29. Juli 2023

„Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“: Ein journalistisches Forschungsprojekt von Gerlinde Schuller, Amsterdam

In Siebenbürgen auf dem Dorf aufzuwachsen bedeutete, dass man einige handwerkliche Fähigkeiten schon vor dem Lesen und Schreiben lernte. Das Handwerk war allgegenwärtig, ein essentieller Teil des alltäglichen Lebens und keine bloße Freizeitbeschäftigung. Recycling und ein nachhaltiger Umgang mit den Dingen waren eine Selbstverständlichkeit.
Siebenbürgisch-sächsische Bäuerin in ...
Siebenbürgisch-sächsische Bäuerin in selbstgenähter Tracht, Lechnitz, Siebenbügen, ca. 1935. Foto: Hans Retzlaff, Sammlung Städel Museum (Deutschland)
Ich fertigte meine ersten Stickereien als kleines Mädchen an und schaute den Frauen in meiner Familie regelmäßig beim Weben, Sticken, Stricken, Häkeln und Nähen zu. Mein Onkel, Tischler von Beruf, baute mir einen Kinderstuhl, der im Zuge unserer Aussiedlung nach Deutschland quer durch Europa reiste und auf dem später auch meine Tochter gerne saß. Auch die handgeflochtenen Weidenkörbe, die wir aus Rumänien mitbrachten, haben ihre klassische Schönheit und Stabilität im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht eingebüßt und werden heute noch benutzt. Gutes Handwerk ist unverwüstlich.

Mittlerweile arbeite ich als Journalistin und Designerin in den Niederlanden und beschäftige mich beruflich mit der Geschichte der Siebenbürger Sachsen. Ich habe ein Projekt initiiert, in dem ich die „vergessenen“ Handwerke dieser ethnischen Gemeinschaft recherchieren und dokumentieren werde. Dabei konzentriere ich mich auf Korbflechten, Keramik, Weberei, Stickerei, Holz- und Schmuckhandwerk.

Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen und die ihrer Handwerkskunst beginnt in Westeuropa. Sie zogen im 12. Jahrhundert vom Mittelrhein (heute Niederlande/Deutschland/Belgien) nach Siebenbürgen (heute Rumänien), wo sie die ersten Siedlungen gründeten. Ihre Bräuche und handwerklichen Begabungen nahmen sie mit und bauten in den letzten 800 Jahren ein enormes kulturelles Erbe auf, das noch heute von den Einflüssen der damaligen Migration zeugt. In den 1990er Jahren kam es zu einer Massenabwanderung dieser ethnischen Minderheit nach Westeuropa. Die meisten Siebenbürger Sachsen kehrten zurück zu ihren historischen Wurzeln und hinterließen einen Großteil ihres materiellen und immateriellen Kulturerbes in Rumänien.
Soxen-Kollektion, initiiert von KraftMade ...
Soxen-Kollektion, initiiert von KraftMade (Marlene und Alex Herberth), Großschenk, 2013
Mein Projekt untersucht diesen historischen Spannungsbogen, der von Westeuropa nach Osteuropa und zurück führt, am Beispiel von Handwerken. Ich möchte die besonderen Merkmale dieser Handwerke dokumentieren und „letzte“ Handwerker vorstellen, die sie heute noch ausüben. Ein interessanter Aspekt ist dabei, wie diese geschlossene Gemeinschaft ihre Identität in ihr Handwerk eingebettet hat und dass diese Identität eine Mischung aus jahrhundertealten Traditionen, Migrationserfahrung und Assimilation ist.

Das Zusammenleben der Siebenbürger Sachsen mit Rumänen und anderen ethnischen Minderheiten hat auch Spuren in der Entwicklung dieser Handwerke hinterlassen. Eine junge Generation von Handwerkern, Künstlern und Designern zeigt sich dieser kulturellen Verschmelzung gegenüber aufgeschlossen und nutzt sie für eine Wiederbelebung der Handwerke. Dabei sind Wiederverwendung von Materialien und Naturverbundenheit wichtige Aspekte in ihren Arbeiten.
Stickerei von Gerlinde Schullers Großmutter, ...
Stickerei von Gerlinde Schullers Großmutter, Hetzeldorf, ca. 1980
Zusammenfassend kann man sagen, dass mein Projekt „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“ die folgenden Themen untersucht:

– Vergessene Handwerke, mit Verbindung zu den Siebenbürger Sachsen
– „letzte“ Handwerker/geistiges Eigentum lokaler Gemeinschaften
– (Kulturelle) Nachhaltigkeit/Verschmelzung von Handwerk und Kunst und Design

Meine Recherche bildet die Wissensgrundlage für eine Ausstellung, die ich im kommenden Jahr entwickeln werde.

Da ein Teil der Siebenbürger Sachsen aus Gebieten der heutigen Niederlande nach Siebenbürgen zogen und ich mittlerweile lange in den Niederlanden wohne, werde ich das Projekt auf die Achse Rumänien-Deutschland-Niederlande ausrichten. Es ist eine Dreiecksverbindung, über die noch nicht viel bekannt ist.
Ceramica Nocrich produziert Keramik in ...
Ceramica Nocrich produziert Keramik in siebenbürgisch-sächsischem Stil, Leschkirch 2023

Tipps für meine Recherche

Da meine Recherche noch am Anfang steht, möchte ich Sie, liebe Leser, um Hilfe fragen.

– Kennen Sie Merkmale von Handwerken der Siebenbürger Sachsen, die nur innerhalb dieser Gemeinschaft bekannt waren und benutzt wurden (Technik, Material, Ritual)?
– Kennen Sie „letzte“ Handwerker, die ein traditionelles Handwerk der Siebenbürger Sachsen heute noch ausüben?
– Kennen Sie Künstler oder Designer, die Handwerke der Siebenbürger Sachsen als Inspirationsquelle oder als Technik gebrauchen oder gebraucht haben?
– Kennen Sie jemanden, der mir mit historischen Quellen weiterhelfen kann, auch in Bezug auf niederländische und deutsche Einflüsse, die von den Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert nach Rumänien mitgenommen wurden?

Falls ja, schreiben Sie mir bitte eine E-Mail an: info[ät]archiving-family-memories-and-dreams.net oder einen Brief an Gerlinde Schuller, Karel Doormanstraat 127, 1055 VE Amsterdam, Niederlande.

Mehr Informationen zum Projekt „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“: https://archiving-family-memories-and-dreams.net/de. Sie können meiner Recherche auch auf Instagram (in Deutsch und Englisch) folgen: https://www.instagram.com/archiving_family_memories

Schlagwörter: Forschungsprojekt, Handwerk, Handarbeit

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