1. Juni 2015

Christoph Hammer: Identität stärkt interkulturelles Zusammenleben

„Identität gibt uns die Fähigkeit, in schwierigen und schier ausweglosen Situationen zu überleben“, unterstrich der Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Dinkelsbühl, Dr. Christoph Hammer, in seiner Ansprache bei der Eröffnung des diesjährigen Heimattages. Dies gelte für die Überlebenden der Russlanddeportation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ebenso wie für das interkulturelle Zusammenleben heute. Die seit Längerem nicht mehr weiterentwickelte Städtepartnerschaft von Dinkelsbühl und Schäßburg „angesichts der schwierigen und komplizierten politischen Situation in der rumänischen Partnerstadt“ sprach Dr. Hammer appellativ an in seiner Rede, die im Folgenden ungekürzt wiedergegeben wird.
Zum 12. Mal seit ich Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Dinkelsbühl bin, rufe ich Ihnen zu: Sehr geehrte Ehrengäste, sehr geehrte Damen und Herren – mit euch kann man gut alt werden -, ich freue mich, Sie in der historischen Schranne willkommen zu heißen. Es ist eine hohe Ehre für unsere Stadt, dass Sie sich zu uns bekennen und seit 65 Jahren zu Pfingsten in Ihre Hauptstadt pilgern, der schönsten Innenstadt Deutschlands.

Besonders begrüße ich Bürgermeister Paul Beitzer sowie die anwesenden Stadträte, Herrn Kurt Unger, Stellvertretender Landrat des Landkreises Ansbach, Herrn Norbert Kartmann, Präsident des Hessischen Landtags, Herrn Dr. Peter M. Boehm, Stellvertretender Außenminister Kanadas, Herrn Sergiu Nistor, Präsidialberater von Staatspräsident Klaus Johannis in Bukarest, Staatssekretär Thorsten Klute, Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Seine Exzellenz Werner Hans Lauk, Botschafter der Bundesrepublik in Bukarest, Frau Adriana Stănescu, Geschäftsträgerin ad interim der Rumänischen Botschaft in Berlin, Herrn Anton Niculescu, Generalkonsul Rumäniens in München, Herrn Dr. Paul-Jürgen Porr, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, Herrn Dechant Heinz Dietrich Galter aus Hermannstadt, in Vertretung des Bischofs der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien Reinhart Guib, Herrn Hofrat Volker Petri, Bundesvorsitzender des Bundesverbandes der Siebenbürger Sachsen in Österreich, mit Gattin, Herrn Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch, Vorsitzender des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrats e.V. sowie den Gründer und Namensgeber seiner Stiftung, Herrn Dipl.-Ing. Michael Schmidt. Ich begrüße weiter die Vertreter der Siebenbürgischen Verbände und Gemeinschaften, allen voran Herrn Bundesvorsitzenden Dr. Bernd Fabritius; auch als Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Liebe Gäste, „Identität lohnt sich“ lautet das Motto des diesjährigen Heimattages. Lassen Sie mich dieses Motto genauer betrachten. „Identität“ kommt aus dem Lateinischen. Das Wort „idem“ heißt übersetzt „dasselbe“. Die Wortbedeutung geht somit davon aus, dass eine Person, ein Personenkreis oder ein Kulturkreis sich selbst als gleich empfindet. Die eigene Identität bildet sich dadurch aus, dass Personen kontinuierliche innere und äußere Merkmale haben, sich in der Öffentlichkeit gleich darstellen und in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle einnehmen. Jeder Mensch braucht Identität. Nur mit einer gewissen Identität können sich Lebewesen wohlfühlen. Sie brauchen Identität auch, um sich nach außen hin der eigenen Grenzen und Rechte bewusst zu sein. Besonders in einer kollektiven Form kann Identität in Krisensituationen, bei Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung helfen, Stärke und Rechte zu wahren und zum Ausdruck zu bringen.


Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer hält seine ...
Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer hält seine Ansprache bei der Eröffnung des Heimattages. Foto: Lukas Geddert
Als zehntausende Deutsche aus Rumänien im Januar 1945 in die Sowjetunion verschleppt wurden, erlitten die Menschen schlimme Schicksale. Auf Basis ethnischer Kriterien hatten die Sowjets als Reparation für die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs rund 75 000 Rumäniendeutsche, darunter über 30 000 Siebenbürger Sachsen, aus ihren Familien und ihrem Lebensumfeld gerissen und ins Ungewisse verschleppt. Sie kamen vorwiegend in die Ukraine und in den Kaukasus. Die Gefangenen mussten in Bergwerken und in der Schwerindustrie malochen. Knapp 12 Prozent der Deportierten verloren während der Deportation in der Sowjetunion ihr Leben. Schafft ein Lebewesen ein solches Schicksal ohne Identität? Identität lohnt sich. Identität gibt uns die Fähigkeit, in schwierigen und schier ausweglosen Situationen zu überleben. Identität lohnt sich.

Identität ist wie eine Wurzel, die uns am Leben hält. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig hat einmal gesagt: „Wer seine Wurzeln nicht kennt, kennt keinen Halt.“ Wurzeln geben uns Halt und sie versorgen uns mit Lebenssaft. Wir dürfen nicht entwurzeln.

Wir können uns immer wieder an der Wurzel der Vergangenheit festhalten. Dort in der Vergangenheit, in der Geschichte unserer Vorfahren, unserer Familien und deren Lebenswelt und Schicksale finden wir Identität und Wurzeln. Wenn wir wissen, was in der Vergangenheit geschah, können wir in Generationen leben und können mit Menschen anderer Kulturkreise und Länder zusammenleben.

Für dieses interkulturelle Zusammenleben müssen wir lernen, dass die eigene Identität und die kollektive gesellschaftliche Identität zwar unseren Wurzeln Halt geben, dass es aber in einer zunehmend globalisierten Welt eine neue Identität geben wird. Europa und die Welt rücken durch politische Verbünde und durch die Digitalisierung stärker zueinander. Aber wir dürfen uns nicht nur auf dem Papier oder dem Computer annähern, sondern wir Menschen müssen uns mehr denn je kennenlernen, voneinander lernen und miteinander kommunizieren. In dem einen Europa und auf der einen Welt brauchen wir nicht nur die eigene Identität und die Identität unserer alltäglichen Heimat, wir brauchen eine neue Identität.

Wie können wir das schaffen? Wie können wir Klischees und Vorurteile, die wir leider immer noch allzu oft voneinander haben, ausräumen? Ich habe schon gesagt, dass das gegenseitige Kennenlernen dazu beiträgt. Lassen Sie mich noch einen Schritt weiter gehen. Wir müssen uns gegenseitig nicht nur kennen, sondern auch vertrauen. Vertrauen baut Misstrauen ab, ist die Basis für Freundschaft, Sicherheit und Zusammenarbeit und damit die Grundlage für ein friedliches Miteinander – auch in Krisenzeiten. Und das ist wichtiger denn je. Zwar sind wir sozusagen noch „im grünen Bereich“, aber wir müssen zunehmend feststellen, dass die friedliche Welt und das friedliche Europa ein fragiles Konstrukt sind. Bei weiten Teilen der Zivilbevölkerung herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg die Einstellung vor: nie wieder Krieg. Doch immer wieder lösten und lösen ethnische, religiöse und vor allem schwere ökonomische Probleme Konflikte aus und haben zu teils auch schwer bewaffneten Auseinandersetzungen geführt. Trotz zahlreicher politischer Friedensbemühungen, gemeinsamen Rüstungskontrollen und vertraglicher Vereinbarungen und Abkommen zwischen Ländern fanden vor allem in den Ländern der Dritten Welt unmittelbar in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkrieges bereits wieder Kriege statt. Eine Reihe davon waren Stellvertreterkriege, wie der Koreakrieg, der Vietnamkrieg sowie zahlreiche Konflikte in Afrika und Lateinamerika. Die Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens führte Anfang der 1990er Jahre zu weiteren Kriegen, auch direkt in unmittelbarer räumlicher Nähe zu uns. Nicht zuletzt seit dem Golfkrieg der USA und den Falklandkriegen Großbritanniens sowie den Terroranschlägen am 11. September 2001 wird Krieg nun auch in Europa leider von manchen wieder als Mittel zum Erreichen legitimer Ziele angesehen. Negativ prägend für uns alle sei hier der Konflikt in der Ukraine genannt.

Unsere Aufgabe als Politiker und auch als Teil der Gesellschaft ist es, noch vor einem Konflikt und vor dem Entstehen von Ungerechtigkeit zu handeln. Wir müssen nicht nur die Folgen bekämpfen, sondern die Ursachen erkennen. Ebenso gehört zu einem stabilen Miteinander, dass wir aufeinander aufpassen, uns zuhören und helfen.

Nicht immer sind politische Situationen und Verwaltungsstrukturen so einfach, als dass uns das gelingen mag. So sind aufgrund einer höchst unzufriedenen politischen Situation die Kontakte von Dinkelsbühl nach Schäßburg äußerst schwierig. Es ist sehr bedauerlich, dass in der wunderschönen Stadt und für deren Bürgerinnen und Bürger derzeit nur eingeschränkte Rechtsstaatlichkeit herrscht. Dabei wären uns die zwischenstädtischen Beziehungen sehr wichtig.

Am 24. Juli 2001 beschloss der Stadtrat von Dinkelsbühl freundschaftliche Beziehungen mit der Stadt Schäßburg, rumänisch Sighișoara, in Siebenbürgen aufzunehmen. Fünfzig Jahre nach dem ersten Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl wurde auf diese Weise wieder eine Brücke zurück in die alte Heimat der Siebenbürger Sachsen geschlagen. Im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung mit dem Bundesvorstand der Siebenbürger Sachsen in Deutschland beschloss der Stadtrat von Dinkelsbühl am 4. November 2005 einstimmig, eine Städtepartnerschaft mit Schäßburg/Sighișoara einzugehen. Auch in der Partnerstadt war ein entsprechender Beschluss gefasst worden. Die Freundschaft zwischen Ländern, Städten und Bevölkerungsgruppen wird nicht nur von Staatsmännern und symbolischen Gesten gestaltet, sondern vor allem von Bürgerinnen und Bürgern getragen. Der Freundeskreis Dinkelsbühl-Schäßburg hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Partnerschaft auf allen Gebieten zu unterstützen und mit Leben zu füllen. Eine Aufgabe, die angesichts der schwierigen und komplizierten politischen Situation in der rumänischen Partnerstadt derzeit schier unmöglich ist. In der rumänischen Politik ist es derzeit so, dass wenn eine Bürgermeisterstelle „vakant“ wird, dann müssen die Neuwahlen durch Regierungsbeschuss festgesetzt werden. Nach derzeitigen Sachstand ist es wohl so, dass es bis zum regulären Wahltermin im Mai 2016 keine Bürgermeisterwahlen geben wird. Es fehlen somit Kontaktpersonen und Ansprechpartner in Politik und Verwaltung. Lediglich Stadtpfarrer Hans Bruno Fröhlich hält uns dankenswerterweise auf dem Laufenden. Es ist schade, ja es tut weh, dass alles, was als so gute Partnerschaft begonnen hat, nun so schwer ist, umzusetzen. Es war und ist das Ziel, sich in erster Linie kulturell, aber auch wirtschaftlich und in der Bildungspolitik auszutauschen. Es war und ist das Ziel, voneinander und miteinander aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft zu lernen. Und es war und ist das Ziel, einander zu vertrauen und Freundschaften zu schließen. Freundschaften mit einem wunderschönen Land. Sehr geehrte Damen und Herren, Ihr Land beeindruckt und bewegt.

Wehrkirchen und Kirchenburgen prägen auch heute noch das siebenbürgisch-sächsische Siedlungsgebiet. Eine kulturhistorische Bausubstanz, die es zu erhalten gilt. Für den Erhalt wurde viel geleistet. Beeindruckt bin ich 2011 von der Fahrt nach Rumänien gemeinsam mit den Stadträten zurückgekehrt. In den Städten wie Schäßburg sind viele Fassaden renoviert und neu gestrichen. Am Straßenrand sind Blumen gepflanzt. Altertümliche Gassen geben ein herrliches Bild. Die Landschaft des stark gegliederten Hügel- und Berglands in Siebenbürgen ist uns ans Herz gewachsen. Ein unverwechselbares Gesicht hat der Karpatenbogen.

Allerdings sind wir auch besorgt darüber, wie viele historische Gebäude, insbesondere auch Kirchen, leer stehen und dem Verfall preisgegeben sind. Sie, liebe Siebenbürger Sachsen, sind Zeitzeugen einer bewegenden Vergangenheit dieser Region. Dies schmerzt Sie und uns umso mehr, nun die Leere zu sehen und zu erleben. Leider derzeit auch eine gewisse Leere in der Politik und Verwaltung in vielen Städten und Kommunen Rumäniens. Sehr gerne würden wir die zehnjährige Partnerschaft Dinkelsbühl – Schäßburg nächstes Jahr feiern. Wir hoffen, dass sich das Engagement Schäßburgs für die Partnerschaft wieder steigert bzw. steigern kann und die Kommunikation mit unserer Partnerstadt die nächsten Monate intensiviert wird, so dass wir es schaffen, gemeinsam Feierlichkeiten in die Wege zu leiten.

Im Juni 1949 wurde der Verband der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in Deutschland gegründet und kurz danach als 58. Verein in das Münchner Vereinsregister eingetragen. Es ist die Interessenvertretung der aus dem Siedlungsgebiet im heutigen Rumänien Geflohenen oder Vertriebenen. An Pfingsten 1951 fand der erste Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl statt. Die alte historische Stadt mit ihren Toren und Türmen erinnerte wohl viele an die wehrhaften Städte und Dörfer Siebenbürgens.

Inzwischen haben 65 Heimattage Dinkelsbühl zu einem der Mittelpunkte siebenbürgisch-sächsischen Lebens in Deutschland werden lassen. Auch heuer wartet an den Heimattagen auf alle Besucher aus nah und fern ein vielfältiges Programm. Tanzveranstaltungen, Sportturniere, Ausstellungen, Buchpräsentationen, Musikkonzerte, Brauchtumsveranstaltungen, Gottesdienste, Trachtenumzug, Kundgebung und selbstverständlich die Gedenk- und Festveranstaltungen.

Am 25. Mai 1985 vereinbarten die Stadt Dinkelsbühl und die Landsmannschaft während des Pfingsttreffens eine Partnerschaft mit dem Ziel, „die gewachsenen Beziehungen zu festigen und zu fördern“. Rückblickend kann man freudig verkünden: „Das Ziel ist uns allen bestens gelungen.“ Auf 30 Jahre Partnerschaft Dinkelsbühl – Siebenbürger Sachsen können wir bei diesen Heimattagen zurückblicken. Eine Identität, die sich gelohnt hat und die sich lohnt.

Ich grüße euch nunmehr als unsere Freunde. Ich wünsche ein harmonisches Gelingen der Festtage, einen angenehmen Aufenthalt und viel Freude beim Wiedersehn. Die Stadt sei Euer.

Schlagwörter: Heimattag 2015, Dinkelsbühl, Eröffnung, Christoph Hammer

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