2. Februar 2003

An der geschönt wirkenden Oberfläche geblieben

Leserbrief zum Vortrag von Georg Aescht "Wortreich ratlos. Literatur als Mittel gegen die Ratlosigkeit vor der Zeitgeschichte", erschienen in der Siebenbürgischen Zeitung Online vom 12. Januar 2003.
Wann hätte die literarische "Gestaltung zeitgeschichtlicher Thematik", ob naiv oder souverän, nicht auch dazu gedient, die eigentliche Wahrheit, wenn auch ungewollt, zu vertuschen und zu verschleiern, von ihr abzulenken, sie im wahrhaft genuin psychoanalytischen Sinn ins Unbewusste zu verdrängen und verschwinden zu lassen im Versuch, sie sich dadurch vom Hals zu schaffen, aber eben nur so lange, bis sie eines Tages wiederkehrt und einem die gleiche Fratze entgegenhält? Immer schon und immer noch waren und sind die Menschen viel eher dazu bereit, sich als Opfer von "Geschichte und Zeit" zu fühlen, an den so offensichtlichen äußeren "Kalamitäten" und Katastrophen zu leiden und sich mit ihnen zu beschäftigen, als die eigenen inneren Hässlichkeiten und Schrecken wahrzunehmen und sich ihrer zu erinnern. Uneingeschränkt gültig ist nach wie vor der Satz von C. G. Jung aus dem Vorwort zum Tibetanischen Totenbuch: "Es ist so viel unmittelbarer, auffallender, eindrücklicher und darum überzeugender zu sehen, wie es mir zustößt, als zu beobachten, wie ich es mache."

Den Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben ist mit der Deportation nach Russland Schreckliches zugestoßen. Wenn Erwin Wittstocks Projekt, in dem Roman Januar '45 oder Die höhere Pflicht furchtbares Geschehen in eine kunstvolle und sinnvolle, sinngebende Form zu gießen" grandios gescheitert ist, wie Georg Aescht schreibt, dann wohl auch deswegen, weil der Romanschriftsteller, wie wir alle, gebannt und überwältigt blieb von der mörderischen "Zeitgeschichte", von dem "siebenbürgisch-banaterischen Trauma".

Im Nachwort des Romans lesen wir, dass dem Schriftsteller Erwin Wittstock die Erfahrung der Deportierten fehlte, er also deren Erleben auch nicht schildern konnte. Welche Erfahrung hatte und welches Erleben konnte er also schildern bzw. hätte er schildern können? Es heißt, es sei ein "Volkserlebnis" gewesen, was er darstellen wollte... - Dass das Volk eine "Seele" zum erleben habe, war lange Zeit ein schönes Märchen, das demjenigen vom "Volkskörper" zur Seite stand. Das "Volk", eine Gruppe, eine soziale Schicht "erlebt" als solche/s gar nichts, nur der Einzelne. Könnte es sein, dass das "Scheitern" auch mit diesem Missverständnis zu tun hat? Was aber ist dann mit dem Erleben der einzelnen Romanfiguren? Was erfahren wir von den einzelnen Gliedern der Familie Fellner? Den Vorwurf, einen Schlüsselroman geschrieben zu haben, kann man Wittstock jedenfalls nicht machen. Man bekommt eher den Eindruck, es bei "Fellner", "Frau Rosa" usw. mit idealtypischen Charakteren zu tun zu haben, denen persönliche Eigenheiten beigegeben wurden, die ziemlich austauschbar sind. Was wir lesen, kommt einer durchdachten und oft geschönt wirkenden Oberfläche der Menschen nahe. Ging es so überwiegend harmonisch, konfliktfrei und erfolgreich innerhalb einer siebenbürgischen Fabrikantenfamilie zu? Der Schriftsteller Erwin Wittstock hätte es besser wissen können, er hatte in eine solche hineingeheiratet. - Er scheint sich ausführlich mit "ideologischen Schriften" bezüglich sozialer Klassenkonflikte beschäftigt zu haben, wie wir aus dem Nachwort erfahren. Hat er sich auch mit den Menschen seiner nächsten Umgebung und mit sich selbst so "beschäftigt", oder musste das in den Turbulenzen der "Zeitgeschichte" zu kurz kommen?

Einige Male meint man, G. Aescht nähere sich dem Hauptmanko der rumäniendeutschen Randliteratur, z.B. dort, wo er eine sehr grundsätzliche Aussage Thomas Manns über das literarische Schaffen offenbar zustimmend zitiert, nämlich dass die künstlerische Wirklichkeit des literarischen Werks (der "Satz") immer eine eigenständige, von der Zeitgeschichte, Politik, Gesellschaft, Nation usw. (der Sache") unabhängige Wirklichkeit darstellt ("was hat die Sache noch mit dem Satz zu tun?"), dann aber aus der Bedeutung dieser Aussage keine weiteren Konsequenzen für die Kritik der besprochenen Literatur zieht.

Vollkommen zustimmen kann man G. Aescht, wenn er den rumäniendeutschen Autoren mehr Ironie wünscht, als "literarisches Mittel, das gegen die Zeitgeschichte wirkt", - freilich ist dieses sehr intime, ja erotische "Mittel", das innere Distanz zum Zeitgeschehen verschaffen könnte, nicht von jedermann beliebig einsetzbar: "Man kann nicht so oder auch ganz anderes schreiben", sagte der Meister der Ironie Thomas Mann.

Eine "kleine Literatur einer kleinen Volksgemeinschaft stellt sich dem großen Weltgeschehen" in der Absicht, diese "redlich zu Text zu verarbeiten" - dazu könnte einem das Bonmot einfallen: "Gut gemeint, ist das Gegenteil von Kunst".

Christian W. Scherg, Kassel

Bewerten:

3 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.