6. November 2020

Das Ende der Geschichte? Siebenbürger Sachsen 30 Jahre nach dem Exodus / Von Prof. Dr. Hans-Christian Maner (I)

Die massive Auswanderung der deutschen Minderheit nach dem gesellschaftspolitischen Umbruch in Rumänien hat eine lange Vorgeschichte. Im 20. Jahrhundert bot das Geschehen um den Zweiten Weltkrieg die Initialzündung für mehrere Migrationswellen. Damit ging auch eine anhaltende Zweiteilung der Geschichte der Siebenbürger Sachsen einher. Die Migration stellt nicht nur für die Gemeinschaft, sondern für jede und jeden Einzelnen ein existenzielles Ereignis dar. Für die in Deutschland Angekommenen stehen Fragen der Integration sowie des Umgangs mit der Herkunftsregion und -identität im Mittelpunkt. Für die Sachsen in Siebenbürgen geht es darum, den Massenexodus und seine Folgen, womit ebenfalls die Identitätsfrage zusammenhängt, zu verarbeiten. Sowohl für die Sachsen in Deutschland wie auch diejenigen in Siebenbürgen steht die Frage nach Zukunftsperspektiven im Raum.
Revolutionäre Ereignisse Ende Dezember 1989 am ...
Revolutionäre Ereignisse Ende Dezember 1989 am Großen Ring in Hermannstadt: ein brennendes Auto als Symbol der Staatsmacht und der Securitate sowie eine Menschenansammlung. Foto: Kilian Dörr
Die Jahre 1989/90 kennzeichnen einen epochalen Einschnitt in der Geschichte Europas. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Europa bedeutete das Ende des „Eisernen Vorhangs“ und damit das Ende der Bewegungsunfreiheit. Wanderungsbewegungen großen Ausmaßes setzten ein. Besonders markant wird diese Entwicklung am Beispiel der DDR. Die Abstimmung mit den Füßen zahlreicher Menschen führte auf direktem Weg zur Maueröffnung und dem Ende der DDR. Auch deutsche Minderheiten aus dem östlichen Europa nutzten die Grenzöffnungen zur Auswanderung aus ihrer zum Teil jahrhundertealten Heimat. Während allerdings deutsche Bevölkerungsgruppen aus Polen und der Sowjetunion Länder verließen, in denen sie ihre Kultur nicht pflegen durften, war die Lage in Rumänien eine andere. Anders als in anderen osteuropäischen Staaten wurden die Deutschen in Rumänien nach 1945 nicht vertrieben. Und dennoch schwoll die Auswanderung der Deutschen aus Rumänien zum Exodus an. Wieso ist es dazu gekommen? Antwortmöglichkeiten bieten ein historischer Rückblick und eine Einordnung.

Die lange Vorgeschichte des Exodus

Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen kann seit ihren Anfängen als Migrationsgeschichte erzählt werden. (Im Beitrag wird „Siebenbürger Sachsen“ für „Siebenbürger Sächsinnen und Sachsen“ verwendet.) Einsetzend mit der West-Ost-Wanderung um die Mitte des 12. Jahrhunderts folgte im Mittelalter, der Frühen Neuzeit bis hin zur Ost-West-Wanderung im 20. Jahrhundert eine Reihe von Ein-, Aus- sowie Binnenwanderungen. Eine entscheidende Ursache für die Loslösung der Siebenbürger Sachsen von dem Staat und dem Gemeinwesen, in dem sie lebten, ist im 19. Jahrhundert zu suchen, als die Umwandlung von einer Rechtsgemeinschaft, einer „Nation“, zu einer „nationalen Minderheit“ stattgefunden hat.

Im 20. Jahrhundert markierte der Zweite Weltkrieg den Ausgangspunkt für die nachfolgenden großen Ost-West-Migrationsströme. Wie auch die anderen deutschen Minderheiten Rumäniens gerieten die Sachsen während der 1930er und 1940er Jahre in das Räderwerk der Propaganda und Kriegspolitik des nationalsozialistischen Deutschland. Nach dem Ende des Weltkrieges fanden sich Soldaten, die auch aufgrund des Waffen-SS-Abkommens von 1943 in deutschen ­Armeeeinheiten gekämpft hatten, Flüchtlinge aus Nordsiebenbürgen, das Rumänien nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch an Ungarn abtreten musste, aber auch aus Mittelsiebenbürgen sowie nach der Deportation in die Sowjetunion Entlassene in Deutschland und Österreich wie auch in den USA und in Kanada wieder. Viele Männer und Frauen aus diesen Gruppen kehrten nicht mehr nach Rumänien zurück. Die zerrissenen Familien, aufgelösten und zerstörten Nachbarschaften und Wohngemeinschaften waren Auslöser für die erste Auswanderungs- bzw. Flucht- und Vertriebenenwelle, die zugleich auch eine anhaltende Zweiteilung der Geschichte der Siebenbürger Sachsen einleitete.

Mit der Etablierung des kommunistischen Regimes, nach Beseitigung der politischen Gegner und der Abschaffung der Monarchie setzte ab 1948 eine lang anhaltende zweite Phase der mit unterschiedlicher Intensität erfolgten Auswanderung während der totalitären Herrschaft ein, die natürlich auch auf dem Hintergrund des Kalten Krieges gesehen werden muss. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen Rumäniens stellten das grundlegende Motiv für die Emigration dar. Die ersten Nachkriegsjahre standen für Repression und Ausgrenzung der deutschen Minderheitengruppen. Durch die Deportation gezeichnet, waren die Siebenbürger Sachsen dem Vorwurf der Kollaboration („Faschisten“ und „Hitleristen“) und damit der kollektiven Schuld ausgesetzt. Die Enteignungen des Bodens, der Höfe und Arbeitsgeräte 1945 sowie nachfolgend der Großbetriebe, Banken, der Kaufleute und Handwerker entzogen der Minderheit die Existenzbasis. Hinzu kam, dass die deutsche Bevölkerung Rumäniens zwischen 1946 und 1950 kein Wahlrecht besaß und damit rechtlos und der Willkür ausgesetzt war. Auch wenn die Maßnahmen gegen die Minderheit in den 1950er Jahren gelockert wurden, blieb das Misstrauen bezüglich der Politik bestehen. Repression, Verfolgungen, Verhaftungen, Terrormaßnahmen, die sich auch gegen andere Minderheiten sowie die Mehrheitsbevölkerung richteten, hielten an. Die Anfangsjahre unter Nicolae Ceaușescu in den 1960er Jahren markierten zwar eine Phase der Entspannung, doch recht bald verwies das Konzept des Nationalkommunismus auf eine Minderheitenpolitik, die eine verschärfte Homogenisierung und Assimilierung zum Ziel hatte.

In den 1950er und 1960er Jahren bewegten sich die Auswanderungszahlen auf einem überwiegend konstanten Niveau. Mit den 1970er Jahren ist dann ein markanter Anstieg der Zahlen zu verzeichnen. Zwischen 1970 und 1974 siedelten mit 29.802 Mitgliedern der deutschen Minderheit mehr Menschen nach Deutschland als in den 1950er und 1960er Jahren zusammen. Zwischen 1980 und 1984 waren es 72.824 Aussiedler und von 1985 bis 1989 kamen noch 78.337 hinzu. (In den Statistiken werden die Siebenbürger Sachsen nicht gesondert ausgewiesen.) Ausgangspunkt waren die sich aktiver gestaltenden deutsch-rumänischen Kontakte nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien 1967. Während des Besuchs von Nicolae Ceaușescu in Bonn im Juni 1973 wurden „humanitäre Fragen“, d. h. die Familienzusammenführung, angesprochen. Im Januar 1978 folgte während des Besuchs von Helmut Schmidt in Rumänien das sogenannte „Handschlagabkommen“. Konkrete jährliche Ausreisezahlen waren die Folge. Geldzahlungen durch die Bundesrepublik, die die Ausreise von Rumäniendeutschen fördern sollten und die bereits seit den 1950er Jahren flossen, spielten bei der Zunahme der Auswanderungszahlen in den 1970er Jahren eine wichtige Rolle. Der vereinbarte „Freikauf“ bzw. „Aufkauf“ der Siebenbürger Sachsen (und auch der anderen deutschen Gruppen wie der Banater Schwaben), die Politik der Bundesrepublik sowie die Haltung der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in der Bundesrepublik, all diese miteinander verwobenen Push- und Pull-Faktoren, also abstoßende wie anziehende Faktoren, hatten einen entscheidenden Einfluss auf das Weggehen der Deutschen aus Rumänien. Die Familienzusammenführung war die nach wie vor von allen Seiten vorgebrachte zentrale Motivation. Dieser Begriff, der sich in den 1950er Jahren zunächst nur auf die Kleinfamilie (Eltern und Kinder) bezog, erfuhr ab den 1970er Jahren eine entscheidende Erweiterung mit gravierenden Folgen für den Zusammenhalt von Großfamilien. Die Zusammenführung von Familien ging auch einher mit einer „Familienauseinanderführung“.

Das Ende des totalitären kommunistischen Regimes

Die Flucht von Nicolae und Elena Ceaușescu am 21. Dezember 1989, deren Hinrichtung am 25. Dezember und das revolutionäre Aufbegehren der Menschen ließen Hoffnungen aufkeimen. Nicht wenige Städte in Siebenbürgen erhielten zur Ehrung der Opfer während der Dezembertage den Titel „Märtyrer-Stadt“, ebenso auch Hermannstadt, wo sich am Großen Ring Menschen während der Ereignisse in einem Reigen, aber einige auch noch ungläubig und abwartend um ein brennendes Auto als Symbol der Staatsmacht und der Securitate versammelten (siehe Bild oben). Das Ende des totalitären Regimes und der Wegfall von Restriktionen bedeuteten jedoch keineswegs ein Nachlassen des Auswanderungsdrucks oder gar das Ende der Auswanderung, sondern genau das Gegenteil. Die Öffnung der Grenzen wirkte wie ein Dammbruch. Die aufgestauten Sorgen, Unzufriedenheiten und Frustrationen, das Gefühl des Fremdgewordenseins im eigenen Land, die lange vorher mental oder tatsächlich gepackten Koffer, die nach wie vor bestehende Rechtsunsicherheit, die Ungewissheit darüber, ob die neuen Freiheiten von Dauer sein würden und ob die Lage der Minderheiten sich tatsächlich verbessern würde, führten letztendlich zu einer Auswanderungswelle größten Ausmaßes. Der Versuch des bundesdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, in einer Rede im Januar 1990 in Hermannstadt der Entwicklung Einhalt zu gebieten („das Tor bleibt offen“), lief ins Leere. Zu groß war die Skepsis, die Bundesrepublik Deutschland könnte die Ausreise an neue Bedingungen knüpfen, was sich dann auch bestätigte.
Tränenreicher Abschied: Der Pfarrer von Schaas ...
Tränenreicher Abschied: Der Pfarrer von Schaas Hannes Pitters (mittlerweile selbst ausgewandert) verabschiedet im August 1989 nach dem Kirchgang ein sächsisches Ehepaar, das vor der Auswanderung steht. Foto: Konrad Klein
Insgesamt verließen 1990 schließlich 111.150 Deutsche Rumänien. Bis Ende des 20. Jahrhunderts, zwischen 1995 und 1999, übersiedelten noch 14.440 Menschen nach Deutschland. Danach gingen die Zahlen kontinuierlich zurück, von 2010 bis 2018 waren es dann noch 121 Personen. Die Anzahl der Deutschen in Siebenbürgen ist somit von ca. 251.000 zu Beginn der 1940er Jahre auf etwa 16.000 zu Beginn des 21. Jahrhunderts gesunken.

Die Entscheidung zur Migration war ein komplexer, schwieriger und schmerzvoller Prozess, bei dem eine Reihe von Faktoren eine wichtige Rolle spielte. Neben der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Lage waren das familiäre, das gemeinschaftliche und das individuelle Umfeld grundlegend. Die Zerrissenheit der Familien, gefolgt von dem Verlust der Freunde waren auch für den Exodus 1990 entscheidend. Insbesondere für die Menschen in den Dörfern war der Lebenshalt durch das Aufbrechen zentraler Pfeiler wie der Gemeinschaft ­sowie der Nachbarschaften weggebrochen. Unsicherheiten und Zukunftsängste haben ganze Dorfgemeinschaften dazu bewogen, Siebenbürgen nach einem tränenreichen Abschied zu verlassen.

Während bis 1989 zu den politischen Gründen das totalitäre Regime, die Repressionen und das Überwachungssystem der Securitate als Motive für die Ausreise zählten, waren es ab 1990 die Mängel des Transformationsprozesses: Verwaltungs- und Führungsmängel, Willkür, Korruption und Kriminalität. Ein zweites markantes Motiv für die Migration vor wie nach 1990 blieb das ökonomische: Inflation und Arbeitslosigkeit (nach 1990) im Herkunftsland und die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen, Ausbildungs- wie Berufschancen im Zielland. Schließlich spielten subjektive bzw. irrationale Gründe eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entscheidung für die Emigration: der alte wie neue Nationalismus in Rumänien als Push-Faktor sowie der Mythos Deutschland und die Sehnsucht nach Freiheit als Pull-Faktoren. Wirk- und deutungsmächtig war die Erzählung von den Wurzeln und der Herkunft der Siebenbürger Sachsen, die eine Rückkehr ins „Mutterland“ begründete. Hinzu kamen die Betonung der ethnischen Zugehörigkeit und die damit verbundene Angst vor dem Verlust der deutschen Kultur.

Was bedeutete die Migration für die aus Siebenbürgen Ausgewanderten wie für die in Siebenbürgen Verbliebenen?

Fortsetzung: Das Ende der Geschichte? Siebenbürger Sachsen 30 Jahre nach dem Exodus / Von Prof. Dr. Hans-Christian Maner (II)

Lesen Sie dazu auch: Aufruf an Zeitzeugen: Schildern Sie Ihre Erinnerungen an den Exodus

Exodus – Zeitzeugen berichten, Teil 1

Exodus – Zeitzeugen berichten, Teil 2

Schlagwörter: Geschichte, Exodus, Maner, Auswanderung, Aussiedler, Spätaussiedler, Rumänien, Ceausescu, Siebenbürgen, Weltkrieg, Nationalsozialismus, Deutschland, Rumäniendeutsche, Schmidt, Genscher, Hermannstadt

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Neueste Kommentare

  • 13.11.2020, 10:18 Uhr von schully: Kurze Anmerkung zum Foto: der ARO brannte nicht "als Symbol der Staatsmacht und der Securitate", ... [weiter]

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