europas, teils in Deutschland.

Die zeittypischen tektonischen Verwerfungen in der Gesellschaft bestimmen die Schicksale Lavinias, der Mutter, und Claras, der Tochter, in einem Ausmaß, das heutige Leser schwerlich nachvollziehen können. Die Protagonistinnen sind von Lüge und Betrug, von Niedertracht und Ungerechtigkeit eingepfercht. Aber andererseits begegnen ihnen auch Freundschaft und Liebe, was sie davor bewahrt, ihre Hoffnungen und Träume aufzugeben. Eine Befreiung, gar eine Selbstbefreiung, aus schicksalhaft deformierenden Zwängen scheint zunächst schier unmöglich zu sein. Dennoch schafft jede von ihnen es, den eigenen Lebensweg einzuschlagen und zum festgefügten Ich zu finden.

Im furiosen Romanfinale treffen Tochter und Mutter, deren Lebenswege sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekreuzt haben, nach vielen Jahren und mannigfaltigen Peripetien in einem an Dramatik nicht zu überbietenden Showdown zum ersten und wohl auch zum letzten Mal aufeinander. Danach gehen alle Beteiligten auseinander. Jeder von ihnen um existentielle Erfahrungen reicher, jeder von ihnen von den Illusionen und Träumen des Lebens nachhaltig kuriert, jeder von ihnen für ein neues, weniger kompliziertes und teilweise moralisch weniger belastetes Dasein gewappnet.

Die Besonderheit an der Erzählweise Dagmar Dusils ist, dass sie über weite Strecken packend im szenischen Präsens und nicht wie üblich im etwas angestaubten Imperfekt erzählt. In manchmal ausufernden Aneinanderreihungen von Sätzen, die wie innere Monologe wirken, erschließt sie für den Leser ergiebige Psychogramme der Personen – mal erzählerisch beklemmend und eindringlich geschildert, mal poetisch verstörend und filmisch sequenziert, aber allemal subtil und detailtreu in der Linienführung. Oder um es in der Diktion des Hauptmotivs des Romans, des Klavierspiels, zu sagen, sowohl fröhlich und unbeschwert in Dur- als auch trübe und traurig in Moll-Akkorden.

Die Romankulisse ist überwiegend siebenbürgisch. Hermannstadt ist der Hauptort. Klausenburg, Katzendorf, Râmnicu Vâlcea sind Nebenschauplätze. In Bamberg wird gewohnt und gearbeitet, in Bella Venezia wird konzertiert und eine frühe Liebe spät nachgeholt – alles Schauplätze, wo Dagmar Dusil gewandt den jeweiligen Genius loci heraufbeschwört und für ihre Erzählung instrumentalisiert. Aber die Beschaffenheit des Erzählmaterials, die Erzählstruktur, der Wechsel der Zeitebenen, der Sprachduktus, das spannungsfördernde Erzählarrangement sind unsiebenbürgisch, sie sind weltläufig entgrenzt.

Dagmar Dusil hat mit ihrem Roman den Sprung aus dem siebenbürgischen Klein-Klein in die maßgebliche großeuropäische Dimension geschafft, und sie wird wahrscheinlich auch die Leser mitreißen!

Walter Fromm

Dagmar Dusil: „Das Geheimnis der stummen Klänge“. Roman. 220 Seiten. Pop Verlag Ludwigsburg 2024, 21,00 Euro, ISBN 978-3-86356-394-3, zu beziehen im Buchhandel oder unter www.pop-verlag-shop.com

Schlagwörter: Buchbesprechung, Dagmar Dusil, Roman

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