2. August 2020

Viktor Glondys: Samaritergeist

Bezug nehmend auf den Beitrag Abwehr des Rassismus im Nationalsozialismus: „Samaritergeist“-Predigt von Viktor Glondys im Jahr 1931 lesen Sie im Folgenden die Predigt des Stadtpfarrers D. Dr. Viktor G l o n d y s in Kronstadt am 6. September 1931 über Luk[as-Evangelium, Kapitel] 10, [Verse] 25-37. [In: Selbsthilfe. Kampfblatt für das ehrlich arbeitende Volk. Hermannstadt, 3. Gilbhart (Oktober) 1931 (10. Jahrgang, 28. Folge), S. 2 f.]
Das unverdorbene Gemüt stimmt, solange seine Stimme nicht durch allerlei „kluge“ Erwägungen übertönt wird, der Tat des barmherzigen Samariters innerlichst zu. Erinnern wir uns doch nur, wie uns zumute war, als wir diese Geschichte in unserer Kindheit zum erstenmal hörten; wie wir im Mitgefühl mit dem armen, halb tot geschlagenen Mann, der aus vielen Wunden blutend am Straßenrand lag, sehnsüchtig Hilfe erwartete; wie wir aufatmeten, als wir hörten, daß ein Priester nahte, und wie tief enttäuscht wir darüber waren, daß er weiter ging; desgleichen beim Leviten. Wir stellten uns vor, wie die Zeit verging, wie die Wunden des Schwermißhandelten weiter bluteten und der Tod immer näher rückte. Wissen wir noch, wie glücklich wir waren, als wir endlich hörten, daß der Samariter vom Maultier stieg, den Kranken wusch, verband, auf das Reittier setzte, ihn in die nächste Herberge brachte, alles, was für die Pflege des Verwundeten nötig war, anordnete und bezahlte, aber auch damit sich nicht begnügte, sondern versprach wiederzukommen, nach dem Kranken zu sehen und alles weitere Nötige zu leisten? Wie stimmte doch unser Herz diesem Helfer zu, wie edel erschien uns sein hilfreiches, selbstloses Tun! O, wir verstanden, daß Jesus zu den Schriftgelehrten sagte: „Gehe hin und tue desgleichen!“ Wir verstanden auch, daß dieses Wort nicht nur für die Schriftgelehrten galt, sondern auch für uns gelte; daß der Mensch überhaupt so handeln solle! Daß dies die Erfüllung des göttlichen Willens sei! Daß alle Religionen, alles beten, Herr-Herr-Sagen und alle Glaubensvorstellungen nichts wert seien, wenn nicht die Gesinnung des Samariters und ihre Bewährung in helfender Liebe vorhanden sei. Wir verstanden, daß neben das Gebot der Gottesliebe das der Nächstenliebe als gleichwertig zu stellen sei. Es war uns unmittelbar einleuchtend, warum Jesus in dem Bild vom Jüngsten Gericht Gott den Menschen danach urteilen läßt, ob dieser in seinem Leben hilfsbereit war, ob er die Hungrigen gespeist, die Durstigen getränkt, die Nackten gekleidet, die Traurigen getröstet hat. Jesus hat da etwas zum Ausdruck gebracht, was das unverdorbene Menschenherz als recht empfindet. Das Gebot, das in dem Samaritergleichnis liegt, gilt ebenso für Chinesen und Neger wie für Juden und Abendländer, ebenso zur Zeit Jesu wie heute und zu allen Zeiten. Wir wissen: so soll es sein! Darum erscheint uns zum Beispiel Goethes Wort, wornach der Mensch edel, hilfreich und gut sein soll, weil dies allein ihn von allen Geschöpfen unterscheide, als unmittelbar einleuchtende Wahrheit und Widerhall des Christusgeistes.
Porträtfotografie des Kronstädter Stadtpfarrers ...
Porträtfotografie des Kronstädter Stadtpfarrers Dr. Viktor Glondys (ca. 1930) von dem Fotografen und Kunstmaler Friedrich Mieß (Kronstadt). Bildarchiv des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (ZAEKR)
Und doch hat sich eine Bewegung gegen diesen barmherzigen, hilfsbereiten Samaritergeist zu erheben begonnen, der keine Schranken der nationalen oder konfessionellen Zugehörigkeit beachtet, sondern einfach hilft, wo Hilfe nottut. Ehe die Gegner zu Worte kommen, bitte ich jeden, in der Stille auf die Frage zu antworten: Hat der Samariter recht gehandelt, soll ein Mensch so handeln, auch wenn der Unglückliche, welcher der Hilfe bedarf, einem fremden Glauben und einem fremden Volkstum, ja auch dann, wenn er einem feindlichen Volke zugehört? Oder haben der Hohepriester und der Levit recht gehandelt? Wenn sich in deiner Seele eine Stimme gegen das Verhalten des Priesters und Leviten erhebt und dem Samariter zustimmt, so halte fest daran und glaube, daß in dieser Stimme Gott zu dir redet! In unserer Zeit gibt es viel Versuchung, uns an solchem Glauben irre zu machen, denn gegen diese christliche Verkündigung des über alle Grenzen des eigenen Volkstums und Glaubens hinaus geltenden Gebotes der Nächstenliebe wird leidenschaftlich Sturm gelaufen. Nietzsche hat damit begonnen, die christliche Barmherzigkeit und alles Mitleid verächtlich zu machen. Er hat einen neuen Sprecher für unser Geschlecht in O. Spengler erhalten, der in seinem neuesten Werk „Der Mensch und die Technik“ die Raubtiernatur des Menschen als das Wertvollste, als das eigentliche Adelszeichen des Menschen beurteilt. Der Raubtiernatur entspricht nicht Samaritertat, sondern das Vernichten. Die Gegenbewegung ist aber keineswegs auf diese Kulturphilosophen und ihre Anhänger beschränkt geblieben. Die christliche Forderung einer Verbundenheit allgemein menschlicher Art, die sich nicht durch Schranken des Volkstums oder Glaubens begrenzen läßt, stößt auf den Gegensatz eines Rassekultus, der nicht sittliche Forderungen, nicht Gottes Gebote, sondern die Rasse als obersten Wert setzt. Was ihr dient, ist gut. Darnach seien auch die Forderungen des Christentums zu beurteilen.

Diese Anschauung hat sich in weiten Kreisen auch des deutschen Volkes durchgesetzt, besonders in den zu lebendigem völkischem Bewußtsein erwachten, so namentlich in der großen nationalsozialistischen Bewegung, die ja auch bei uns, vor allem in den Kreisen der Jugend, starken Widerhall findet. Wie wertvoll diese Bewegung als das große Erwachen völkischer Bewußtheit, völkischen Ehr- und Pflichtgefühls ist, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Aber gerade darum muß gegen Veränderungen, welche in diese Bewegung hineingetragen werden, umso klarer Stellung genommen werden.

Wir können es nur als eine Verirrung bezeichnen, wenn zum Beispiel das christliche Gebot der Nächstenliebe, wie es in dem über die Grenzen des eigenen Volkstums und Glaubens sich auswirkenden Samaritergeist vor uns steht, als mit den Belangen des deutschen Volkes unverträglich, den blutgegebenen Stimmen der nordischen Rasse widersprechend abgelehnt und an die Stelle der Nächstenliebe die Berechtigung, ja Pflege des schärfsten Rassenhasses gesetzt wird. Die germanischen Charakterwerte seien, so wird gesagt, „das Ewige, wornach sich alles andere einzustellen habe“. Die nordische Rasse allein sei Gottes Ebenbild. Ihre Bestimmung zum Herrschen müsse rücksichtslos, auch mit Unterdrückung anderer Völker, die als minderwertig bezeichnet werden, durchgesetzt werden. Nichts dürfe geduldet werden, was diesem Anspruch entgegenstehe, auch nicht die Forderung der christlichen Nächstenliebe. Der tiefe Rassenhaß, der aus dem rassenmäßig bestimmten Blut sich erhebt, sei dem feindlichen Volk gegenüber allein am Platz. Versöhnlichkeit sei Feigheit.

Wo diese Haltung durchdringt, ist der Samaritergeist aufgehoben, die Grundlage zu der Tat, der wir im Stillen so zustimmen, zerschlagen. Zu welchen ungeheuerlichen Verirrungen man schließlich gelangt, wenn man mit dem Rassekultus vollen Ernst macht und, um der Aufzucht der Rasse zu dienen, die letzten Folgerungen zieht, zeigen die Ausführungen eines in besonderer Weise betonten Führers im Bereiche dieser Bewegung, wornach wir durch Pflege des Kranken und Schwachen den natürlichen Ausleseprozeß abschneiden, anstatt uns zu verhalten wie etwa Sparta, das das Lebensschwache vernichtet hat. Was sollen wir dazu sagen, wenn von solcher Stelle aus sogar mit der Erwägung gespielt wird, ob es nicht vielleicht am Ende eine Kraftsteigerung des deutschen Volkes wäre, wenn es von einer Million jährlich geborener Kinder etwa 7-800.000 der schwächsten beseitige?! Derartige Gedankengänge können sich schließlich bis zu dem wahnsinnigen Einfall steigern, daß man mit solcher Ausrottung des Schwachen wirklich ernst machen solle, und es konnte geschehen, daß von einer Seite sogar der groteske Gedanke geäußert wurde, daß der Staat für die Vernichtung aller „Schwächlinge und Kränklinge“ sorgen solle. Durch ärztliche Kontrollkommissionen solle von Ort zu Ort der Gesundheitszustand des Volkes festgestellt und alles Schwache und Kranke, das die Rasse erblich belasten könne, sofort ausgerottet werden. Den ärztlichen Kommissionen sollten hierzu militärische Gewaltmittel zur Verfügung stehen, um die Vernichtung der Kranken auch gegen deren Willen, wie es naiverweise heißt, streng durchzuführen. Eine Ausnahme solle selbst die im Kriege erworbene Schwäche, Krankhaftigkeit oder Verkrüppelung nicht machen! Bis zu solchen wahnsinnigen Gedanken kann sich der Mensch versteigen, wenn er einmal anstelle des göttlichen Gebotes einen Götzen setzt, sei es auch die Liebe zur eigenen Rasse.

Aber wir sehen von dieser grotesken Verirrung, die allerdings durchaus folgerichtig ist, ab und bleiben bei der Auseinandersetzung mit der Ablehnung des auch dem Feinde gegenüber geforderten Samaritergeistes. Wohl verstehen wir solche geistige Strömungen. Sie sind aus der großen Not des deutschen Volkes begreiflich. Es ist verständlich, daß in einem Volk in dieser Lage, das von aller Welt getreten und ausgeplündert wird, derartige Gedanken auch auftauchen können. Aber als Christen können wir nicht zustimmen. In der Zustimmung läge die Preisgabe des Christentums. Das Christentum überwindet den Rassenhaß durch das Gebot der Nächstenliebe, über die Schranken der eigenen Rasse hinaus. Der Samariter hilft dem Juden. Freilich, wenn man nun folgerichtig weitergeht und sagt: der Deutsche helfe dem Franzosen! – fühlen wir, wie sich eine mächtige Gefühlswoge gegen solche Forderung des Christentums in uns erhebt, und wir verstehen die Frage, ob man da nicht das ganze Christentum abzulehnen berechtigt sei, wenn es solches gebiete.

Dies ist die Frage, auf die jeder für sich die Antwort finden muß. Sie wird vielleicht erleichtert, wenn wir bestimmte Fälle vergegenwärtigen. Als in der Nachkriegszeit Hunderttausende Kinder der Mittelmächte hungerten und an Unterernährung teils zugrundegingen, teils zu verkümmern drohten, regte sich in Schweden, Holland, in der Schweiz und auch anderwärts der Samaritergeist über die Grenzen der eigenen Nation und über die Staatsgrenzen hinweg. Ungezählte Kinder aus den notleidenden Staaten wurden aufgenommen, monatelang aufgenährt und auf diese Weise gerettet. Viele Beziehungen von Mensch zu Mensch wurden über Volks- und Staatsgrenzen hinweg für die Dauer geschaffen. Aus dem feindlichen Amerika wurde eine großzügige Hilfeleistung ins [S. 3] Werk gesetzt, Hoovers Name bleibt mit ihr für immerwährende Zeiten verbunden. War das recht gehandelt, oder wäre es richtiger gewesen, wenn jene Völker sich nur um sich selbst gekümmert und in Gleichgültigkeit gegen fremdvölkische Not sich verschlossen hätten, wenn die Amerikaner als feindliche Nation im Haß beharrt hätten? Jetzt stehen wir unter dem Eindruck des entsetzlichen Unglücks, das über China hereingebrochen ist, wo nach den letzten Nachrichten etwa 2 Millionen Menschen der Katastrophe zum Opfer gefallen sind und vielleicht 100 Millionen Menschen vom Hunger und von Seuchen bedroht sind, die das Land durchwüten. Hat jene amerikanische Schar, welche, vielfach wohl unter großem persönlichen Einsatz, Lebensmittel, Kleidungsstücke und Arzneien verteilt und einer fremden Rasse hilft, recht oder wäre es entsprechender, sich auf den Standpunkt des Rassenhasses zu stellen und die Unglücklichen kalt sich selber zu überlassen?

Daß die Forderung der Samaritergeschichte hoch über jeder kleinlichen Selbstsucht einer ausschließlich auf sich bedachten, durch fremde Not unberührt bleibenden Rasse besteht, wird jedem evangelischen Christen, aber doch nicht nur diesem, sondern, wie mir scheint, jedem wirklichen „Menschen“ ausgemacht erscheinen. So sehr man aus der besonderen Lage des deutschen Volkes die erwähnten Strömungen verstehen kann, so sehr muß man sie doch gegenüber dem christlichen Samariterideal als minderwertig, als beschränkte Rassenselbstsucht beurteilen, deren Sieg einen Rückfall auf eine tief unter dem christlichen Geist stehende Entwicklungsstufe bedeuten würde. In diesen zwei Standpunkten kämpfen nicht Juda und die nordische Rasse, sondern Gottes Forderung und menschliche Selbstsucht. Gegenüber Gottes Forderung darf sich nichts Menschliches, auch nicht eine Rasse, und sei sie noch so hochstehend, begabt und wertvoll, erheben. Nicht die Rasse ist der oberste Wertmaßstab, sondern Gottes Forderung. Und die Rasse hat nicht Gottes Forderung richtigzustellen, sondern sie hat sich selbst zu verbessern, indem sie sich Gottes Forderungen unterwirft und so auf eine reinere, aus dem Tierhaften, Naturgegebenen erhobene Stufe führen läßt.

Gott erzieht oft unter Leid und Kummer ein Menschenherz zu der Erkenntnis, daß das Tiefste und Höchste, was im Menschenleben verwirklicht werden kann, gerade der Samaritergeist ist, der für fremdes Leiden Verständnis und Mitgefühl hat und bereit ist, zu lindern und zu helfen. Ohne solche Erfahrungen bleibt der Mensch nur zu leicht gleichgültig, verschlossen; es langweilt ihn, von fremder Not zu hören. Wie sehr aber muß jeder das Bedürfnis haben, Mitmenschen zu helfen, im Leben Gutes zu tun, den Gott aus Leid zur Freude geführt hat! Solche Menschen, wenn sie nicht ganz oberflächlich sind, wissen, wie sie sich zu entscheiden haben, wenn sie vor der Frage stehen, ob der Samaritergeist gelten oder die kalte, unberührte, erbarmungslose Gleichgültigkeit herrschen solle.

Soviel zur Frage nach der Berechtigung der Forderung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Wir sehen, daß die letzte Antwort auf diese Frage aus den Tiefen des Gewissens und des Glaubens kommt, der zu der Forderung Christi ja sagen kann: Ja, Herr, ich glaube, daß dies auch meine Pflicht ist, und daß mich von ihr nichts entbinden kann, weil darin der Wille Gottes geoffenbart ist.

[Fortsetzung in: Selbsthilfe, 10. Gilbhart (Oktober) 1931 (10. Jahrgang, 29. Folge), S. 2.] Nun ein Blick auf die Bedeutung dieser Forderung für unsere Welt. Wir wissen alle von der tiefen Not, in welche die Menschheit steht. Woher kommt sie im letzten Ende? Kommt sie nicht daher, daß der Menschheit der Samaritergeist fehlt? Nur ein Beispiel aus dem trüben Chaos sei herausgegriffen: Wie ist es möglich, dass Hunderttausende Tonnen Lebensmittel vernichtet werden, während in anderen Teilen der Erde Millionen Menschen in jammervollster Not verkommen? Warum schenkt man nicht lieber die Lebensmittel den Hungernden, anstatt sie zu vernichten? Die Antwort lautet: Damit die Gewinnmöglichkeiten nicht durch ein Sinken der Preise herabgesetzt werden. O, ich weiß sehr wohl, daß auch ein Sinken der Preise ein ganzes Heer von Schwierigkeiten im Gefolge hat. Aber da stimmt doch etwas nicht, wenn die Menschheit Millionen aus ihrer Mitte verhungern läßt, obwohl zu viel Lebensmittel da sind. Es geht doch nicht an, einfach zu sagen, daß dies nach der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft so sein müsse. Natürlich, solange die jetzige Grundhaltung der Menschen besteht: Nicht den Samaritersinn, sondern Gewinnmöglichkeiten entscheiden zu lassen. Und so fallen auch sonst die großen Entscheidungen, in welchen die Schicksale ganzer Völker bestimmt werden. Der Sieg der christlichen Menschheitidee müsste alles von Grund aus ändern. Die Offenbarung in Christus allein kann der Menschheit wirklich vorwärts helfen. Sonst ist keine „Konzeption“ da, die so umfassend, so von Grund aus, weil aus innersten Quellgründen her, die Weltgeschicke umgestalten könnte. Das ist der Geist, den die Welt braucht. Nicht der hochmütige Geist des Rassenkultus und des Rassenhasses, nicht die kalte Selbstsucht als entscheidende Triebfeder kann der Welt helfen, sondern Christus! Nicht nur internationale Hilfeleistungen, wie sie vorher erwähnt wurden, gehören hieher, sondern auch der Rechtsschutz der kleinen Völker und Minderheiten, der Schwachen, die vielfach unter die Räuber gefallen sind. Hieher gehören aber auch die schweren sozialen Fragen, die unsere Zeit bewegen. Für diese Fragen gewinnt ein Herz, wer Samaritergeist hat.

Der Begriff „Menschheit“ ist christlichen Ursprungs, ein kühner Wurf, der alle Menschen umfaßt. Weder die Heiden brachten es bis zu diesem umfassenden Gedanken, noch auch das alte Testament, denn der Begriff Menschheit ruht auf dem Gedanken allgemein menschlicher Gemeinschaft. Die Heiden, Araber und Juden kannten nur Völker, unter denen das eigene Volk als das auserwählte, die andern mehr oder minder verächtlich erschienen. In diesem gewaltigen Gedanken des Christentums liegt nicht eine Gleichmacherei, als gäbe es da keine Unterschiede in urtümlichen Besonderheiten und im Wert der Rassen; auch nicht eine Gleichmacherei innerhalb derselben Rasse im Sinne jener Egalité (Gleichheit) der französischen Revolution. Der Samariter, der dem Juden hilft, wird dadurch kein Jude; und der Jude, dem geholfen wird, wird kein Samariter. Aber zwischen ihnen ist etwas wirksam, das eine Beziehung schafft, die über die Unterschiede hinaus greift und sie mit einander von Mensch zu Mensch verbindet. Der Einwand, das Christentum wolle mit seiner Nächstenliebe und der aus christlicher Liebe geborenen Menschheitidee die Unterschiede zwischen den Menschen und Völkern auslöschen, ist also völlig unbegründet. Aber jene Verbindung über alle Gott gegebenen Besonderheiten hinweg, die in unserer Geschichte zwischen dem Samariter und dem Juden besteht, will das Christentum allerdings und will damit wohl das Größte, das für die Beziehung zwischen Menschen und Völkern gewollt werden kann.

Ist dies eine Utopie, also ein Gedanke, der für die Welt nie praktische Bedeutung erlangen kann? Wir sahen an den angeführten Beispielen verschiedener über Volks- und Staatsgrenzen hinausgehenden Hilfeleistungen, daß dieser Geist durchaus lebendig vorhanden ist, wenn auch die große Mehrheit von ihm noch nicht ergriffen sein mag. Er hat im Kleinen mit den Hilfeleistungen der ersten Christen untereinander und an den fremden Kranken, auch an Feinden in der Not begonnen. Aus diesem Geist erhoben sich die Werke der dienenden Nächstenliebe: die Armen- und Krankenpflege, die Hospitäler, die Fürsorge für Waisen und von Verwahrlosung bedrohte Kinder; aus ihm entstanden jene heldenmütigen Pfleger der Leprakranken, in ihm haben die zahllosen Werke stiller Nächstenliebe und Fürsorge, die durch die christliche Geschichte leuchten, ihren Ursprung. Könnte man diese vielen stillen Taten, die aus dem Samaritergeist geflossen sind überblicken, wäre ein Strom des Segens in der Geschichte menschlicher Not bemerkbar, dessen Licht wohl die Dunkel des aus dem Haß geborenen Wehs überbieten würde. Nun sind wir an einer Wende der Entwicklung angelangt, an der dieser Geist von den stillen Werken persönlicher Einzelhilfen sich zu größeren Aufgaben erhebt, nicht um die Werke des heimlichen Segens etwa im Stich zu lassen, sondern um außer ihnen die große Menschheitaufgabe in Angriff zu nehmen. Der Samaritergeist steht heute vor einer neuen Stufe seines Wirkens in der Welt. Dies kündet sich in den durch die ganze Menschheit webenden Ideen an, die auf Schaffung würdigerer Verhältnisse zwischen den Völkern und Klassen gerichtet sind. Sie sind wie eine ausgestreut Frühlingssaat, die aufgehen will[,] oder vielmehr der Kampf eines durch tiefe Schatten hindurchbrechenden Lichtes. Wohl zunächst in einem ersten Morgendämmern. Aber im Dämmern liegt doch schon das Licht. Es ist kein Wunder, wenn der Kampf gegen den Samaritergeist in der Welt sich aufs neue erhebt. Auf dem Kampfplatz der größten Menschheitsaufgaben setzt das Christentum jetzt zu einem Siegeszug an. Kein wirklicher Christ kann zweifeln, wie die Entscheidung schließlich fallen muß. Wo könnte der Sieg sein, als allein beim Licht? Das Licht ist nicht der Haß, sondern die Liebe.

Wir haben Pflichten in diesem Kampf, sofern wir Christen sein wollen. Sie sind uns im Samaritergleichnis gewiesen. Wir müssen unser Christentum durch die Tat bewähren. Als christliche Gemeinde müssen wir Samariterwerke tun und mithelfen, daß dieser Geist sich in der Welt immer mehr kundtue. Gelegenheit ist genug dazu da. Gott sei Dank dafür, daß der Samaritergeist bei vielen unter uns lebendig ist. Wir wollen mit Dankbarkeit dessen gedenken: der stillen Samariterarbeit unserer Frauen und der Mithilfe vieler Gemeindeglieder. Möge Gott diesen Geist immer mehr entfachen durch die Verkündigung seines Wortes in Predigt und Erziehung in der Schule, durch das Beispiel, durch die Lebenserfahrungen unserer Gemeindeglieder, daß wir immer mehr eine christliche Gemeinde werden, die das Leben hat, welches sich in solchen Werken brüderlicher Gemeinschaft bewährt. – Wir haben aber auch Gleichgültige, die, wenn der Ruf um Mithilfe an solchen Werken an sie ergeht, kalt und erbarmungslos sich abwenden und nur an sich selbst denken. Diese schänden in unseren Gemeinden den Namen evang[elische] Christen, auch wenn sie kirchliche Ehrenämter einnehmen. Sie müssten aus diesen hinausgepeitscht werden, so wie der Herr mit der Peitsche den Tempel Gottes gereinigt hat.

Noch etwas ganz Persönliches, das jeden von uns angeht: Wie stehen wir selbst vor der Forderung dieses Gleichnisses? Haben wir wenigstens eine einzige stille aufrichtige Samaritertat in unserem Leben aufzuweisen? Wie traurig, wenn wir bisher versagt haben! Dann ist unser ganzes Christentum nichts wert. Dann wird es uns einmal erklingen: Ich bin hungerig gewesen und du hast mich nicht gespeist usw.

Wem wir einen Samariterdienst erweisen sollen? O, wenn wir nur wollen, dann finden sich diese Gelegenheiten schon von selbst. Suchen wir unseren Samariterdienst und lassen wir die Samaritertat geschehen ohne Rücksicht auf Dank, lassen wir sie nicht halbe Tat sein, sondern womöglich ganze Hilfe in Befolgung des Wortes Jesu: „Gehe hin und tue desgleichen!“

Schlagwörter: Viktor Glondys, Kirche, Nationalsozialismus, Predigt, Kronstadt

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