15. April 2000

Komponist, Musikwissenschaftler und Pädagoge: Hans Peter Türk wurde 60

Am 27. März hat der Komponist und Musikwissenschaftler Hans Peter Türk im siebenbürgischen Klausenburg, wo er am staatlichen Konservatorium als Professor lehrt, sein 60. Lebensjahr erfüllt. Der vielfach preisgekrönte Türk gilt als der heute bedeutendste sächsische Komponist, der in seinen Tonschöpfungen immer wieder auf die Musiktradition seiner siebenbürgischen Heimat zurückgreift und sie in der modernen Klangwelt seiner Kompositionen neu erstehen lässt.
Während der in Klausenburg lebende Hans Peter Türk schon seit den frühen Jahren seiner kompositorischen, musikwissenschaftlichen und pädagogischen Tätigkeit in Siebenbürgen und dem übrigen Rumänien bekannt und anerkannt war - auch in anderen osteuropäischen Ländern kein Unbekannter -, beschränkte sich bis zu Beginn der 90-er Jahre die Kenntnis seiner Existenz in Deutschland auf einen sehr engen Kreis. Das Kulturreferat der Landsmannschaft in Baden-Württemberg und der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde versuchten in den 80-er Jahren in Zusammenarbeit mit dem Siebenbürgischen Musikarchiv in Gundelsheim, den Komponisten, der selbst nicht in den Westen reisen durfte, dem hiesigen Publikum im Rahmen von Konzertveranstaltungen in Stuttgart, Tübingen, München, Heilbronn oder Gundelsheim vorzustellen. Doch erst nach der „Wende“ in Rumänien war es möglich, ungehindert, öfter und in größerem Umfang Werke von Türk hier aufzuführen.

Türk selbst konnte erst 1990 (!) zum ersten Mal Deutschland besuchen, wo alle seine nächsten Verwandten leben. Es waren nun vor allem das Institut für ostdeutsche Musik, der unter dessen Dach tätige Arbeitskreis Südost und die Siebenbürgische Kantorei, die, z.T. in des Komponisten Gegenwart, Kammermusik- und Chorkompositionen Türks in mehreren Ortschaften zu Gehör brachten und Workshops u.ä. organisierten. Höhepunkt war 1995 eine mehrtätige Veranstaltung im westfälischen Coesfeld - man darf sie ruhig als kleines Türk-Festival bezeichnen -, in deren Rahmen neben Aufführungen von Orgel-, Chor- und Kammermusikwerken Türks - insgesamt 23 an der Zahl - eine Auftragskomposition der Stadt Coesfeld uraufgeführt wurde, ein Orchesterwerk, das Türk „Narben“ nannte und es „der Stadt Coesfeld zum Gedenken an die Wunden des Zweiten Weltkriegs“ widmete. Aus den 90-er Jahren wird auch über sonstige Aufführungen in Budapest, Hamburg, Dresden, Erfurt, München, Heidelberg und anderen Städten berichtet.
Von dem, was man als Durchbruch bezeichnet, kann aber nicht die Rede sein. Das verhindert die Beschaffenheit der deutschen Musikszene, die hiesige und heutige Kulturpolitik (gegenüber den Deutschen aus dem Ausland), aber auch die allgemein geringe Akzeptivität für die neue Musik im breiten Publikum. Wir dürfen nicht vergessen, dass kein heutiger Komponist das Echo und die Anerkennung findet wie noch vor 50 oder 100 Jahren. Für die meisten Menschen, auch wenn sie der modernen Musik gegenüber aufgeschlossen sind, ist das neuzeitliche Kleid, in dem sich eine musikalische Substanz präsentiert, noch immer gewöhnungsbedürftig und setzt die Bereitschaft zum Hineinhören und zur Beschäftigung voraus. Die Komponisten sind auf eine sie unterstützende und weitertragende Anhängerschaft angewiesen. Wenn sich noch die Kritik einschaltet, wird die Lage vollends kompliziert. So gesehen haben die heutigen Komponisten einen schweren Stand. Vor allem im deutschen öffentlichen Musikleben Fuß zu fassen, ist ohne all die hier genannten und weiteren äußeren Voraussetzungen äußerst schwierig.
Dabei gibt es Tonschöpfungen, die sich dem Hörer unmittelbar mitteilen. Dazu gehören die meisten Kompositionen von Hans Peter Türk. Er erbringt den Beweis, dass auch heute noch und in der heutigen Musiksprache ästhetische Empfindungen und seelische Regungen übertragbar sind, dass eine Musik spontan - und ohne irgendwelche Konzessionen - vom Hörer angenommen wird, Zustimmung, Gefallen, Interesse findet, Stimmungen, Emotionen, Bewegtheit, Kontemplation auszulösen vermag. Wer Aufführungen von Werken Türks verfolgt - leider sind größere orchestrale und vokal-instrumentale Kompositionen selten zu hören -, wird dies bestätigt finden.
In den Charakterisierungen von Türks Musik lesen wir von „streng durchgeformten Strukturen“, die auch „aleatorische und andere experimentelle Möglichkeiten“ zulassen, wir lesen, dass „alle technischen und instrumentalen Mittel immer dem schöpferischen Grundgedanken untergeordnet“ werden (Wolfgang Hildemann); wir erfahren, dass seine schöpferischen Wurzeln in der Musik Bartóks und Honeggers zu suchen sind, dass er sich auch aus dem alten siebenbürgischen Volkslied inspiriert, dass er heutige Kompositionstechniken seinem eigenen schöpferischen Willen anverwandelt und sie dem musikalischen Ausdruck unterwirft; wir werden darüber informiert, dass sein Kompositionsstil auf eine Beschränkung der Mittel und auf äußerste Konzentration ausgelegt ist, dass auch bei besonders streng gebauten Werken das plastische Gestalten unterschiedlichster Gefühlswerte Hauptanliegen seiner Kompositionsweise ist. Doch man muss und sollte diese ehrliche, lautere, verantwortungsbewusste, in sich ruhende Musik selber hören, sie auch unbefangen und voraussetzungslos in sich aufnehmen: Sie hat vieles zu bieten.
Neben dem Komponieren widmet sich Türk auch der Musikwissenschaft. Zuweilen aber ist er ungehalten, ja verärgert über diese Art von Beschäftigung, er bedauert, dass sie ihm Zeit für sein kompositorisches Schaffen wegnimmt. Dennoch hat er in diesem Bereich Beachtliches geleistet. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind Untersuchungen zu Mozarts Harmonik und Melodik und zu Struktureigenschaften und ästhetisch-stilistischen Fragen in den Werken Bachs. Außerdem beschäftigt er sich mit gestalterischen Problemen in Kompositionen von Bartók und Toduta. Über die siebenbürgischen Komponisten Gabriel Reilich und Paul Richter schrieb er je eine Monographie. Jüngst erschienen drei Bände einer Harmonielehre für den Hochschulunterricht.
Türk wurde am 27. März 1940 in Hermannstadt geboren. Als seine „Vaterstadt“ jedoch betrachtet er Kronstadt: Von dort stammte sein Vater, dorthin übersiedelten die Eltern, dort erhielt Türk seine höhere Schulbildung, dort erfuhr er die prägenden geistigen und musikalischen Eindrücke. Türks Vater, Friedrich-Michael, der während eines Handelstudiums in Berlin - ein von ihm gewünschtes Musikstudium ließen die Eltern nicht zu - viel in Musikerkreisen, u.a. im Hause Hindemith, verkehrte, gehörte zu der Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg - im Januar 1945 - aus Siebenbürgen nach Russland zur Zwangsarbeit deportiert wurde. Im Dezember 1946 brachte man ihn, schwerkrank, nach Frankfurt an der Oder, wo er noch am Tag seiner Ankunft starb und in einem Massengrab beerdigt wurde.
Hans Peter wuchs also ohne Vater auf. Unbestimmte Erinnerungen an ihn und schmerzliche Eindrücke von dunklen schicksalhaften Mächten mögen seine Jugend begleitet haben. Die Mutter, Marta Kitty, gebürtig aus Bistritz, schlug sich nach dem Tode ihres Mannes mühsam als Stenotypistin durch und indem sie einen privaten Kindergarten für französische Sprache im benachbarten Zeiden unterhielt.
Eine unstete und schwierige Kindheit und Schulzeit verbrachte der junge Hans Peter: Kindergarten in Zeiden, erste Volksschulklasse in Hermannstadt, weitere Volksschulklassen in Zeiden, zwei Jahre Berufsschule für Bauwesen in Kronstadt, Honterus-Gymnasium und Internat in Kronstadt. An diesem Gymnasium empfing er die entscheidenden Impulse, die seine Berufsorientierung bestimmten. Denn der schon fast legendäre Kantor und Organist der Schwarzen Kirche und Pädagoge am Honterus-Gymnasium Victor Bickerich wurde auch für Türk, wie für zahlreiche andere nachmaligen Musiker - wir denken an Adolf H. Gärtner, Alexander Dietrich, Elfriede Kühlbrandt, Reinhard Göltl, Michael Radulescu, Radu Lupu, Klaus Knall, Eckart Schlandt oder Wolfgang Meschendörfer - zum (nicht nur) musikalischen Erzieher und zum Mentor, väterlichen Freund und Wegweiser. Von Bickerich, seiner „Vaterfigur“, der er neben kirchenmusikalischen Aufführungen und der Mitwirkung im Kronstädter Bach-Chor „die schönsten Stunden jener Zeit“ verdankt, erhielt der mittellose Hans Peter Türk unentgeltlich Unterricht in Harmonielehre, Musikgeschichte und Klavier, „eine strenge, gründliche Schule“, wie Türk diese Unterweisung nennt. Sie setzte ihn in die Lage, 1959 als Kompositionsschüler von Sigismund Toduta an der Staatlichen Musikhochschule in Klausenburg angenommen zu werden. Allerdings war er gezwungen, vorher (nach dem Abitur 1957) noch eine Zeit als Fabrikarbeiter und Mitglied einer „künstlerischen Brigade“ über sich ergehen zu lassen. Während dieser Zeit nahm er zusätzlich Unterricht in Cello und Klavier an der Kronstädter Volkskunsthochschule.
Der Casella-Schüler Toduta galt als überragende Autorität auf dem Gebiet der Kompositionslehre und Musikwissenschaft und genoss als geistig hochstehende Persönlichkeit und schöpferischer Musiker in der Fachwelt größten Respekt und hohes Ansehen. Dass Toduta, der Türk sehr schätzte und große Hoffnungen auf seine schöpferischen Fähigkeiten setzte, ihn nach dem Studium (1965) als Assistenten (für Harmonielehre, Partiturlesen, Komposition und Chorleitung) an der Hochschule behielt, war eine erste Auszeichnung. 1975 wurde er zum Lektor für Tonsatz ernannt. Eine höhere Stufe konnte jedoch nur mit dem Parteibuch erreicht werden, das Türk nicht besaß. Den Professorentitel erhielt er erst 1990 nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Promoviert hatte er 1978 - kurz bevor dies Nichtparteimitgliedern verboten wurde - über die Wechseldominante und das Verhältnis zwischen Harmonie und Form im Werk Mozarts, und 1979 hatte er den Enescu-Kompositionspreis der rumänischen Akademie erhalten. Nach dem Umbruch wurde Türk bald auch zum Prorektor der Klausenburger Musikakademie gewählt, trat aber zwei Jahre später von diesem Amt zurück. Mit anderen Musikern gründete er nach dem Tode seines Lehrers 1991 die Sigismund-Toduta-Stiftung, deren Vorsitzender Türk ist. In Zusammenarbeit mit der Internationalen Bach-Akademie in Stuttgart und der Neuen Bach-Gesellschaft in Leipzig rief Türk 1992 die erste Klausenburger Bach-Akademie (mit Kursen, Seminaren, Vorträgen und Konzerten) ins Leben. 1995 wurde ihm die sogenannte Ehrengabe des von der Künstlergilde in Esslingen vergebenen Johann-Wenzel-Stamitz-Preises für sein kompositorisches Werk zuerkannt.
Der schöpferische Drang war von jeher übergroß. Türk bekennt, dass er schon als Kind beim Erlernen des ersten Mozart-Menuetts am Klavier eher den Wunsch gehegt habe, ein solches Stück selber zu erfinden, als es ordentlich spielen zu können. Bald nach dem Studium trat er denn auch mit Orchester- und Kammermusik an die Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht erwies sich Klausenburg als Glücksfall für sein schöpferisches Wirken: „In Klausenburg wird die Musik, die man schreibt, auch aufgeführt. Hier gibt es das einfach nicht, dass ein Stück geschrieben wird und dann fünf Jahre in der Schublade liegt“, stellt Türk mit Freude und Genugtuung fest. Aber auch in den anderen Städten Siebenbürgens und Rumäniens wurde und wird seine Musik gespielt, Ensembles aus Siebenbürgen tragen sie auf ihren Tourneen über die Grenzen. Der Hermannstädter Bach-Chor hat sich vor allem auch um Türks größere Vokalwerke verdient gemacht. Doch Türk ist kein Vielschreiber, er schreibt gewissermaßen behutsam, vorsichtig, wachsam, konzentriert in sich hineinhorchend, selbstkritisch. „Glücklicherweise verpflichtet mich niemand, alljährlich eine Sinfonie oder ein Oratorium hervorzubringen“, äußerte er einmal.
Nicht jährlich, aber gelegentlich, wenn ihm danach zumute ist, möge er dies doch tun: Das wünschen wir uns von ihm. Und wir wünschen Hans Peter Türk, dass er sich weiterhin in voller Gesundheit und schöpferischer Kraft seiner segensreichen Wirksamkeit erfreuen kann.
Karl Teutsch

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