31. August 2021

Leben im Jahrhundert der Extreme: Die Liebharts

In unseren digital geprägten Zeiten mag es durchaus hilfreich oder notwendig sein, gelegentlich auch ein in herkömmlicher Weise auf Papier gedrucktes Buch zur Hand zu nehmen. Die zweibändige Neuerscheinung „Die Liebharts – Leben im Jahrhundert der Extreme“ ist in hohem Maße geeignet, Erinnerungen an Personen und Ereignisse des 20. Jahrhunderts wachzurufen und Hintergründe damaliger Vorkommnisse aus der persönlichen, detaillierten Kenntnis, aber eher objektiven Sicht von Beteiligten zu hinterfragen.
Dr. Otto Liebhart 1970, als Rentner, vor der ...
Dr. Otto Liebhart 1970, als Rentner, vor der früheren Honterusschule, damals Krankenhaus Nr. 1 „Ilie Pintilie“ in Kronstadt.
Die Hauptperson, Dr. Otto Liebhart (geboren am 9. Februar 1904 in Broos, gestorben am 30. September 1991 in Ravensburg) war der 95. und letzte noch vom Presbyterium der Kirchengemeinde gewählte Direktor der traditionsreichen Kronstädter Honterusschule, der somit sowohl die letzten Jahre der unter evangelisch-lutherischer kirchlicher Oberhoheit stehenden Schule als auch die ersten Jahre nach der Verstaatlichung unter kommunistischer Verwaltung erlebt und in nicht geringem Maße mitgeprägt hat. „Er hat, was zu sagen ihn drängte, an Ort und Stelle sagen müssen!“ schreibt Hermann W. Schlandt in dem am 1. Dezember 1991 in der Neuen Kronstädter Zeitung veröffentlichten Nachruf auf Dr. Otto Liebhart.

Die beiden Bücher auf eine Person, Otto Liebhart, und einen Ort, Kronstadt, zu reduzieren, wäre allerdings sehr stark vereinfacht. Die zahlreichen Mitglieder und Anverwandten der weitverzweigten Familie Liebhart, deren Vorfahren und Nachkommen, die Apothekerfamilie Scheeser aus Rosenau, die Bildhauerfamilie Storck aus Bukarest sowie unzählige Lehrer an der Honterusschule und weitere Weggefährten im Laufe der Zeit, führen dazu, dass man fast zwangsläufig auf den Seiten der Bücher Bekannte trifft. Um außer den bereits genannten nur einige Orte zu nennen, an denen die handelnden Personen anzutreffen sind: Broos, Schäßburg, Wien, Klausenburg, Leipzig, Laxenburg, Krivoi-Rog, Frankfurt/Oder, Schwarzmeerküste, Weingarten, Berlin – somit weit über Siebenbürgen hinaus in Europa. In vielen Ordnern in der Familie gesammelte Tagebuchaufzeichnungen, persönliche Erinnerungen, Fotos, Korrespondenz der Beteiligten, Erläuterungen, Fußnoten und Kommentare der Herausgeber, Protokolle dienstlicher Besprechungen sowie vertiefte Einblicke in die Securitate-Akte des Otto Liebhart wurden von den Herausgebern, drei Enkeln und einem Sohn von Otto Liebhart, akribisch zusammengetragen und zeichnen ein lebensnahes Bild des Werdegangs und einschneidender Ereignisse.

Band 1: Herkünfte, behandelt primär die familiäre Abstammung sowie den schulischen und universitären Ausbildungsweg von Otto Liebhart und seiner späteren Ehefrau Lili, geb. Scheeser. Ein umfangreiches Personenregister, ein geografisches Register, die Genogramme der Familien Liebhart, Scheeser und Storck helfen, Zusammenhänge zu verstehen und Aufzeichnungen richtig zu interpretieren. Es spricht somit nichts dagegen, diesen Band, ebenso wie Band 2, auch als Nachschlagewerk zu nutzen, wenn man ihn nicht konventionell von A bis Z lesen und bestimmte Ereignisse hinterfragen will. Ganz nebenbei erfährt man höchst interessante Details, z.B. dass das im Jahre 1893 von Prof. Dr. Gustav Weigand, Otto Liebharts Mentor, gegründete rumänische Institut in Leipzig die erste derartige Einrichtung außerhalb Rumäniens war. Vielleicht gibt es auch an der einen oder anderen Stelle einen Grund zum Schmunzeln, etwa bei der selbstkritischen Anmerkung des späteren Deutsch- und Rumänisch-Lehrers anlässlich seiner Reifeprüfung in Schäßburg: „In Mathematik haperte es, aber es schien noch genügt zu haben.“

In Band 2: Schicksale, verfolgen wir den beruflichen Werdegang des Lehrers an der Honterusschule, die Entwicklung der fünf Kinder der Familie, die Auswirkungen des 2. Weltkriegs, Deportation in die Sowjetunion und abenteuerliche Rückkehr zur Familie, Otto Liebharts Ernennung zum Direktor, Wegnahme des Schulgebäudes und Notbehelfe in anderen Gebäuden, die Verstaatlichung der Schule, Rückgabe der altehrwürdigen Gebäude am Honterushof, Belastungen und Abberufung des Direktors an der staatlichen Schule, Eintritt in den Ruhestand und Bemühungen um die Ausreise nach Deutschland. Aufgelockert wird diese Aufzählung belastender Vorgänge durch Notizen über die zu kommunistischen Zeiten nahezu undenkbaren, jedoch an alte Traditionen anknüpfenden Honterusfeste 1955 bis 1959, sowie durch eine Sammlung von Stilblüten aus Schüleraufsätzen, z.B. „Dann rechne ich und rechne und bin froh, wenn es hinten so wie im Buch herauskommt.“

Wir lernen Dr. Otto Liebhart in mehreren Facetten kennen: als Familienmensch, als Lehrer, als Organisator von Hilfs- und Unterstützungsaktionen, als zielbewusster Verhandlungsführer, als konsequenter Netzwerker und Kenner zwischenmenschlicher und politischer Beziehungen u.v.a. Welche dieser Facetten zu welchem Zeitpunkt den Vorrang erhält? Wie ein guter Klavierspieler scheint er immer zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Ton getroffen zu haben. Dass er sich in den letzten Jahren in Kronstadt voll und ganz auf Familie und Lehrerberuf konzentriert und zielstrebig die Ausreise nach Deutschland vorbereitet hat, schmälert in keiner Weise seine früher erworbenen Verdienste. Auch als Rentner stand er, wenn er gebraucht wurde, stellvertretend als Lehrer zur Verfügung, so dass auch jüngere Jahrgänge von Schülern ihn kennen und schätzen lernten. In einem abschließenden Kapitel des zweiten Bandes haben die Herausgeber die insgesamt 660 Blatt umfassende Securitate-Akte des Dr. Otto Liebhart akribisch gesichtet und daraus relevante Passagen extrahiert. Es gab auch Erwägungen und Vorschläge, ihn zu verhaften, die jedoch zum Glück nicht umgesetzt wurden. In einer abschließenden Zusammenfassung in der Akte schätzt die Securitate ihn als nationalistisch eingestellt, politisch vorbelastet, jedoch für das kommunistische Regime ungefährlich und nicht kooperativ ein. Dass die kommunistische Geheimpolizei ihn so negativ beurteilt, ist geradezu als Lob des Menschen Otto Liebhart anzusehen.

Wem ist die Lektüre der beiden Buchbände zu empfehlen? Bestimmt nicht nur den Siebenbürgern, sondern allen, die an schulischen Fragen sowie an der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts interessiert sind. Denn die Familie Liebhart ist stellvertretend für viele Intellektuellenfamilien zu sehen, die sich in einer hochdynamisch verändernden Gesellschaft und unter widrigen Bedingungen für schulische Belange und ihre persönliche Entwicklung einsetzten. Wie schön, wenn solche Menschen noch Zeit und Energie aufbringen konnten, hilfreich für ihre Mitmenschen in der Gemeinschaft zu wirken.

Horst Müller



Die Liebharts – Leben im Jahrhundert der Extreme. Band 1: Herkünfte. Herausgegeben von Ursula Gärtner in Verbindung mit Roswitha Gärtner und Dieter Liebhart. Verlag Ursula Gärtner-Nkoy, 171 Seiten, 138 Abbildungen, ISBN 978-3-00-068124-0

Band 2: Schicksale. Hrsg. von Ursula Gärtner in Verbindung mit Hans Otto Liebhart, 225 Seiten, 125 Abbildungen, ISBN 978-3-00-068125-7

Die Bücher können in Rumänien über das Erasmus-Büchercafé (www.buechercafe.ro/thema.html?cat=42) bestellt werden. In Deutschland im Buchhandel oder direkt bei der Herausgeberin (gaertner.ula [ät] googlemail.com). Preis: 19,90 Euro je Band, inklusive Versandkosten.

Schlagwörter: Kronstadt, Honterusschule, Erinnerungen, Schule, Schulgeschichte

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