5. Juni 2001

Verheugen ruft zu Solidarität mit EU-Beitrittskandidaten auf

Ein schwerer und steiniger Weg ist nötig, um den Traum vom vereinigten Europa zu verwirklichen. Der für die EU-Osterweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen verurteilte am 3. Juni auf dem Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl die Vertreibungen und ethnischen Säuberungen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges stattgefunden haben. Die Begleichung „alter Rechnungen“ im Zuge der EU-Osterweiterung lehnte er jedoch strikt ab. Die Kultur der Deutschen in Siebenbürgen sei ein Teil des gemeinsamen europäischen Erbes, das erhaltens- und bewahrenswert sei. Verheugen forderte Vertriebene und Aussiedler auf, sich für die Solidarität zwischen den Völkern Europas einzusetzen. Vor allem Rumänien, das unter der schweren Last der Ceausescu-Diktatur zu leiden habe, brauche dringend moralische Hilfe von außen. Verheugens Rede in Dinkelsbühl wird im Folgenden vollinhaltlich wiedergegeben.
Ich habe mich über Ihre Einladung zum Heimattag der Siebenbürger Sachsen sehr gefreut und bin gerne in diese schöne und traditionsreiche Stadt gekommen, aber kaum jemand von Ihnen wird wissen, dass ich schon einmal bei Ihnen war. Das ist aber schon mehr als 25 Jahre her. Der damalige Bundesinnenminister war der Festredner, ich war einer seiner jüngsten Referenten und hatte ihn nach Dinkelsbühl zu begleiten.
 EU-Kommissar Günter Verheugen während seiner Festansprache vor der Dinkelsbühler Schranne. Foto: Josef Balazs
EU-Kommissar Günter Verheugen während seiner Festansprache vor der Dinkelsbühler Schranne. Foto: Josef Balazs


Erstaunlicherweise ist die Erinnerung an diese Veranstaltung in mir sehr lebendig geblieben. Es hat mich beeindruckt, wie stark sich die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen damals schon für Versöhnung und Verständigung über die noch bestehenden Blockgrenzen hinweg eingesetzt hatte. Und ich habe auch noch in Erinnerung, dass schon damals hier die Hoffnung ausgedrückt wurde, ein vereintes Europa werde einmal die Wunden der Vergangenheit heilen können.
Heute stehe ich nun selber hier als Festredner und als derjenige, der die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union auch mit Rumänien, dem Land Ihrer Siebenbürger Heimat, zu führen hat. Was vor 25 Jahren ein ferner Traum war, ist heute greifbar nahe. Europa vereinigt sich, der Traum wird Wirklichkeit. Aber Träume erfüllen sich selten von selber. So auch hier: Wir müssen noch einen schweren und steinigen Weg zurücklegen. Aber wir werden es schaffen, und am Ende wird die Mühe sich gelohnt haben: Der jahrhundertelang zerrissene, immer wieder von selbstzerstörerischen Kriegen, von Unterdrückung und Vertreibung gequälte Kontinent wird ein Raum des Friedens und der Stabilität, der Demokratie und der Menschenrechte sein.

Hypothek der Vergangenheit darf Zukunft nicht belasten


Die Erweiterung der Europäischen Union um die jungen Demokratien in Mittel-, Ost- und Südosteuropa hat eine historisch-moralische Dimension, die diesem einzigartigen Vorhaben einen ebenfalls historischen Rang verleiht. Wir sollten nie vergessen, dass die Völker hinter dem Eisernen Vorhang sich ihr Schicksal nicht aussuchen durften. Sie wurden unter kommunistische Herrschaft gezwungen und jahrzehntelang unterdrückt. Sobald sie die Freiheit der Wahl hatten, haben sie sich für das Europa der Freiheit und der Demokratie entschieden.
Wir können nichts von dem ungeschehen machen, was an Unrecht geschehen ist, was einzelnen Menschen und ganzen Völkern an Leid zugefügt wurde. Aber dennoch haben wir eine einmalige Chance: Wir können dafür sorgen, dass das alles nicht noch einmal geschehen kann. Wir können das Zusammenleben der Völker Europas jetzt endlich so gestalten, dass wir alle angstfrei zusammenleben können.
Diese Aufgabe ist durchaus aktuell. Die Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkrieges haben eine schreckliche Nachahmung erfahren in den Kriegen im früheren Jugoslawien und den ethnischen Säuberungen – ich kann das Unwort nicht vermeiden – , die ihr Ziel waren. Wir lernen daraus, dass Frieden und Stabilität in ganz Europa gefährdet sind, wenn sie irgendwo in Europa gefährdet sind. Und noch ist die Gefahr nicht vorüber, auch heute noch sprechen in Europa Waffen.
Ich werde oft gefragt, ob die Schuld der Vergangenheit nicht wie eine riesige Hypothek auf unserer Zukunft lastet. Ich glaube es nicht, jedenfalls muss es nicht so sein. Wir wollen die Belastungen der Vergangenheit nicht in das gemeinsame Europa der Zukunft herüberschleppen. Wir wollen sie nicht vergessen, aber sie sollen uns die Zukunft nicht verbauen.
Ob uns das gelingt, ist keine Frage von Beitrittsverhandlungen. Ich muss jedem eine Enttäuschung bereiten, der glauben sollte, im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union könnten alte Rechnungen beglichen werden. Mit der Erweiterung leben keine Besitzansprüche oder Rechte aus der Zeit vor der Vertreibung wieder auf: Was vor Abschluss der Europäischen Verträge geschehen ist, wird in diesen Verträgen nicht rückgängig gemacht. Fragen der Eigentumsordnung sind nicht Gegenstand der europäischen Integration. Vor diesem Hintergrund muss ich entschieden davor warnen, die Opfer der Vertreibung im Nachkriegseuropa in der falschen Hoffnung zu wiegen, das Rad der Geschichte könnte noch einmal zurückgedreht werden. Es ist jeder Versuch zum Scheitern verurteilt, die Beitrittsverhandlungen mit Forderungen aus der Vergangenheit zu verbinden oder gar entsprechende Vorbedingungen für den Beitritt zur Europäischen Union zu schaffen. Die Beitrittsbedingungen sind klar und unwiderruflich 1993 in Kopenhagen festgelegt worden. In ihrem politischen Teil verlangen sie demokratische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Schutz von Minderheiten, und zwar in genau dem Sinne, wie Ihr Bundesvorsitzende es eben in Ihrem Namen für die in Rumänien verbliebenen Deutschen gefordert hat. Ich möchte es ganz deutlich auch an dieser Stelle sagen: Kein Land wird Mitglied der Europäischen Union werden, das diese politischen Beitrittsbedingungen nicht aufs Komma genau erfüllt. Ich kann Ihnen das versprechen.
Etwas ganz anderes ist die Frage, wie wir im sich vereinigenden Europa geistig und moralisch mit den Lasten der Vergangenheit umgehen sollten. Das Wichtigste dabei ist der Wille zur Wahrhaftigkeit. Wir wissen, dass die Wahrheit schmerzlich sein kann. Unrecht wird nicht dadurch zum Recht, dass es die Antwort auf ein anderes Unrecht ist. Es ergibt keinen Sinn, Leid und Unrecht auf der einen Seite gegenüber Leid und Unrecht auf der anderen Seite aufrechnen zu wollen. Sinnvoll ist nur eine einzige Erkenntnis: Unser heutiges Verständnis von der universellen Geltung der Menschenrechte erkennt beides als Unrecht und lässt es in Zukunft nicht mehr zu. Damit wird nichts relativiert, auch nicht die historischen Zusammenhänge, auch nicht die bekannte Abfolge von Ursache und Wirkung. Im sich vereinigenden Europa werden nirgendwo und unter keinen Umständen mehr Vertreibung, Enteignung, Unterdrückung oder Diskriminierung als politisches Mittel noch denkbar sein. Es ist vorbei. Wir haben den Teufelskreis durchbrochen. Das scheinbar eherne Gesetz, dass auf Gewalt immer wieder nur Gewalt folgt, ist aufgehoben, weil in diesem Europa Gewalt kein politisches Mittel mehr ist.

Kulturelles Erbe bereichert Europa


Wenn ich gesagt habe, dass wir die Lasten der Vergangenheit nicht in unsere europäische Zukunft schleppen wollen, so sagt das nichts, aber auch gar nichts gegen die Pflege eines kulturellen Erbes wie z.B. die Siebenbürger Sachsen es tun. Die Geschichte und Kultur der Deutschen in Siebenbürgen ist Teil eines gemeinsamen europäischen Erbes, das es wert ist, bewahrt und weitergegeben zu werden. Das gilt hier, und das gilt überall, wo der 2. Weltkrieg und seine Folgen eine manchmal Jahrhunderte alte deutsche Siedlungsgeschichte beendet haben. Ich bin in der jüngsten Zeit viel umhergekommen, zwischen Tartu in Estland, dem früheren deutschen Dorpat, und, zuletzt, Temeswar in Rumänien. Es ist schön zu sehen, wie sehr die jungen Demokratien in diesem Raum das kulturelle Erbe der Vertriebenen als ihr eigenes Erbe betrachten und trotz schwerster ökonomischer Bedrängnisse zu pflegen versuchen. Ich stoße hier auch immer wieder auf anrührende Beispiele der Zusammenarbeit, der Gemeinsamkeit.
Die Europäische Einigung, ich sagte es schon, gibt niemandem die verlorene Heimat zurück. Aber sie schafft etwas anderes. Sie macht das Verlorene wieder erlebbar und begreifbar. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass vielen Menschen, die ihre Heimat verloren und unter bedrückenden Umständen wieder gesehen haben, schon viel damit geholfen ist, dass sie sich für die alte Heimat engagieren können und dass sie der alten Heimat helfen können. Wenn man mich fragen würde, ob Vertriebenenverbände oder Landsmannschaften wie die Ihre auch nach der europäischen Einigung noch eine Aufgabe haben, so würde ich ohne zu zögern antworten, dass sie sogar eine noch wichtigere Funktion erfüllen können als in der Vergangenheit. Sie können und sollen eintreten für Solidarität zwischen den Völkern Europas. Sie können mit dafür sorgen, dass der Platz, den ihre frühere Heimat in Europa einnehmen wird, ein würdiger, ein angemessener Platz sein wird. Ich habe es immer für falsch und ungerecht gehalten, die Liebe zur Heimat mit Revanchismus in Verbindung zu bringen. Wer seine Heimat liebt, der kann kein Revanchist sein, denn er will seiner Heimat keinen weiteren Schaden zufügen.
Lassen Sie mich damit den Blick nach vorne richten und ein kurzes Wort zum Stand und zur Perspektive der Erweiterungspolitik sagen. Der Erweiterungsprozess ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass es kein zurück mehr gibt. Es geht jetzt „nur“ noch darum, ihn so abzuschließen, dass wir die in ihm liegenden Chancen voll nutzen und die möglichen Risiken zuverlässig ausschließen können.
Die Erweiterung stellt im Augenblick das größte Projekt der EU dar, das alle Mitgliedstaaten auch wirklich verbindet. Niemand will sie verhindern, niemand will sie verzögern. Daher entwickelt das Projekt eine große Triebkraft, und je näher wir der tatsächlichen Realisierung kommen, desto intensiver werden die Diskussionen.
Die Erweiterung ist ein Thema von großer Aktualität, und das bedeutet zunächst, dass die Menschen in Europa begriffen haben: Die Erweiterung kommt, und sie kommt bald. Ich bin sehr optimistisch, dass wir die Beitrittsverhandlungen mit den Ländern, die bis dahin alle Bedingungen erfüllen, Ende 2002 abschließen können und dass diese Länder dann, wie in Nizza erstmals angekündigt, an der Europawahl des Jahres 2004 teilnehmen werden. Damit ist das Zeitfenster für die ersten Beitritte beschrieben. Ich kann heute nicht sagen, welche und wie viele Länder innerhalb dieses Zeitfensters das Ziel erreichen werden: Zehn Länder haben angekündigt, dass sie es schaffen wollen, in dieser ersten Runde dabei zu sein, das sind alle Staaten, mit denen wir verhandeln, ausgenommen Bulgarien und Rumänien, beide Länder streben selbst einen späteren Verhandlungsabschluss an, und das ist auch realistisch.
Es ist auf beiden Seiten noch viel zu tun, auf der Seite der Kandidaten und bei uns. Die Kandidaten müssen schwierige Reformen vollenden, ihre Strukturen anpassen und ihre Fähigkeit weiter ausbilden, das europäische Gemeinschaftsrecht anzuwenden.
Auf unserer Seite müssen wir vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Signale weiter auf Grün bleiben. Es ist nicht überraschend, dass jetzt gelegentlich die großen europäischen Ideale mit den alltäglichen nationalen Interessen kollidieren. Das ist normal, und wir werden einen fairen Interessenausgleich finden.

Ängste in Deutschland abbauen


Notwendig ist aber auch, die Bürgerinnern und Bürger Europas über die Erweiterung aufzuklären. In Deutschland, aber auch anderswo heißt das, auf Ängste und Sorgen eine überzeugende Antwort zu bieten. Die meisten kritischen Einwände, denen ich in Deutschland im Zusammenhang mit der Erweiterung begegne, haben mit der Erweiterung im Grunde nichts zu tun. Die Sorgen beziehen sich auf verstärkte Zuwanderung, grenzüberschreitende Kriminalität, Wettbewerbsverzerrungen durch niedrigere Löhne und Sozialleistungen und schlechtere Umweltstandards. Aber wo es das gibt, ist es eine Folge des Verschwindens des Eisernen Vorhangs und der seinerzeit begeistert gefeierten Öffnung der Grenzen. Die Erweiterung schafft diese Probleme nicht, sie macht sie lösbar.
Die tiefgreifenden Veränderungen in Mittel- und Osteuropa bringen schon jetzt große Vorteile für die Volkswirtschaften der EU. Gerade Deutschland profitiert davon, weil die neuen Märkte vor der deutschen Haustür liegen. Die Handelsströme haben sich schon völlig verändert. Unsere östlichen Nachbarn tragen schon jetzt von Jahr zu Jahr mehr zu unserem Wohlstand bei, vor allem durch Steigerung der deutschen Exporte. Wir bereiten diese Länder auf die Mitgliedschaft in der europäischen Union vor. Wir werden einen völlig freien gemeinsamen Markt haben. Die Umweltstandards der neuen Mitglieder werden die unseren erreichen – es wird kein Umwelt-Dumping geben. Die Sozialstandards werden die unseren erreichen – es wird kein Sozialdumping geben. Die Kriminalitätsbekämpfung und die Sicherheit der Grenzen kommt auf unser Niveau – Verbrechen wird besser bekämpft werden können.
Niemand weiß besser als ich, dass diese vielversprechenden Aussichten dennoch kritische Fragen auslösen, gerade in Deutschland. Werden nicht billige Arbeitskräfte auf unseren Markt drängen und die Konkurrenz um Arbeitsplätze verschärfen? Werden nicht unsere kleinen und mittleren Unternehmen einem Wettbewerb ausgesetzt, den sie nicht aushalten können? Aber wem sage ich das? Viele von Ihnen haben es ja selber erlebt, dass diejenigen, die als Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland kommen, nicht überall mit offenen Armen empfangen werden aus genau diesen Gründen, weil die Menschen Angst haben um ihren Wohlstand und Angst haben um ihre Arbeitsplätze. Diese Angst, wie Sie ja alle wissen, ist vollkommen unbegründet. So wie Sie alle, die Sie in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, einen wichtigen Beitrag zum Wohlstand dieses Landes leisten, so tut es auch die Osterweiterung, und ich verspreche und sage Ihnen: Wir werden Probleme in den ost- und mitteleuropäischen Ländern nicht dadurch lösen, dass wir sie in andere Länder der Europäischen Union verlagern. Wenn wir also zum Zeitpunkt der Osterweiterung mit einem Zustrom von Arbeitskräften rechnen müssen, der den heimischen Arbeitsmarkt gefährdet, dann kann dieser Zustrom nicht stattfinden, und er wird auch nicht stattfinden, denn wir werden Übergangsfristen haben, mit denen wir dieses Problem steuern können. Und was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen angeht, so muss man deutlich sagen, dass die deutschen Unternehmen die größten Chancen haben, im Zuge der Erweiterung für sich Vorteile in Anspruch zu nehmen. Sie sind ja den neuen Märkten am nächsten. Es geht also darum aufzuklären, wie man die neuen Chancen nutzt, und es geht um Unterstützung bei der Bewältigung neuer Herausforderungen.

Rumänien hat gute Chancen


Meine Damen und Herren, ich glaube, dass Sie besonders interessiert sein werden, noch ein spezielles Wort über Rumänien zu hören.
Rumänien ist dank seiner Größe, seines wirtschaftlichen Potenzials und seiner strategischen Bedeutung ein besonders wichtiges Kandidatenland. Es ist aber zugleich ein besonders schwieriges, weil die Ceausescu-Erbschaft politisch, ökonomisch und leider auch moralisch die schlimmste im ganzen früheren Ostblock ist. Kein Land war politisch, ökonomisch und moralisch so heruntergewirtschaftet worden wie Rumänien. Und ein weiteres Problem: In den zehn Jahren nach der Wende sind die notwendigen wirtschaftlichen Reformen immer wieder verschleppt worden. Das Ergebnis: Rumänien ist noch ärmer als die meisten, leidet unter schroffen sozialen Gegensätzen und ist außerdem in seiner Entwicklung behindert durch eine fast allgegenwärtige Korruption.
Das ist kein schönes Bild. Aber dennoch ist Rumänien nicht ohne gute Chancen. Die demokratischen Institutionen sind stabil, Minderheiten sind besser geschützt, als es sonst Standard in diesem Teil Europas ist, das Land spielt eine stabilisierende Rolle in einer unruhigen Region. Die EU unterstützt Rumänien mit 630 Millionen Euro jährlich, das sind fast 1,3 Milliarden D-Mark.
Seit der letzten Wahl hat die innenpolitische Lage sich in Rumänien deutlich stabilisiert. Die politischen Voraussetzungen für durchgreifende Reformen sind besser denn je. Die neue rumänische Regierung kennt die Prioritäten sehr genau. Rumänien kann mit der vollen Unterstützung der EU rechnen, wenn das Land sich jetzt endlich entschlossen auf dem Weg zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen bewegt. Rumänien hat keinen leichten Weg vor sich, bis es in die EU aufgenommen werden kann. Aber dieses wichtige Land ist willkommen in Europa, und es hat die Fähigkeit, die Beitrittsbedingungen zu schaffen. Sie, die Siebenbürger Sachsen, möchte ich ausdrücklich dazu aufrufen, Rumänien dabei zu helfen, und ich ermutige Sie ausdrücklich zum wirtschaftlichen und kulturellen Engagement in Rumänien. Das Land hat Zeichen der Solidarität von außen bitter nötig.
Je mehr ich mich mit Europa beschäftige und je mehr ich anfange zu verstehen, was Europa so einzigartig macht, um so klarer wird für mich, dass Europa zwar vieles kann, aber eines kann es nicht: es kann nicht die Heimat ersetzen. Es mag ein konservativer Gedanke sein, aber ich stehe dazu: Wenn wir glücklich sein wollen, brauchen wir Heimat. Wir brauchen das Vertraute. Wir müssen wissen, wo wir hingehören und wo wir unsere Wurzeln haben. Liebe zur Heimat bedeutet nicht Abgeschlossenheit, bedeutet nicht, dass man auf andere herabblickt und sich für besser hält. Wenn Heimat ein Lebensgefühl ist, und das ist es, dann stellt sich die Frage: Wie bringen wir das zusammen mit einem Europa, das für viele Menschen nicht recht durchschaubar ist? Ich kenne die Angst, dass europäische Regelungen zu tief eingreifen in das tägliche Leben; dass Dinge geregelt werden, die nicht unmittelbar einsichtig sind. Ich kenne auch die Sorge, dass die Substanz der politischen Entscheidungsfreiheit auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene dadurch ausgehöhlt werden könnte.
Man muss das ernst nehmen. Man muss die Sorgen der Menschen immer ernst nehmen. Vor diesem Hintergrund finde ich es gut, dass jetzt in Europa eine breite Diskussion begonnen hat über die demokratische Legitimierung europäischer Entscheidungen, über ihre Hintergründe, die Arbeitsteilung zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene. Wir wollen nie vergessen: Die große Stärke Europas liegt in seiner Vielfalt, die enorme schöpferische Kräfte freisetzt. Europa gefährdet diese Vielfalt nicht, Europa schützt sie. Wir können sehr gut gleichzeitig gute Deutsche und gute Europäer sein. Beides zusammen macht unsere Identität aus, und diese Identität ist es, die uns letztlich nur schützen kann vor jedem Rückfall in nationalistische Borniertheit oder Überlegenheitswahn.
Lassen Sie mich schließen mit einem optimistischen Ausblick. Europa hat die richtigen Lehren gezogen aus der unglücklichen Geschichte des vergangenen Jahrhundert. Im neuen Jahrhundert bereitet Europa sich darauf vor, kommenden Generationen eine Heimat zu bieten, die nie wieder von Krieg und Vertreibung zerstört werden wird.
(Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 20. Juni 2001, Seite 3)

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Rumänien hat gute Chancen
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