23. Dezember 2022

Das versöhnliche Licht einer Adventsflasche

Willst du, lieber Leser, die Geschichte meiner Adventsflasche hören? Falls ja, komm bitte etwas näher heran und schau sie dir genau an. Es handelt sich um eine Literflasche, die mit sieben Sternen verziert ist. Verschlossen ist sie mit einem beigefarbenen Plastik­stöpsel, an dem zehn klitzekleine LED-Lichter hängen. Betätigst du den kleinen Schalter, der sich ebenfalls am Verschluss befindet, erstrahlt sofort ein mildes und warmes Licht. Alles in allem nichts Spektakuläres und trotzdem hat diese Flasche für mich eine enorm große Bedeutung. Weshalb? Ich erzähle es dir.
Die heilende Kraft des Lichts. Foto: Susanne ...
Die heilende Kraft des Lichts. Foto: Susanne Karres
Es war der 11. Dezember 2021, als über Radio und Fernsehen erneut Nachrichten verbreitet wurden, die nichts Gutes versprachen. Eine neue Corona-Variante ist im Anmarsch. Vierte Welle. Das Virus macht keine Pause. Omikron noch viel ansteckender als Delta. Boostern, Boostern, Boostern! Ich konnte und wollte davon nichts mehr hören. Wann hörte der Spuk auf? Fast zwei Jahre hatte ich alles gelassen hingenommen, streng die Hygienemaßnahmen befolgt, war zweifach gegen diese Seuche geimpft, nur um nun festzustellen, dass das Horrorszenario einfach weiterging. Meine Seele schrie nach positiven Signalen. Ich sehnte mich nach einer Aufmunterung, und sei sie noch so klein.

„Komm und lass‘ uns einen Spaziergang machen und die weihnachtlich geschmückten Häuser unseres Ortes bewundern!“, bat ich meinen Mann, der missmutig mit der Fernbedienung herumhantierte und gelangweilt von einem Kanal zum anderen wechselte.

Langsam schlenderten wir durch den kleinen unterfränkischen Stadtteil, der sich überraschend festlich herausgeputzt hatte. Auf dem Fenstersims des Nachbarhauses erblickte ich kurze rote Ski und daneben winzige Schlittschuhe, die zusätzlich mit Tannenwedeln und roten Weihnachtskugeln geschmückt waren. Ja, Gina besaß einen ästhetischen Sinn. Sie beschäftigte sich mit vielen schönen Dingen und liebte das Exklusive. Zwei Häuser weiter entdeckten wir – in einem mit feiner Spitze umhüllten Einmachglas – ein Teelicht, das sich munter und entschlossen der Dunkelheit widersetzte. Weiter unten ein wunderschön geschmücktes Tor, auf dem eine in Licht getauchte riesengroße 4 zu sehen war. Drei aus Birkenholz geschnitzte Weihnachtsmänner, Tannenzweige, ein Schlitten und ein Rentier vervollständigten das Bild. Am Sonnenstuhl waren es die sieben Zwerge, die mit ihren leuchtenden Laternen meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Ich freute mich über die Kreativität der Menschen und über ihre Entschlossenheit, sich trotz aller Widrigkeiten auf ein schönes Weihnachtsfest vorzubereiten.

Recht langsam fiel die Lethargie von mir ab und ich verspürte sogar so etwas wie weihnachtliche Vorfreude. Beschwingt verließen wir die Sankt-Georg-Straße, gingen die Pfaffensteige entlang und gerieten durch ein schmales Gässchen in die Dietwarstraße. Oh, da staunte ich, denn dort ging es ziemlich lebhaft zu; ein eher seltenes Phänomen in unserem sonst stillen Viertel. Junge Familien strömten mit Kind und Kegel alle in dieselbe Richtung. Was war da los?

„Sie gehen in die verkehrte Richtung!“, rief uns eine etwa sechzigjährige Frau zu. „Kommen Sie! Kommen Sie mit!“, wiederholte die Frau, die inzwischen vor uns stand und uns in kurzen Sätzen erklärte, die Frauen der katholischen Pfarrgemeinde hätten beschlossen, in diesem Jahr einen „lebendigen Adventskalender“ zu organisieren. „Jeden Abend trifft man sich vor dem Haus oder Hof einer anderen Familie, singt gemeinsam bekannte Lieder, trinkt einen heißen Weihnachtspunsch oder lauscht einer spannenden Weihnachtsgeschichte. Den heutigen Abend hat meine Schwiegertochter vorbereitet. Kommen Sie! Es geht gleich los.“

Nette Idee, dachte ich und sah meinen Mann fragend an. Doch dann war ich diejenige, die zögerte. Kleinlaut gab ich zu, wir seien evangelisch, nicht katholisch und würden uns deshalb nicht recht trauen, an dieser Aktion teilzunehmen. Was? Stammte dieser Unsinn von mir? Ich fasste es nicht! Hatte ich nicht stets behauptet, Gott sei weder evangelisch noch katholisch, er stehe über allen Religionen und nur die törichte Menschheit habe diese unnötige Unterteilung vorgenommen? Und jetzt diese absurde Äußerung?! So ein Stuss! War ich noch zu retten?

„Papperlapapp, evangelisch oder katholisch, das spielt doch heute keine Rolle mehr. Sehen Sie mal, wir sind evangelisch, aber meine Schwiegertochter katholisch. Na und? Das interessiert doch heutzutage keinen mehr“, fuhr die quirlige Frau fort. Es war schön das zu hören, aber stimmte es auch?

Wir wohnten bereits seit über dreißig Jahren in diesem Ort, direkt neben der katholischen Kirche, und trotzdem hatte ich manchmal noch ein beklemmendes Gefühl, wenn es um die Konfessionsfrage ging. Lag es an mir oder an diesen verdammten Sätzen, die uns kurz nach dem Hauskauf an den Kopf geschleudert wurden? „Was? Sie sind evangelisch und trauen sich in einem erzkatholischen Ortsteil ein Haus zu kaufen? – Vor ein paar Jahren hätte man Sie dafür gesteinigt. Das ist eine Beleidigung der alteingesessenen, katholischen Einwohner und kommt einer Gotteslästerung gleich.“

Wie bitte? Steinigung? Gotteslästerung? Mir fiel die Kinnlade hinunter. Was für eine gewaltige Äußerung! Tief verletzt suchte ich im verstaubten Archiv meines Gehirns nach einer adäquaten Antwort. Vergebens! Mein Gehirnkasten streikte.

Hatten wir Menschen des 20. Jahrhunderts solch merkwürdige Vorurteile anderen Konfessionen gegenüber nicht längst hinter uns gelassen? Lebten wir nicht in einer modernen Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt füreinander geprägt war? Ich hatte lange, lange an dieser Aussage zu knabbern, letztendlich aber beschlossen, die beleidigende Äußerung als gedankenlosen Schwachsinn aus meinem Kopf zu verbannen.

Mist! Und jetzt tauchten diese giftigen Sätze unangemeldet wieder auf. In meinem Schädel lief ein Programm ab, auf das mein rationaler Verstand keinen Einfluss hatte. Emotionale Turbulenzen kündigten sich an. Nein!!! Es war Adventszeit. Wir bereiteten uns auf das Fest der Liebe und der Versöhnung vor.

Bestimmt willst du nun wissen, ob wir die Einladung der oben genannten Frau angenommen haben, oder? Jaaa! Ruckartig änderten wir die Gehrichtung. Ich wollte mich endgültig von einem so weltfremden Gedankengut befreien. Wir folgten der Frau bis zum Eingangstor ihrer Familie.

In dem geräumigen Hof hatten sich inzwischen etwa vierzig Personen eingefunden. Als die Turmuhr fünfmal schlug (17 Uhr), öffnete die Gastgeberin des Hauses die Eingangstür, schritt mit einem freundlichen Lächeln die Treppe herunter und begrüßte – ohne nach der Konfession zu fragen – alle Teilnehmer recht herzlich. Anschließend verteilte sie an jede Familie eine leuchtende Flasche. Die quirlige 60-Jährige (also die Schwiegermutter), die sich fest an unsere Seite postiert hatte und deren Namen wir bis heute nicht kennen, winkte ihrer Schwiegertochter zu und erzählte ihr, weshalb wir anfangs nicht mitkommen wollten. Die junge Frau schüttelte verständnislos den Kopf, lächelte uns freundlich zu und überreichte uns die bereits beschriebene Flasche mit dem Satz: „Danke, dass Sie gekommen sind! Wir sind alle Christen!“

Wir erlebten zusammen mit den anderen Anwesenden einen angenehmen Abend. Es wurde erzählt, gelacht, gescherzt. Und all das in einer heiteren Adventsstimmung.

Ein unvergesslicher Abend, an dem wir uns als MENSCHEN begegneten.

Vielleicht verstehst du nun, weshalb mir diese Adventsflasche so viel bedeutet. Und so steht sie auch dieses Jahr auf ihrem gewohnten Platz.

Von dort verbreitet sie Wärme, Licht und Zuversicht.

Sie hilft uns, alte Verletzungen hinter uns zu lassen.

Was eine Flasche alles so bewirken kann!

Euch allen ein frohes Weihnachtsfest und eine positive Sicht auf das neue Jahr!

Susanne Karres

Schlagwörter: Advent, Weihnachten, Erzählung

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