8. Dezember 2008

NS-Ideologie kein „Betriebsunfall“

„Vergangenheitsbewältigung im Zeichen der Provinz“ fiel als Stichwort bei der Ankündigung zur Dichterlesung, die anlässlich der Nachwuchsgermanistentagung am 17. November in der Akademie Mitteleuropa e.V. in Bad Kissingen (Thema: „Deutsche Regionalliteraturen in Ostmitteleuropa“) stattfand.
Der „Auschwitzapotheker“, aus dem der siebenbürgische Schriftsteller Dieter Schlesak eine Textstellencollage las, ist jedoch vielschichtiger: Das Buch kreist um die fehlende Einsicht, dass die Täter nichts aus der Geschichte gelernt haben. Das Morden und Grauen in Auschwitz geht unter in der Kommandokette, Disziplin ersetzt das Gewissen, Moral wird als „innerer Schweinehund“ diffamiert, den es im NS-Jargon zu überwinden gilt, die „Psychologie des Befehls“ erfährt in dem Dokumentarroman seine Ausgestaltung ins Literarische. Der Roman basiert auf Dokumenten, die in fiktionalisierter Form in chronologischen Reihen angeordnet sind. 1968/69, nach seiner Aussiedlung aus Rumänien, begann Dieter Schlesak seine Arbeit daran, in Deutschland fühlte er sich am Höhepunkt der Studentenunruhen viel stärker zur Tätergemeinschaft zugehörig. Nach dreißig Jahren Recherchen und erst nach dem Tod seiner Eltern wagte er die Veröffentlichung. Schlesak arbeitet mit den Stimmen der Opfer und konfrontiert sie mit den authentischen Stimmen der Täter. Der Erzähler, Adam genannt, ist als Kollektivfigur aus vielen Opfern zusammengesetzt. Die Gestalt ist an einen Schäßburger Juden angelehnt. Es ist der letzte Jude Schäßburgs, der vor kurzem gestorben ist.

Nach der Lesung schilderte Schlesak in der Diskussion über die literarische Darstellung der Shoa, dass er selbst teilgehabt hätte an der Sozialisation der Täter. Das Schreiben sei ein Opfergang gewesen, „wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an die Täter aus der eigenen Familie“; die Kindheitserinnerung sei mit der Nähe zu diesen Tätern verknüpft. Die Diskussion zeigte, dass die NS-Ideologie kein „Betriebsunfall“ der über achthundert Jahre alten siebenbürgischen Traditionen gewesen sei. 1940, so der Tenor im Plenum, sei das siebenbürgische Erbe und das Gewissen abgeschafft und opponierende konservative Politiker und selbst der Bischof durch NS-freundliche Protagonisten ersetzt worden.

Der „Auschwitzapotheker“ ist der zweite Teil von Schlesaks „Transsylwahnischen Trilogie“. „Vaterlandstage“, das Schlesak als sein Hauptwerk bezeichnet, war der erste Teil. Das Manuskript des abschließenden Buches mit dem Titel „Transsylwahnien“ befindet sich beim Verlag und erscheint voraussichtlich 2009. Der „Auschwitzapotheker“ liegt nunmehr in rumänischer und ungarischer Übersetzung vor, eine polnische, italienische, französische und spanische folgen. Es gibt ein Projekt, das Buch zu verfilmen, ein Theaterstück dazu ist in Arbeit. Dies zeige, so Schlesak, dass der „Auschwitzapotheker“ kein typisch siebenbürgisches Buch ist, es gehe von Schäßburg in Siebenbürgen aus, sei aber nicht nur ein siebenbürgisches und europäisches Buch, sondern eines, dessen Thema in allen Ländern der Welt gelte. Das Unfassbare von Auschwitz, abgebildet mit Akteuren aus der Provinz, gelte also weltweit, und alle Nachgeborenen können aus der blutigen europäischen Geschichte lernen.

Dieter Michelbach

Schlagwörter: Nationalsozialismus, Vergangenheitsbewältigung

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