26. Dezember 2023

Die Brücke von Mostar — Herzstück einer Stadt

Eine Geschichte von Susanne Karres
Blick von der Terrasse des Restaurants Babylon ...
Blick von der Terrasse des Restaurants Babylon auf die neue Brücke von Mostar
Wir befinden uns auf einer Rundreise durch Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro.
Heute, am 27.10.2023, machen wir von Dubrovnik aus einen Abstecher nach Mostar, eine Stadt mit bewegter Geschichte.
„Kommen Sie bitte näher, damit Sie auch alles gut verstehen!“, erklingt die Stimme unserer gutaussehenden Stadtführerin.
„Ich heiße Maja – so wie die kleine Biene Maja – und ich werde Ihnen heute etwas über meine Stadt Mostar erzählen. Mostar ist die fünfgrößte Stadt Bosnien-Herzegowinas und liegt im Süden des Landes. Es leben über 113.000 Menschen in dieser wunderbaren Stadt, die vom smaragdgrün leuchtenden Fluss Neretva durchquert wird.“
„Verstehen Sie mich gut?“, fragt Maja erneut in die Runde.
„In den schwierigen 90-er Jahren waren Sie, das heißt Deutschland, für mich da, heute möchte ich, die Kroatin, für Sie da sein. Das ist mir wichtig!“ Ein Satz, der gut ankommt. Ob einstudiert oder nicht, es tut gut ihn zu hören.
FÜREINANDER DA SEIN –
Heutzutage wichtiger denn je!, denke ich. Nur noch sieben Wochen bis Weihnachten … da hört man so etwas gerne. Bin ich heute etwas zu sensibel unterwegs? Oder ist es diese Stadt, die mich so in ihren Bann zieht? Enge, verwinkelte Straßen … schmucke Cafés … viele Händler, die ihre Ware feilbieten … überall buntes Treiben. Eine Stadt mit Extra-Charme. Ein wunderbarer Mix aus Orient und Okzident. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir diese Stadt das Thema für meine Weihnachtsgeschichte schenken möchte. Was dann im Laufe des Tages auch geschieht.
„Übrigens … das ist Willi!“, fährt Maja fort. „Ich sehe, dass viele von Ihnen ihn anlächeln. Ja, Willi ist mein bester Freund und Sie kennen ihn auch alle aus dem Kinderbuch: Biene Maja und ihre Abenteuer – ein Buch, das mich durch meine Kindheit begleitet hat. Er ist zwar ein kleiner Faulpelz, dick und etwas tollpatschig, aber stets treu an meiner Seite.“ Hummel Willi, das süße Kuscheltier, baumelt an Majas Regenschirm hin und her und scheint sich über unsere Bekanntschaft zu freuen.
„Zurück zu Mostar!“
„Der Ort, in dem Sie sich heute befinden, wurde 1474 erstmals unter dem Namen Mostar erwähnt. Die Mostari waren die Brückenwächter. Sie schützten die alte Holzbrücke, die die muslimisch geprägte Ostseite der Stadt mit der eher katholisch geprägten Westseite verband.
Bosniaken, Serben und Kroaten lebten friedlich miteinander. Im Spätmittelalter herrschten hier die Osmanen. Sultan Süleyman I. ließ die Holzbrücke durch eine prächtige Bogenbrücke – die Stari Most – ersetzen. ‚Stari Most‘ bedeutet Alte Brücke und sie hat seit ihrem Bau im Jahr 1566 den Orient mit dem Okzident verbunden. Wichtiger noch: Sie brachte über Generationen hinweg Menschen unterschiedlicher Religionen einander näher. Sie war über vier Jahrhunderte das Herzstück der Stadt. Doch 1993 fiel dieses Meisterwerk technischer Ingenieurkunst dem Krieg zum Opfer. Die Menschen trauerten um das wichtigste Bauwerk ihrer Stadt.
Der Bosnienkrieg (1992-1995) und schlussendlich die Zerstörung der Stari Most trieb einen Keil in die Stadt, einen Keil zwischen Menschen unterschiedlicher Ethnien. Heute erinnert …“. Dann verstummt die Stadtführerin. Ihr Blick wandert zum Himmel Oh, oh, der verspricht nichts Gutes. Im Eiltempo ziehen blaugraue Wolken aus der östlichen Richtung gegen Westen, scheinbar in voller Absicht, eine gefährliche Allianz mit der bedrohlichen anthrazitgrauen Wolke, die über uns schwebt, einzugehen.
Ein Blitz! … Ein Donner! … Und in Sekundenschnelle ergießt sich ein Platzregen über unsere Köpfe. Die Stadtführung wird jäh beendet. Mein Mann und ich ergreifen die Flucht und landen auf der Terrasse des Babylon Restaurants. Ein freundlicher Gastwirt weist uns einen Tisch mit Blick auf die Mostar-Brücke zu. Geschafft! Wir sind im Trockenen.
Was für ein erhebendes Gefühl, in friedlichen Zeiten am Ufer des Neretva-Flusses zu sitzen, uns den „Bosnischen Hamburger“ – bestehend aus zehn Cevapcici, eingebettet in ein Fladenbrot, zusätzlich Ajvar – einzuverleiben und den aromatischen und eleganten Blatina-Rotwein zu genießen!
Ich, die ewig Neugierige, frage den Wirt, wie ER die Zerstörung der Brücke erlebt hat. Seine Antwort: „Meine Familie und ich – der damals 16-Jährige – konnten dem grausamen Bosnienkrieg entkommen. Wir haben mehrere Jahre in Osnabrück gelebt. Dafür sind wir dankbar!“
DANKBARKEIT! –
IN DER NOT FÜREINANDER DA SEIN! –
„Zivjeli!“, prostet uns der am Türstock lehnende Wirt zu.
„Auf eine gute Zeit – ohne Krieg!“
„Jaaaaaa“, möchte ich ganz laut schreien, stattdessen nicke ich nur resigniert – und es gelingt mir nur schwer, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
Ja, auf eine gute Zeit! Eine Zeit ohne Krieg! Aber in der Ukraine tobt schon seit einem Jahr und neun Monaten ein zerstörerischer, unmenschlicher Krieg. In Israel und im Gaza-Streifen ist ebenfalls die Hölle los! – Die anderen unzähligen Konflikte in Afghanistan, Libanon, Jemen, die Rohingya-Krise in Myanmar und in Äthiopien noch gar nicht mitgezählt.
Was ist denn los in dieser Welt???
Was tun wir Menschen uns gegenseitig an???
Ist sowohl das GUTE als auch das DÄMONISCHE in unserer DNA angelegt?
Wollen wir alles damit entschuldigen?
Na, dann Prost, mein Lieber! „Zivjeli!“
Ich versuche meine Endlos-Denkschleife zu zertrümmern, ersetze sie jedoch durch eine andere: Sich zu ärgern oder sich Sorgen zu machen, ist eine komplett sinnlose Gehirnaktivität! Sich zu ärgern … oder … sich zu … Booah … klingt das klug …! Fast schon altklug. Wo habe ich diese Glückskeks-Weisheit denn gelesen?
„Danke für die guten Cevapcici!“, höre ich meinen Mann sagen.
„Hvala (danke) für die saftigen Mici!“, füge ich, die Klugscheißerin, übereifrig und etwas zu laut hinzu.
„Mici?“
„Ja, so heißen die rumänischen Cevapcici.“
„Kommt ihr aus Rumänien?“
„… wir sind dort geboren“, antworte ich. „Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“ (Eigentlich sollte das Wort Mici nur der Türöffner für meine Frage sein.) „Was glauben Sie, weshalb hat Jugoslawien die vielen Menschen aus Rumänien – darunter auch einige unserer Bekannten –, die die Donau schwimmend durchquert haben, um einen Weg in die Freiheit zu finden, nicht nach Rumänien zurückgeschickt? Wäre es nicht die Pflicht Jugoslawiens gewesen, diese Deserteure sofort nach Rumänien auszuweisen? Diesbezüglich gab es bestimmt klare Abmachungen zwischen den beiden sozialistischen Bruderstaaten, oder?“
Achselzuckend erwidert der Wirt: „Das weiß ich nicht. Ich bin kein Politiker, aber vermutlich … vermutlich … weil es neben Abmachungen auch noch Menschlichkeit gibt.“ –
MENSCHLICHKEIT! Auch so ein Schlagwort!
Wir verabschieden uns von dem liebenswürdigen, perfekt Deutsch sprechenden Wirt und stellen fest, dass es Zeit ist, zum Bus zurückzukehren. Die Busse dürfen nur eine begrenzte Zeit parken. Verspätet sich ein Fahrgast, muss er zusehen, wie er zurechtkommt …
Aber ein wenig Zeit für ein kleines Andenken an diese außergewöhnliche Stadt sollte schon noch sein.
Ich betrete einen der unzähligen Souvenirläden und sehe mich um. Perlen, Ohrringe, Kaschmir-Schals, Socken, Magnete aller Art für den Kühlschrank, große und kleine Bilder von der Mostar-Brücke … alles da. Aber irgendwie bin ich nicht bei der Sache – Es gilt, so viele Eindrücke zu verarbeiten. Lass es!, rede ich mir ein und höre zusätzlich Oma Jungs Stimme: „Glücklich ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht“. Na, also … Die guten alten Sprüche …
Sieht die heutige Generation das auch so?
Mit diesem Gedanken werde ich mich später befassen. –
Mein Blick bleibt an einem verblichenen Bild der alten Stari Most hängen, darunter die Geschichte der Brücke. Der Grundstein für die (erste) Steinbrücke wurde bereits 1556 – also zehn Jahre vor ihrer endgültigen Fertigstellung – gesetzt. Allerdings stürzte die Brücke zweimal ein, was den Sultan Süleyman l. auf die Palme brachte. Sollte die Brücke ein drittes Mal einstürzen, so müsse der damals berühmte osmanische Architekt Mimar Hajrudin mit seinem Kopf dafür bezahlen. Es heißt, kurz vor der Einweihung der Brücke soll der Baumeister aus Angst, die Brücke könne ein drittes Mal einstürzen, die Flucht ergriffen haben. Er soll also sein fertiges Meisterwerk bis zu seinem Lebensende nicht gesehen haben.
Jedoch die Brücke hielt zwei Weltkriegen und zahlreichen Überschwemmungen stand. Bis zu ihrer Bombardierung 1993.
Die blonde Verkäuferin, die vermutlich wegen des Regens allein im Laden steht, scheint mich eine Weile beobachtet zu haben. Sie kommt näher, lächelt mir zu und sagt: „Unsere Geschichte, die Geschichte unserer Brücke scheint Sie zu berühren und das wiederum berührt mich. You don’t need to buy anything, but I have a little gift for you.“ (Sie brauchen nichts zu kaufen, aber ich habe ein kleines Geschenk für Sie)
Der Geldbeutel, den mir eine Verkäuferin ...
Der Geldbeutel, den mir eine Verkäuferin schenkte. Fotos: Susanne Karres

Sie verschwindet und kommt mit einem kleinen Geldbeutel zurück, auf dem die Brücke von Mostar, also das Wahrzeichen der Stadt, zu sehen ist. Die gute Stari Most, die so viel zu erzählen hat …
Was für ein Geschenk! Mein WEIHNACHTSGESCHENK!
Zwei Menschen, die sich vorher nie gesehen haben, liegen sich in den Armen. Beide haben sie Tränen in den Augen. „Der Frieden unseres Landes ist kein echter Frieden … Er ist jung und zerbrechlich … Es brodelt wieder …“
„Was??? – Nein!!!“ Ich gehe.
Mein Mann kommt um die Ecke gebogen und hält mir einen halben Baumstriezel sowie eine Tüte weihnachtlich duftender Mandeln entgegen „Jetzt schon?“ „Ja!“, lächelt er mir zu.
Im Hotel „Golubica Mira“ (Friedenstaube) verrät mir Mister Google, dass die neue Mostar-Brücke mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut und 2004 in Betrieb genommen wurde. Seit 2005 gehört sie zum UNESCO-Kulturerbe. Das freut mich!
Ich denke über die Bedeutung der Brücken und deren Symbolik nach. Über Sinn und Unsinn ihrer Zerstörung. Ich denke an die Krim-Brücke … an Peter Maffays Lied: Über sieben Brücken musst du gehen … Dann schiebe ich all meinen Gedanken einen Riegel vor. Schluss! Ich komme ohnehin auf keinen grünen Zweig. – Aber eins weiß ich:
Wir dürfen nie aufhören, Brücken zu bauen!
Kurz vor dem Schlafengehen fädle ich ganz behutsam alle emotionalen Momente dieses wunderbaren Tages – Edelsteinen gleich – auf meine unsichtbare Perlenkette, die ich stets bei mir trage. In einer Schatulle meines Herzens befinden sich noch viele solcher Kostbarkeiten. Sie verleihen mir Kraft und Zuversicht. Sie helfen mir, mich auf das Weihnachtsfest vorzubereiten.
Auf geht’s! Aber wo steckt die Kiste mit der Weihnachtsdekoration?
Frohes Fest!
Bleiben wir zuversichtlich!

Schlagwörter: Erzählung, Reise, Mostar

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