26. Dezember 2016

Am Fuße der Karpaten - Weihnachten 1987 bei den Siebenbürger Sachsen

Die Geschichte „Am Fuße der Karpaten“ handelt von einer Reise im Dezember 1987 nach Siebenbürgen, als dort strengster Winter herrschte. Erlebnishungrige Jugendliche aus der damaligen DDR waren losgefahren, um Weihnachten fernab der Heimat zu feiern. In Großau wurden die Fremden herzlich aufgenommen, in Hermannstadt erlebten sie einen bewegenden Gottesdienst und am zweiten Weihnachtsfeiertag ein fröhliches Dorffest, von dem Roland Barwinsky auch heute noch schwärmt. Er verliebte sich in die Landschaft und Menschen von Siebenbürgen. Der 1963 in Sachsen-Anhalt geborene Autor schreibt regelmäßig für mehrere Tageszeitungen.
Einige Sonnenstrahlen hatten sich längst durch die mit Vorhängen verdeckten Fenster des brodelnden Dorfsaales gezwängt. Trotzdem spielte die Band weiter. Immer weiter. Denn die dicht gedrängt stehenden Gäste vor der Bühne verlangten mit ihrem rhythmischen Klatschen auf die von ihnen vor grenzenloser Begeisterung in die Höhe gehaltenen Stühle nach Zugaben. Robert, der durch diese liebenswerte Zuwendung völlig außer Rand und Band geratene Sänger, präsentierte nun noch einmal und jetzt angeblich zum wirklich allerletzten Mal sein ganzes Sortiment an deutschen Schlagern. Alles, was er zu diesem Zeitpunkt nach bereits stundenlangem Gesang mit seinen Begleitmusikern noch so drauf hatte, erklang. Und das Publikum sog leicht mitzusummende Gassenhauer wie Tom Astors "Hallo, guten Morgen Deutschland" oder Gunter Gabriels "Mädchen ab 30…" so gierig in sich auf, als ob es sich um die letzte Vorstellung dieser Art handeln würde.

Diese prägnanten Szenen sorgten für den krönenden Schlussakkord meines Weihnachtsfestes 1987. Nicht irgendwo daheim in der damaligen DDR, sondern fernab in einem Dorf Siebenbürgens. Ein Glück, dass wir Ende 1987 spontan nach Rumänien gefahren sind und dieses einmalige Fest in Großau (rumänisch: Cristian) erleben durften.
Seit dem Jahr 1988 bereist der Autor regelmäßig ...
Seit dem Jahr 1988 bereist der Autor regelmäßig das siebenbürgische Großau bei Hermannstadt. Hier einige Momentaufnahmen aus den unterschiedlichen Jahren. Fotos: Roland Barwinsky
Im Sommer des Jahres hatte uns ein "Balkantrip", selbstverständlich standesgemäß zumeist per Anhalter, auf den Rückweg von Bulgarien auch nach Transsilvanien gespült. Von Kronstadt (Brașov) ging es mit dem Nachtzug bis nach Hermannstadt (Sibiu). Die dafür notwendigen Fahrkarten gab es im Tausch für das letzte sich noch im Reisgepäck befindliche Päckchen volkseigenen Kaffees der Marke "Rondo". Wie üblich diente der Bahnhof am Etappenziel als Schlafplatz. Am darauf folgenden Tag wurde die Europäische Kulturhauptstadt von 2007 begutachtet. Besser: Es ging in leicht verminderter Schrittfrequenz bis zum Stadtrand, um an der dortigen Piste weiterzutrampen. Mehrmals redeten uns auf den Weg dorthin, hilfsbereite Leute in klar verständlichem Hochdeutsch an. Außerdem wurden wir gebeten, doch noch etwas hier zu verweilen. Nur die Zeit dafür fehlte. Leider. Drei Wochen waren wir schon unterwegs und kamen bis kurz vor die türkische Grenze. Nach Budapest sollte es unbedingt auch noch gehen …

Im darauf folgendem Novembernebel reifte dann bei meinem Tourbegleiter Matthias, genannt "Zigeuner", und mir der Wunsch, doch da unten einmal ganz spontan Weihnachten zu verbringen. Natürlich ohne irgendeinen Ablaufplan. Umgehend wurden die Visa für den bevorstehenden Trip beantragt. Wir bekamen sie dann auch. Keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Denn das rumänische Brașov erlebte in jenen Wochen gerade die ersten Demonstrationen gegen das Regime von Nicolae Ceaușescu. Dieser, oft als "rote Vampir" bezeichnete Diktator, hatte im Laufe seiner Herrschaft ein übles Regime errichtet. Jeder, der sich mit offenen Augen umsah, spürte die besondere Apokalypse der dortigen Gesellschaft.

Am 22. Dezember 1987 setzten wir uns dann endlich in den Zug, der uns von Dresden bis hinein in jenes sozialistische Land brachte, das wir als besonders schrill einschätzten. Vor Ort entpuppte sich Rumänien schnell als idealer Tummelplatz für herumziehende Abenteurer. Gleich bei der Einreise in die herbeigesehnte Bakschisch-Republik bestätigte sich dies. Kurzerhand zog das Zugbegleitpersonal unsere angeblich unkorrekten Tickets ein. Wahrscheinlich mit der Hoffnung, dass wir diese später gegen Naturalien eintauschen. Danach tastete ich mich behutsam an eigene Vorräte in Form von Schokolade und Zigaretten heran. Und nach einem kleinen "Geschäft" gab es diese wichtigen Utensilien zurück.

Im Winter erschien uns auf den ersten Blick in diesem Teil des Balkans alles noch trostloser. Beispielsweise in Kleinkopisch (rumänisch: Copșa Mică), wo wir umsteigen mussten und einen durch die dortige Teerfabrik völlig ramponierten Ort sahen. Vorbei ging es danach an Frauendorf (rumänisch: Axente Sever), dem Heimatort der Vorfahren von Ex-Familienministerin Renate Schmidt. Schon eine halbe Stunde später durchstreifte ein mit hohen Erlebnisdurst ausgerüstetes Duo das Zentrum Siebenbürgens namens Hermannstadt, "Ja, in Großau wohnen Deutsche", sagte eine hilfreiche Stimme und gab uns Hoffnung, unsere Pläne umsetzen zu können.
Wenige Minuten später trug der voll ausgelastete Bus zwei Individual-Touristen dorthin. Angekommen am Ziel, wurde schnurstracks das erstbeste Haus am Straßenrand angesteuert. Es meldete sich nach kurzem Klingen eine äußerst erstaunte Frau. "Wer hat Sie denn im Dunkeln hierher getragen", fragte sie nicht unfreundlich. "Ein Zug. Wir wollen hier Weihnachten verbringen", erwiderten wir im Duett. Danach verstummte der Hofhund und die Frau führte uns ins Haus. Mehrere Generationen lebten hier unter einem Dach. Das wurde sofort klar, als wir in die behagliche Küche kamen. Eine alte Dame, die ganz dunkel gekleidet war und ein schwarzes Kopftuch trug, saß neben dem knisternden Ofen. Ihre Schwiegertochter, die uns gerade hereingebeten hatte, deckte derweil den Tisch. Ihr Sohn, der zurzeit seinen Wehrdienst leistete, war wegen dem bevorstehenden Fest gerade auf Heimaturlaub. Er begrüßte mit leicht geöffnetem Mund die urplötzlich von weither aufgetauchten Gäste. Und der eigentliche Hausherr köpfte nach der unangekündigten Überraschung am Tag vor Heiligabend die allerbeste Flasche seines selbsthergestellten Rakiu. Dies sei eine Art Wunderschnaps und das hochprozentige Getränk reinige den Körper und die Seele, meinte er.

Bescheiden, aber zugleich sehr einladend wirkte auf uns schon nach wenigen Augenblicken der bislang fremde Ort. An der Wand hingen buntbestickte Decken mit Schriftzügen wie "Siebenbürgen, süße Heimat" oder "Unser Gott ist eine feste Burg".

In ein paar Stunden würde man auch hier das Lied "Stille Nacht" singen, den Tannenbaum schmücken und sich gegenseitig beschenken, hieß es zu dem gereichten Kaffee und Kuchen. Überhaupt seien die Siebenbürger Sachsen stolz auf sich und ihre Traditionen, betonten unsere Gastgeber immer wieder. Im 12. Jahrhundert hatte sie der ungarische König Geysa II. als Kolonisten angeworben. Schnell erhielten die Neusiedler, ursprünglich aus dem Gebiet zwischen Rhein und Mosel, Westerwald und Luxemburg stammend, wegen ihrer Strebsamkeit allerlei Sonderrechte, erfuhren wir von dieser Familie. An die historische Herkunft erinnere vor allem der im Alltag verwendete Dialekt, der all die lange Zeit gut erhalten geblieben sei. Erst vor einigen Jahren begegnete ich einer Frau, die einen ähnlichen Dialekt sprach. Auf meine Frage, ob sie aus Rumänien sei, erwiderte sie prompt: "Nein, aus Luxemburg."

Johannes Honterus, ein Weggefährte Martin Luthers, reformierte 1547 die vorwiegend als Bauern sowie Handwerker tätigen Siedler am Fuße der Karpaten. Glaube und Heimatverbundenheit spielten dort sowieso stets eine wichtige Rolle. Dieser Eindruck verfestigte sich später bei dem Anblick der vielen Wehrkirchen, die es in den siebenbürgischen Orten gibt. Hinter deren dicken Mauern fanden in vergangenen Epochen oftmals ganze Dorfgemeinschaften äußerst effektiven Schutz vor ungebetenen Eindringlingen. Durch den Friedensvertag von Trianon kam 1920 ganz Siebenbürgen zu Rumänien. Einem Land, welches im Zweiten Weltkrieg erst an der Seite Nazideutschlands kämpfte und dann 1944 plötzlich die Seiten wechselte. Überraschend war das auch für die teilweise verblendeten und um ihre Identität ringenden Rumäniendeutschen, die sich teilweise freiwillig für den Dienst in Hitlers Truppen gemeldet hatten. Mit Deportationen und dem Verlust vieler vormaliger Sonderrechte musste diese Minderheit nach 1945 teuer für den Krieg zahlen. Aber mit ihrem kommunistischen Land, so meinten unsere Gastgeber, ging es seit Jahren ständig abwärts. Hier im Dorf wollten viele nur noch raus und für immer "nach Deutschland fahren", wie umgangssprachlich der Ausreisewunsch ausgedrückt wurde. Bei Wein, Gepäck und Kerzenlicht vergingen die Stunden im Nu. Nur: Privatübernachtungen waren im angeblich "sozialistischen Bruderland" nicht erlaubt.
Im letzten Bus nach Hermannstadt sprach uns ein junger Mann spontan an. "Sie sind doch nicht von hier. Haben Sie schon eine Übernachtung", fragte der sichtlich aufgewühlte Jugendliche. Ein Glücksfall in jeder Beziehung. Denn er, Robert, war der anfangs beschriebene Freizeit-Musikant und kam gerade von einer Probe. Angekommen in Hermannstadt, quartierte der damals 19-Jährige kurzerhand uns zwei Tramper, die kaum älter als er waren und dringendst eine Schlafstelle suchten, bei sich ein. Verbote interessierten ihn nicht. Er legte seine Lieblingsplatte mit Liedern von Peter Maffay auf. Der Sänger stammte aus Kronstadt und sei eindeutig der beste singende Siebenbürger überhaupt, meinte Robert.

Am Vormittag des 24. Dezember 1987 zeigte Robert den unverhofft angereisten "neuen deutschen Freunden" die siebenbürgisch-sächsische Metropole Hermannstadt. Abends erlebten wir in der völlig überfüllten Evangelischen Stadtkirche einen in Hochdeutsch gehaltenen Gottesdienst mit klaren Anspielungen und Aussagen über die damalige Situation in dem Ostblockstaat. Robert indes versprach seinen Gästen noch "eine ganz große Unterhaltung" in zwei Tagen.

Ein gutgelauntes Trio schlug sich deshalb am zweiten Weihnachtsfeiertag – noch bei Tageslicht und per Autostopp – bis in das rund zehn Kilometer von Hermannstadt entfernte Großau durch. Fahrzeuge fuhren übrigens einige, denn Weihnachten als offiziellen Feiertag gab es damals in Rumänien nicht. Angekommen im dortigen proppenvollen Kulturhaus, erwartete alle zunächst mehrere Programme mit Volks- und Weihnachtsliedern sowie Theaterszenen. Anschließend begann als absoluter Höhepunkt der Tanz. Ein Ereignis, welches erst am anderen Vormittag zu Ende ging. Völlig unbekannte Leute suchten jetzt mit dem auf sie durch ihr äußeres Erscheinungsbild ziemlich exotisch wirkenden Duett, also uns, umgehend das Gespräch. Sie reichten reichlich Wein und luden weit nach Mitternacht zu einer Brotzeit ein. "In München, wo jetzt einige meiner Anverwandten leben, gebe es so etwas auch", freute sich Hans Zoppelt auf dem Weg zu seinem Gehöft. Dort zeigte er uns voller Stolz den riesigen Weinkeller. "Das allergrößte Fass hebe ich für euch auf, wenn ihr noch einmal kommt", meinte der gastfreundliche Mann und öffnete dabei geschwind den Zapfhahn. Von Zoppelts Weinkeller ging es zurück auf den Saal.

Dort stieg die Stimmung von Minute zu Minute. Von Schlagersong zu Schlagersong sang das Publikum vereint lauter mit. Wir zwei befanden uns in einer Traumwelt. So etwas hatten wir in unserem gewiss nicht ereignisarmen Alltag noch nie erlebt.
Diese Erlebnisse sollten der Beginn einer ganz besonderen Verbindung werden. Bis zum Ende der DDR und auch danach zog es mich, oft mehrmals im Jahr, in dieses Land. Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter – das ganze Programm stand auf der Liste. Hervorzuheben ist dabei aus der Fülle der Abenteuer noch der Silvestertag 1988 mit einem spontanen Ausflug nach Liebling im Banat.

"Wir sei Schwobe, wir sei lustig Leut", hieß es da wie auf Kommando, als vier Rucksacktouristen an einem trüben Nachmittag ungefähr zehn Stunden vor dem Jahreswechsel das lokale Wirtshaus betraten. Die Herzlichkeit, die uns erwartete, ist kaum in Worte zu fassen. Der stellvertretende Bürgermeister, ein Banater Schwabe, lud das aus dem Nebel aufgetauchte Quartett prompt zu sich nach Hause ein. "Da schimpft meine Frau nicht so mit mir, weil ich zu spät aus dem Wirtshaus komme", frohlockte der Mann vorab auf dem Weg zu seinem Hof.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem damit einhergehenden blutigen Ende der Ceaușescu-Diktatur änderte sich in dem südosteuropäischen Landstrich schlagartig alles. Eine große Ausreisewelle der deutschen Siedler aus Transsilvanien begann und läutete das eher traurige Finale jahrhundertealter und sorgsam behüteter Traditionen ein. Erhalten geblieben ist eine ganze Reihe bei dem Auszug zurückgelassener Kulturgüter. Einige Leuchttürme, wie Kirchenburgen oder die Stadtzentren der Siebenbürger Sachsen, wurden inzwischen renoviert. Und selbst in den Dörfern können aufmerksame Besucher in ihrer Heimat verbliebene Siebenbürger Sachsen treffen.

Roland Barwinsky


TV-Sendung über Roland Barwinsky
„Mein Osteuropa: Alte Liebe“, Mitteldeutscher Rundfunk (mdr) vom 16.04.2016,
zu sehen in der ARD-Mediathek, 15 Minuten (verfügbar bis 16.04.2017)


Quelle: Mitteldeutscher Rundfunk Ungewöhnliche Geschichten einer alten, neuen Liebe - "Heute im Osten"-Reporter begleiten Ostdeutsche, denen die einstigen sowjetischen "Bruderstaaten" zur zweiten Heimat wurden.

„Seit den achtziger Jahren trampt Roland Barwinsky aus Thüringen regelmäßig durch Rumänien. Ihm öffnen sich nicht nur Autotüren, sondern auch die Herzen der Einheimischen.“

Schlagwörter: Weihnachten, Großau, DDR, Barwinsky

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