27. Juli 2010

Hellmut Seiler: Afrika

Hellmut Seiler gehört zu den Schriftstellern, die bei der Tagung am 7.-8. Dezember 2009 in München zum Thema „Deutsche Literatur in Ru­mänien im Spiegel und Zerrspiegel der Securitate-Akten“ über ihre eigene Akte berichteten. Er hat diesen „Zerrspiegel“ in seiner eigenen Biografie erlebt. 1953 in Reps geboren, studierte er Germanistik und Anglistik. Als systemkritischer Autor erhielt er 1985 Berufs- und Publikationsverbot. 1988 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland um. Heute lebt er in Remseck am Neckar und ist Lehrer an der Kaufmännischen Schule in Backnang. Er ist Mitglied im Schriftstellerverband (P.E.N. – Zentrum deutschsprachiger Länder), der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Künstlergilde Esslingen.
Afrika

Dor wil ech uch iest! Gedärer
mät afgerässene Mellern stohn
un der Stroß; wonn em se frocht,
schnappe se za; riëde kenne

se net, awer villecht mät dem Hieft näcken:
mhm! Und Oaer bekitt em do, net wohr?
De Pursche gohn un Iestern de Medcher
besprätzen, dun beku se farwich Oaer!

De Omi hot do en Ruin, dä rijelt
se änj feest za, denn de Polizoa
äs sihr gefehrlich und stillt alles.
Kendj warde gestuehlen, datt se äm Geeld

bärrlen, net wohr? Und de Legt wällen
änt Gefingnes. Se erleichtre sich äm Stohn
end flachen derbä. Zefleddert Schenj
brähn än der Noocht zwäschen ären Zonjden.

Net wohr?

Moßnohme keen det Elend

I.
Et äs net genach, de Durschtijen
ze besäcken, de Kronken
unzezähn, de Hangrijen
zazedäken und den Nackten
ze dränken uch ze eßen ze giën –

Mer sile rahich en Schrätt wekter gohn
und deen zem Erbreeche vole Leiwern
än ären hihmodesche Kleddern,
af hihem Roß, än däcke Karossen,
af äre Jachten uch Bällen
iefach ohne Bedinke salwstlis – hälfen!

II.

Et stämmt: Den Bedärftijen
wid äst Wiërtvolet geschinkt:
Afmerksemket.
Äm en änt Shäp
ze greifen.

Hellmut Seiler ist Lyriker, Übersetzer und Sati­riker. Zum Satiriker macht ihn, dass er in manchen seiner Gedichte den Spiegel der Zeit in mit­unter recht bissiger Weise als „Zerrspiegel“ ent- larvt. So auch in den beiden hier abgedruckten Gedichten. Zum Beispiel Afrika: Wie kommt ein Kind zu so abstrusen Vorstellungen über das Le­ben in einer Welt, die so ganz anders ist als die Welt, in der wir leben? Vielleicht aus Erzählungen oder gar einem Besuch in früher Kindheit bei der „Omi“, die „en Ruin“ (= Ruine, hier vielleicht: baufälliges Bauernhaus) bewohnt. Und wo mag das dann gewesen sein?

Der „Zerrspiegel“ ist aber viel umfassender. Er gilt auch für den Umgang mit der Armut – in der Welt und auch in Deutschland! Widersinnig, wie die Logik des Dr. Eisenbart: „Kann machen, dass die Lahmen sehn, und dass die Blinden wie­der gehen“, so sinnlos ist die Hoffnung, durch Hilfsmaßnahmen die Welt verändern zu können. Der wahre Grund der Armut liegt anderswo. Stichwort: Benutzung des Mitmenschen als Quel­le eigener Bereicherung. Nur dann wird der Ar­me wahrgenommen, wenn man glaubt, ihm auch sein Allerletztes aus der Tasche holen zu können. Denen, die so denken und handeln, sollte „sächsisch geholfen“ werden: „Mer wallen ich halfen!“, das heißt: „Wir wollen es euch schon zeigen!“ Satirische Gedichte sind nicht schön, weil sie unschöne Seiten unserer Wirklichkeit aufzeigen. Sie können aber gerade dadurch zu einem bewussteren Umgang mit der Welt, in der wir leben, führen.

Hanni Markel und Bernddieter Schobel

Schlagwörter: Mundart, Lyrik

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