8. Juni 2016

Freunde

Besprechung des Romans "Alle Eulen" von Filip Florian. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht, Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2016, 213 Seiten, Hardcover (bedruckter Schutzumschlag), 19,90 Euro, ISBN 978-3-95757-221-9
Den Auftakt des Romans bildet ein „stummer, überwältigender Winter“: Der Schnee erdrückt Sträucher und biegt Zweige herab, ohne jedoch irgendetwas zu zerstören. Ein idyllische Karpatenlandschaft, in der der elfjährige Luci und sein Freund Sandu, assistiert von Hund Zuri, auf eine geniale Geschäftsidee kommen: das Hoftor des Gehöfts von Lucis Eltern am Ortsrand und in Waldnähe zu öffnen und müde Wanderer für den Durchgang zur Kasse zu bitten. Denn die beiden wissen: Gerne lassen sich Touristen immer wieder mit der Seilbahn bis zum Strâmba-Sattel hinauffahren, genießen alsdann in der Berghütte ihren Glühwein, Tee mit Rum oder Kaffee und beschließen voller Optimismus, den abschüssigen Weg ins Tal zu Fuß zurückzulegen, scheint doch von oben die Kleinstadt am Fuße der Karpaten nur einen Steinwurf weit entfernt zu sein. Unvorhersehbar sind jedoch Schneeverwehungen, Wind und Wetter, die so manch einen übermütigen Wanderer überraschen. Und dann ist jede Abkürzung willkommen – koste sie, was sie wolle.

Die Kasse von Luci und Sandu füllt sich. Doch dem munteren Treiben bereitet der Seilbahn-Mechaniker Ene Tirilici ein Ende: Geschwollene Wangen und krebsrote Ohren sind das Resultat. Rettend greift ein älterer Passant ein – Luci meint, er habe es „mit einem Geist zu tun“. Doch der Schutzengel ist aus Fleisch und Blut und heißt Emil.

Emil nimmt Luci zu sich nach Hause. Während Lucis Kleidung trocknet, erzählt Emil, angestiftet vom neugierigen Blick seines jungen Gastes, dass er gerade erst seit einem Tag in der Kleinstadt am Rande der Karpaten angekommen sei. Eine Menge Medikamente sieht Luci herumliegen, viele unausgepackte Kisten und Bücher. Die Bücher ziehen den Jungen magisch an. Sie haben Vögel zum Gegenstand – die meisten handeln von Eulen. Luci folgert darauf prompt, sein neuer Freund, der „Herr um die sechzig“, der ihm in der Küche einen Tee zubereitet, müsse ein weiser Mann sein, und hofft, durch ihn „alle Dinge unterm Sternenzelt“ kennenzulernen. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Freundschaft.

Ein Junge findet seinen Meister, der ihn lehrt, „im Dunkeln zu sehen“. Dem rumänischen Schriftsteller Filip Florian, der im deutschen Sprachraum seit dem Roman „Kleine Finger“ (2008) bekannt ist und zum zweiten Mal von Georg Aescht kongenial ins Deutsche übersetzt worden ist, gelingt nicht nur die Rekonstruktion einer zarten Freundschaft: Florian erzählt auch die Vergangenheit Emils, eines Bauingenieurs, der im Jahr 1940 geboren ist. Dem Prinzip, „die Wahrheit zu umarmen, sie zu streicheln und zu liebkosen“, folgt die Logik beider Geschichten. Die Geschichte der ungewöhnlichen Freundschaft ist unbeschwert und leichtfüßig – Spaziergänge werden unternommen, Eulen beobachtet und gefüttert, es wird Tee getrunken und erzählt. Mit der anderen, mit Emils Geschichte jedoch tauchen wir in die schmerzhafte Nachkriegsvergangenheit Rumäniens ein – eine Geschichte voller Leid und Repressionen, die von Enteignung und Entrechtung Zeugnis ablegt.

Emils Großvater, Besitzer eines berühmten Juweliergeschäfts in der Calea Victoriei in Bukarest, landet infolge der sogenannten sozialistischen Säuberungsmaßnahmen im Arbeitslager und Gefängnis. Emils Vater, Gymnasiallehrer, ergeht es nicht anders – wegen „staatsfeindlicher Umtriebe“ kommt er ebenfalls hinter Gitter. Der Großvater hat Glück und wird früher als der Vater entlassen: Eine „göttliche Diva“ kommunistischen Bekenntnisses findet am Schmuck mindestens so viel Gefallen wie an der roten Fahne, wenn nicht mehr. Nach seiner frühzeitigen Entlassung verliert der rumänische Staatssicherheitsdienst (Securitate) den Großvater nicht aus den Augen.

Trotzdem wird es ihm gelingen, nebst den Juwelen, die er für die Diva fabriziert, seinem einstigen Zellengenossen N. ein einmaliges Geschenk anzufertigen – ein mit kostbaren Edelsteinen versehenes Buch mit der schönsten Lyrik (das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shonagon, die „Duineser Elgien“ von Rainer Maria Rilke, „Auf das Leben der Madonna Laura“ von Petrarca und den Balladen von Francois Villon). N. übersteht die Haftzeit, da er „in drei Richtungen blickte, in sich selbst, in die konkrete Wirklichkeit und in die Wirklichkeit, die nicht mit Händen zu greifen war“; der schwer lungenkranke Großvater überreicht seinem Gefährten sein Lebenselixier: den Lyrikband.

Erst mit 23 Jahren wird Luci die Geschichte seines Freundes verstehen: Emil überlässt ihm im August 2011 ein Heft mit autobiographischen Notizen und verschwindet. Wohin er verschwindet? „Alle Eulen“ wissen das, der Leser ahnt es bloß.

Ingeborg Szöllösi

Alle Eulen
Filip Florian
Alle Eulen

Matthes & Seitz Berlin
Gebundene Ausgabe
EUR 19,90
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Schlagwörter: Rezension, Roman

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