9. April 2012

Nachdenken zum Frühlingsbeginn – zwei Gedichte von Oswald Kessler

Die Kälte des Winters ist vorbei, die Natur erwacht, alle Blumen fangen an zu blühen: Der Frühling gilt als eine der fröhlichsten Zeiten im Jahr. Bernddieter Schobel stellt zwei Mundart-Gedichte des Siebenbürgers Oswald Kessler vor, in denen dieser den Frühling im Gegensatz zur allgemeinen Einstellung erstaunlich nüchtern betrachtet.

Ufung

Hetj setj et mer esi ois,
wai wunn ändlich det Fraihgohr hai wer.
Der Dooch äs lenker,
et äs nämmih esi dånkel,
wunn ich ois der Årbet hiemekunn.
Na fåindjen ich mich zwäschen Zäjjen
uch Bahnhiefe beßer zeriëcht.

Ä menger „Hiemetstådt“ stoh Biem,
dai mer fremd sen: Dånnen, Erlen, Båchen.
Ierest, äm Abekunten, giht de Sånn uewen,
wiëhrend det blolächtich Miërteshüiren de Nuecht erbairefft.
Speter soot et ålle Stångden un.

Derhiem sätzen ich mich un de Mättochdäsch.
Ois enem Uģwänkel
sahn ich schreech kem Telefon.
Dot åwer schwecht iejesännich.
Ålle as Frängd kennen as Nummer;
wunn ändlich emmest urefft, äs et en Fremder,
die folsch gewiëhlt hot;
Zetj hu mer füir näst,
und dennich äs se guunz läddich.
Hoffentlich vergiht se uch esi.

Landsberg um Lech, 1990

Hiemet, ångder gewässen Åmständen

Hiemet
ku füir mech
ångder gewässen Åmständen
sihr Wennijet sen;
zem Baispäll en Feeldwiëch,
en Buum um Feeldwiëch,
odder e Wiseruund.
De ienzich Bedåingung äs dai,
et soll ammeränk nichen Autobahn roischen.
Wunn dot net meglich äs,
kun Hiemet noch en Lied sen,
odder en Gedicht, und
siel ich ångder desen Åmständen
uch dai vergeßen hun,
blëiwst lezten Oindjes
noch TA!

Landsberg um Lech, 1994

Der Autor erlebt den Beginn des Frühjahrs mit befremdlicher Nüchternheit: Aus der Nachtschicht nach Hause gehend, empfindet er das heller werdende Morgenlicht als Erleichterung. Doch es schwingt eine weitere Ernüchterung mit. Dem Nachhause gelingt es nicht, ein Daheim zu werden. Zu vieles steht dem entgegen: Ja, auch das Fehlen der geliebten heimatlichen Natur. Schwerer wiegt jedoch der Verlust jener Wärme, die uns als gewachsene Zwischenmenschlichkeit das Gefühl von Heimat vermitteln kann. Ausgerechnet diese heimatliche Wärme ist abhanden gekommen. Nicht so sehr durch geographische Trennung, schließlich verfügen wir ja über ausgezeichnete Kommunikationsmöglichkeiten. Schuld ist vor allem die Vereinnahmung durch einen vordergründig auf Profitmaximierung und äußeren Erfolg ausgerichteten Zeitgeist, in dem menschliche Werte immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheinen. Dies empfindet der Autor als soziale Kälte. Manchem Spätaussiedler, vor allem der älteren Generation, dürfte eine derartige Erfahrung nicht unbekannt sein.

Oswald Kessler verbringt jeden Sommer längere Zeit in seiner Heimatgemeinde Kerz. Dort lässt er seine Seele wieder richtig Heimat atmen. Und hoffentlich schreibt er dabei auch neue Gedichte. Wir sind gespannt.

Die Gedichte „Ufung“ und „Hiemet, ångder gewässen Åmständen“ wurden entnommen dem Band von Oswald Kessler, Elisabeth Kessler, Wilhelm Meitert: „Af deser Ierd als Gast derhiem. Gedichte in siebenbürgisch-sächsischer Mundart“. München: Selbstverlag, 1996, S. 39 u. 46.

Zu Oswald Kesslers Biographie und seinem Beitrag zum Zustandekommen regelmäßiger Mundartautorentreffen in Deutschland vgl. Siebenbürgische Zeitung, Folge 9 vom 15. Juni 2008.

Bernddieter Schobel

Schlagwörter: Mundart, Gedicht

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