24. Januar 2003

Donbass-Reise in die Vergangenheit

Siebenbürger Sachsen, ehemalige Zwangsarbeiter, Verschleppte, deren Angehörige und Nachkommen waren auf einer von Günter Czernetzky und Friedrich Juschin organisierten und geleiteten Reise vom 24. September bis zum 2. Oktober 2002 unterwegs in die Vergangenheit, in das Donbassgebiet der Ukraine, um die Orte, die Stätten von einst zu besuchen.
Aus dem Bericht eines Teilnehmers, Hubert Thudt: "Jeder von uns (die Reisegruppe bestand aus 18 Personen, darunter vier ehemals Deportierte, die anderen waren Nachkommen von Verschleppten - Anmerkung der Redaktion) wird die schrecklichen Ereignisse der Deportation von Angehörigen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion in den frostigen Januartagen 1945 anders erlebt haben. Uns allen gemein ist die bedrückende Leere, unsere Lieben in jene weiße, ebene Unendlichkeit des Ostens entschwinden zu sehen. Hinter den Güterzügen, die sich am Horizont verloren, quälende Ungewissheit über das Ziel dieses beginnenden Leidensweges."

In Petrowka: Mit einer Gedenkfeier ehrte die Reisegruppe die Toten im Donbass.
In Petrowka: Mit einer Gedenkfeier ehrte die Reisegruppe die Toten im Donbass.

Die Motive der weiten Reise waren unterschiedlich. So bekannte beispielsweise Hubert Thudt: "Als (...) Herr Czernetzky und Herr Juschin wieder eine Reise, diesmal vorwiegend nach Makeewka und Lager 1001 ausschrieben, entschloss ich mich zur Mitreise. Hier glaubte ich die damalige, doch abstrakte Verlustempfindung am Leidensort und der letzten Lebensetappe meines Vaters überwinden zu können." Noch bestärkt in dieser Absicht wurde der Teilnehmer durch den Umstand, dass "ich in der Zeit meiner Reisevorbereitungen vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes die erste amtliche Mitteilung vom Tod meines Vaters erhielt".

Beide Maschinen landeten in Budapest, wo sich die Gruppen zusammenschlossen, um gemeinsam nach Kiew zu fliegen. Dort bestieg man den Zug nach Donezk (1,2 Millionen Einwohner), das nach einer 13-stündigen Fahrt im Schlafwagen am Morgen des 25. September erreicht wurde. Das Hotel "Turist" erwies sich als "eine Katastrophe, besonders die Nasszellen" (Gertrud Renye). O-Ton des Reiseleiters Juschin: "Hier hat der Hoteldirektor noch nicht das ganze Hotelinventar verramscht."

Thudt berichtet weiter: "Noch am gleichen Vormittag folgten wir einer Einladung der 1989 gegründeten ukrainischen Gesellschaft für deutsche Kultur ‚Wiedergeburt‘, Zweigstelle Donezk. Hier erfuhren wir, dass die Donezk-Deutschen zwischen 1941 und 1946 auch in Arbeitslager deportiert wurden. Ihre Nachkommen wurden in der UdSSR weiterhin als Deutsche diskriminiert, durften aber nicht als Deutsche leben. Viele dieser Menschen in der Ukraine fühlen sich heute als Deutsche, sprechen aber kaum Deutsch. Hier setzt die ‚Wiedergeburt‘ in ihren Bemühungen an, eine Pflege der sprachlichen und kulturellen Wurzeln zu ermöglichen und eine Dokumentation der eigenen Geschichte zu erstellen." So wird in elf Sonntagsschulen und in 15 Kursen die deutsche Sprache, Geschichte und Kultur unterrichtet.

Thudt berichtet ferner, dass "ein Vertreter der Stadtverwaltung, in Kenntnis unserer Besuchsziele, (...) versprach, Einsicht in eventuell vorhandene Unterlagen zur Arbeit der Verschleppten bei Fabriken und Gruben zu vermitteln, ferner Orte und Lage der bereits geschleiften Lager sowie die Gräberfelder noch zu präzisieren."

An den nachfolgenden Tagen besuchten die Reiseteilnehmer ihre jeweiligen Zielorte, Arbeitslager-Gruben und mutmaßliche Gräberfelder. Die 83-jährige Seniorin Gertrud Renye schildert: "Wir mussten kleine Gruppen bilden, jede fuhr im Kleinbus oder Taxi zum gewünschten Ort, mitunter auch zwei oder drei Mal (...). Ich persönlich suchte in Makeewka die Stanzwerkabteilung der Walzwerke 'Kirova Zavod' auf, in welcher ich gearbeitet hatte. Der größte Teil dieser Fabrik existiert nicht mehr, aber das Stanzwerk ist noch vorhanden. Mit einer Begleitperson durften wir in die große Halle gehen, die ich sofort erkannte. Ich sah die Schienen, Platten, Stempel, die genau so sind wie vor 55 Jahren. Alles war mir vertraut, der öldurchtränkte Erdboden, fest getrampelt, die lärmenden Pressen." Weitere Spuren der Vergangenheit entdeckte Renye im Werksmuseum: "Dort zeigte uns der Leiter ein Album mit vier Fotos aus dem Stanzwerk, ungefähr aus der Zeit, als ich dort war."

Freilich hatten sich vielfach keine Spuren bewahrt, blieben nur noch die Ortsnamen als Synonym für Leid. So im Falle von Hubert Thudt. "Oft ertappte ich mich dabei, vermeintliche Zusammenhänge gefunden zu haben, Hinweise zu erkennen, die bei nüchterner Betrachtung doch nicht haltbar waren. Am schmerzlichsten empfand ich die spurlos von der Zeit und wohl auch von den Menschen eingeebneten anonymisierten Gräberfelder. Hier hätte sich ein Kreis schließen, hätte jene abstrakte Verlustempfindung aufgehoben werden können, was das eigentliche Anliegen meiner Reise war. Aber hat es durch die schrecklichen Kriegsfolgen nicht bei allen Beteiligten unzählige unbekannte Gräberfelder gegeben ...? So verabschiede ich mich von Makeewka in der Gewissheit, das Mögliche getan zu haben, und finde Trost bei dem Gedanken, doch ursprünglich von bescheideneren Erwartungen ausgegangen zu sein."

Am letzten Nachmittag in Donezk war die Reisegruppe erneut zu Gast bei der ukrainischen Gesellschaft "Wiedergeburt". Im Rahmen eines Festprogrammes boten junge Leute Tänze zu deutschen Melodien dar und eine Opernsängerin trug Arien vor. Schließlich ging es mit dem Zug nach Kiew, von dort aus erfolgte am 2. Oktober, nach einer Stadtrundfahrt durch die 1 500 Jahre alte Metropole, der Heimflug via Budapest.

Quelle: Berichte von Gertrud Renye und Hubert Thudt


Erneute Donbass-Reise

Friedrich Juschin und Günter Czernetzky planen für Juni 2003 (nach Pfingsten) eine weitere Reise in die Gebiete der Deportation. Interessenten sollten sich so bald wie möglich bei Günter Czernetzky, Adalbertstraße 92, 80 799 München, Telefon: (01 79) 1 17 64 56, melden. Die Reisekosten für die acht- bis zehntägige Donbass-Reise werden voraussichtlich 800 - 900 Euro betragen. Die Reiseroute und das Programm werden in Absprache mit den Reiseteilnehmern festgelegt.

Günter Czernetzky


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 2 vom 31. Januar 2003, Seite 26)

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