18. Dezember 2008

„Der lachende Siebenbürger“ - Hans Bergel über Gustav Arthur Gräser

Für den 6. November hatte der stellvertretende Direktor des Hauses des Deutschen Ostens, München, Udo W. Acker, im Rahmen der Veranstaltungen aus Anlass des 50. Todestages von Gustav Arthur Gräser (1879-1958) zum Vortrag „Der lachende Siebenbürger. Versuch über einen Außenseiter“ von Hans Bergel eingeladen. Aus dem Vortrag lesen Sie unten Auszüge. Ungekürzt findet sich der Text in Heft 4/2008 der Kulturzeitschrift Spiegelungen (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Halskestraße 15, 81379 München).
Als er nach Jahren der Abwesenheit zu einem Besuch in die siebenbürgische Geburtsheimat zurückkehrte, knieten Karpatenhirten bei seinem Anblick nieder, bekreuzigten sich und murmelten: „Unser Heiland Jesus Christus ist wiedergekehrt.“ Dabei sollen nicht so sehr die imponie­rende Gestalt und die hoheitsvoll-ruhigen Be­wegungen, das lange Haupthaar und der Bart, Wanderstab, Sandalen und sackleinene Gewand die Ehrfurcht der Hirten geweckt haben, sondern die Herzenswärme und Menschlichkeit des strahlenden Blicks, die Güte und Freundlichkeit der Gesichtszüge.

Der Mann, dem Huldigungen dieser Art in halb Europa dargebracht wurden, die er weder provozierte noch erwartete, war ein von den Ord­nungsbehörden Gehetzter: Aus mehreren Staaten und Städten polizeilich vertrieben, in Gefängnis­se und Irrenhäuser gesteckt, zum Tod verurteilt, als Narr und Messias der Rückgewandten von den einen verlacht und verspottet, hatte er durch andere als Botschafter einer Lebensorientierung außerhalb der Norm Zuneigung und Schutz erfahren. Er wurde 1933 von den Nazis ins KZ Großöhmig gesteckt, 1940 abermals verhaftet und verbarg sich vor ihnen jahrelang in den Dachkammern der Wohnungen berühmter Mün­chener Universitätsprofessoren. Als er am 27. Oktober 1958 in Freimann im Osten der bayerischen Landeshauptstadt starb, verschied eine der eigenartigsten und bemerkenswertesten Gestalten der deutschen Kulturszene aus den Epochen um die beiden Weltkriege, ein Einzel­gänger und Unbe­hauster, der in bayerischen Berghütten, in einer Höhle der Schweizer Alpen, in einem Wohnboot auf einem der Berliner Seen und Gott weiß wo sonst noch gelebt hatte, be­ständig heiteren Gemüts, furchtlos, unbeirrt und ohne ideologische Anmaßung den eigenständigen philosophischen Lebensentwurf in die Tat umsetzend, der ihn als konsequenten Kultur- wie Zivilisations­skeptiker nicht zuletzt bei vielen der Besten seiner Zeit bekannt gemacht hatte.

Gusto Gräser in der 1950er Jahren. ...
Gusto Gräser in der 1950er Jahren.
Der Mann, von dem die Rede ist, hieß Gustav Arthur Gräser. Er erblickte am 16. Februar 1879 im siebenbürgischen Kronstadt als viertes Kind des Juristen und späteren Bezirksrichters Carl Samuel Gräser (1839-1894) und der Charlotte, geborene Pelzer (1853-1920), das Licht der Welt.

Gräser begann im Alter von elf Jahren am 30. August 1890 den Schulbesuch auf dem Bruken­thal-Gymnasium in Hermannstadt. Zugleich mit dem Unterrichtsbetrieb empfand der geistig wa­che, spirituell auffallend ansprechbare Junge auch die bis zur Unbeweglichkeit starre Domi­nanz des kirchlichen Anspruchs in der Schuler­ziehung als unerträglich. Er brannte folgerichtig durch – und verschwand aus Siebenbürgen. Eine Information über seinen Verbleib stammt aus dem Jahre 1896: Gräser wurde auf der Budapester Weltausstellung für ein Holzschnitz­werk mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Er war siebzehn Jahre alt.

Das zweite Motiv des Ausbruchs darf im Tod des Vaters 1894 vermutet werden – die starke Bindung an den Vater begleitete diesen Mann sein Leben lang. Und da die Bindung des Jun­gen an die Mutter wesenlos wurde, kam zur Rebellion das verzweifelte Gefühl der Unbe­haustheit in der Heimat.

Der Hinweis auf die verblüffende Parallele zum jungen Hermann Hesse ist hier angezeigt; sie erklärt einiges von den Gründen der späteren Annäherung der beiden. Beiden war es um die Möglichkeit der Harmonisierung des Gegensat­zes Geist-Welt, Mensch-Natur gegangen und der meditative Akzent in Hermann Hesses Werk ent­spricht dem meditativen Akzent in der Daseins­haltung Gräsers. Verlegte Hesse jedoch die Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf die Ebene des Literarischen und bewies dabei die Konstanz des großen Schriftstellers, so meinte Gräser die Auseinandersetzung auf der Ebene der praktischen Konfrontation, die er ebenfalls ein Leben lang konstant durchhielt.

Welches waren Gräsers Lebens-, Gesellschafts- und Weltvorstellungen? In Wien lernte der Acht­zehnjährige den um die Jahrhundertwende viel diskutierten Maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) kennen. Gräser schloss sich der Künstlergemeinde um den im Geist der Zeit so­zialreformatorisch engagierten Diefenbach an. Bald jedoch verließ Gräser die Wiener Künstler­gemeinde, vernichtete sämtliche unter Diefen­bachs Anleitung entstandenen Gemälde und wendete sich mit der ihm eigenen Entschieden­heit in der Durchführung von Entschlüssen einem Dasein als Wanderer und Wanderprediger in ei­gener Sache zu: Es war die radikale Absage an bürgerliche Standards, die er hinfort nie wieder respektierte. In München scharte der Einund­zwanzigjährige sieben Gesinnungsgefährten um sich, wanderte mit ihnen bis ins Tessin, wo sich die Gruppe bei Ascona am Ufer des Lago Mag­giore als so genannte Landkommune auf dem Monte Verità niederließ. Vor allem durch Gräser wurde der Berg in der Folge so berühmt, dass er Besucher wie Lenin, August Bebel, Fürst Kro­potkin und andere anlockte.

Gräsers Skeptizismus gegenüber der Ober­flächlichkeit eines sich im nur Zivilisatorischen genügenden Lebensverständnisses paarte sich mit Erkenntnissen klassischer fernöstlicher Weisheit, die den europäischen und amerikanischen Aktionsdynamismus und dessen Katego­rien der allein auf äußeren Erfolg bedachten Existenzorientierung nicht nur als immensen Verlust an humaner Wertesubstanz erscheinen lässt, sondern auf Dauer als physische Gefähr­dung der gesamten Gesellschaft: Die von den Zwängen moderner Orientierung materialistischen Erfolgs-, Geld,-, Karriere- und Vergnü­gungsdenkens ausgehöhlten Lebensinhalte brin­gen einen Menschen hervor, der, seiner Persön­lichkeit entleert, nur noch als Hülle figuriert, den großen vordergründigen Verführungen willenlos ausgeliefert. Die Frage: Wohin treiben wir, wenn wir allein auf technikbestimmte Lebensform setzen? dräng­te sich auf. Vorausahnend hatte Rousseau im 18. Jahrhundert die Parole „Retour à la nature“ ausgegeben. Schiller hatte die Frage wiederholt. Zwei Generationen danach war sie von Tolstoi neu gestellt worden. Gottfried Benn hatte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts poetisch überhöht ausgesprochen: „Wenn ihr die Mythen und Worte / entleert habt, könnt ihr gehen. / Eine neue Götterkohorte / wird nicht auferstehn.“ In Deutschland verstärkte sich die innere Be­unruhigung als Ergebnis des 1918 verlorenen Kriegs und der eingetretenen Notlage zu besonders intensiven Verunsicherungen und Erregt­heiten. Es ist kein Zufall, dass hier die Feststel­lungen über den „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler geschrieben wurden.

Gräsers Intentionen meinten weit mehr und reichten tiefer als die Eintagsfliegen-Fantasien der „Inflationsheiligen“ jener Jahre nach 1918. Sie verstanden sich nicht als Heilsverkündigun­gen in einem darniederliegenden desperaten Land, sondern als Memento inmitten einer Gesellschaft des Wohlstands. Er spricht in der ihm eigenen, auf den ersten Blick absonderlichen Sprache von der „Bescheidenheiterkeit“, er wünscht seinen Zeitgenossen „Herzweisheit­lichkeit“. Zu den Köstlichkeiten seiner Wort- und Satzschöpfungen, die er in überbordender Fülle produzierte, gehört etwa das Substantiv „Ichmichlein“ – gemeint ist, mit ironischer Nachsicht, die lächerliche Überheblichkeit und Selbsteingenommenheit des im Grunde winzigen Ego eines jeden von uns. Er notiert: „Schlaf gut, Ichmichlein, sei für uns verloren“ – es ist eindeutig, wie er das meint. Kompliziert – und literatursprachlich aufschlussreich – wird es erst, wenn Gräser z. B. vom „Blödbauschegrauen der Bluffkultur“, vom „simsumsammelseligen Welt­sommerbund“ oder von „Hassmissetaten tun statt Musetat“ schreibt, wenn er Wortschöpfun­gen zelebriert wie etwa „Wonnewunderkugel­weltbaum“ oder Sätze zu Papier bringt wie „zusammenwandelwohnt im Sam, Allhochzeit­sam, Urfreunde Paarheiterkeit“.

Diese Gedichte wurden zu einem Zeitpunkt verfasst, als der von der Schweiz – wo Gräser hauptsächlich lebte – ausgehende Dadaismus sich entfaltete: die „Ohne-Sinn-Kunst“, wie einer der führenden Dadaisten programmatisch festhielt – der 1896 geborene Tristan Tzara. Freilich betrieb Gräser keine „Ohne-Sinn-Philosophie“. Aber ist aus seinen vertrackt-sinnvollen Sprach­bildern nicht eine Ähnlichkeit zu jenen seines siebenbürgischen Landsmannes, des Lyrikers Oskar Pastior, herauszuhören, der kein Hehl aus seinem poetischen Rückgriff auf den Dadaismus machte? Es gibt Gräser-Gedichte von verblüffender Ähnlichkeit mit Pastior-Gedichten. Und lehnten sich die Dadaisten nicht ebenso wie Gräser gegen den „Wahnsinn der Zeit“ auf, wie einer ihrer Sprecher, Hans Arp, gesagt hatte? Rüdiger Safranski schrieb vom „Kulturekel“ der Dadaisten. Aus derselben Zeitstimmung heraus hatte 1929 Sigmund Freud sein Buch über das „Unbehagen in der Kultur“ verfasst. Auch dies gehört zum Zeithintergrund, aus dem heraus sich Gräser erklärt.

Wie nahm das geistige Siebenbürgen den Au­ßenseiter an? Verstand, verwarf es ihn? Besaß seine Herkunftsgemeinschaft die Membrane für den Außergewöhnlichen und das Außerge­wöhnliche?

Nach einem Vortrag Gräsers 1916 im nordsie­benbürgischen Bistritz schrieb ein Ungenannter in der Bistritzer Deutschen Zeitung vom 15. Juni: „Es muss ein Herrliches sein, so stark in sich zu gründen, dass man dem Spott und dem Unverstand der Menge Ruhe entgegensetzen kann und sich nicht beirren lässt in seinem Besten – in seinem Menschentum.“ Schon 1912 hatte der Kronstädter Schriftsteller und Heraus­geber der Kulturzeitschrift Die Karpathen, Adolf Meschendörfer, einen Text leidenschaftlicher Anerkennung Gräsers veröffentlicht, dem er auch im Roman „Die Stadt im Osten“, 1931, eine Gestalt nachbildete. „In ihm ist der Protest unserer Zeit gegen Mechanisier- und Schemati­sierung des Lebens verkörpert“, hatte der Her­mannstädter Buchautor Otto Friedrich Jikeli in den Karpathen den Lesern mitgeteilt, „aus seinen Worten und Blicken fließt ein reicher Strom gütiger und reiner Menschlichkeit“. Am 19. Dezember 1915 war in der Kronstädter Zeitung über Gräser zu lesen: „Er drängt sich niemandem auf. Er ist ein Mensch, mit dem man scherzen und lachen kann. Er will keine Jünger werben, sondern nur seinen Weg gehen.“ Nach Grä­sers polizeilicher Ausweisung aus Hermannstadt Anfang Mai 1916 hielt in dem dort erscheinenden Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt am 13. Mai dessen Chefredakteur Emil Neugeboren fest: „Ich sehe in ihm ein (...) Symbol für Stimmun­gen, von denen niemand unter uns modernen Zivilisationsmenschen (...) frei ist (...) Er ist (...) eine geistige Kraft besonderer Prägung.“ Der Kunsthistoriker Hans Wühr nannte Gräser am 27. Oktober 1958 in der in München erscheinenden Siebenbürgischen Zeitung einen „Dioge­nes des Herzens“, der Schriftsteller Heinrich Zillich in den von ihm in München herausgegebenen Südostdeutschen Vierteljahresblättern, Heft 4/1964, einen Mann „aus einem Guss“.

Hans Bergel

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Schlagwörter: Gräser, Bergel

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