6. Juni 2004

Ausstellung in Dinkelsbühl: "Ihr seid verrückt, wie könnt ihr die Heimat verlassen ?"

Die Ausstellung "'Ihr seid verrückt, wie könnt ihr die Heimat verlassen …?' Siebenbürger Sachsen im Herbst 1944" wurde mit einer rhetorisch beeindruckenden Einführung von Horst Göbbel am 29. Mai in Dinkelsbühl eröffnet. Die Rede wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.
"Ihr seid verrückt, wie könnt ihr die Heimat verlassen …?" Siebenbürger Sachsen im Herbst 1944 Originalton Thomas Göbbel (1864-1954) aus Jaad, mein Großonkel – im September 1944. Er hat - als einer der wenigen im Dorf - die Evakuierung nicht angetreten. Dafür musste er schwer büßen.

Im September 1944 brechen die Trecks aus Nordsiebenbürgen und einigen grenznahen Orten Südsiebenbürgens ins Ungewisse auf. Nach einem letzten Gottesdienst und Glockenläuten fahren die Wagen, von Pferden oder Hornvieh gezogen, mitunter mit Kober bedeckt, aber fast immer überladen, aus den Höfen, formieren sich zur Kolonne und kehren nach einem kurzen Halt am Friedhof ihrer Heimat den Rücken. Das Foto zeigt den Auszug aus Billak.
Im September 1944 brechen die Trecks aus Nordsiebenbürgen und einigen grenznahen Orten Südsiebenbürgens ins Ungewisse auf. Nach einem letzten Gottesdienst und Glockenläuten fahren die Wagen, von Pferden oder Hornvieh gezogen, mitunter mit Kober bedeckt, aber fast immer überladen, aus den Höfen, formieren sich zur Kolonne und kehren nach einem kurzen Halt am Friedhof ihrer Heimat den Rücken. Das Foto zeigt den Auszug aus Billak.

"Äm Goor 44 sä mer no Östreich geflicht …" Auch heute, 60 Jahre danach, auch heute gibt es bei unseren Familienzusammenkünften kaum ein Thema, das so umfassend, so stundenfüllend, mit so viel Nachdruck …. von meinem Bruder Thomas erzählt wird, wie das Thema Flucht 1944. Er war vierzehneinhalb, als es im September in Jaad losging. Ich selber wurde zwei Wochen später in einem für Flüchtende umgebauten Viehwaggon am 2. Oktober 1944 irgendwo in Ostungarn geboren. Das sage ich heute so nebenbei – jedoch war dies nicht nur für mich ein gewichtiges Ereignis. Meine Mutter (1914-20039 schrieb dazu 1986:

"In unserem Waggon waren acht schwangere Frauen mit ihren Kindern. In der Nacht breiteten wir uns das Stroh aus, eine Decke drauf, das war unser Bett. Früh morgens wurde alles aufgeräumt, alle saßen am Boden, Stühle gab es ja keine. Am 2. Oktober 1944, 9 Uhr früh, eine Woche nach dem Tod meiner Schwiegermutter, habe ich im Waggon in einer Ecke auf Stroh ein Mädchen und einen Jungen geboren. Die Tochter der Hebamme brachte von der Lokomotive warmes Wasser. Damit wurden die Zwillinge ein wenig gewaschen und dann angezogen. Wir befanden uns in Ofeherto. Die Hebamme fragte mich, wie sollen die Kinder heißen? Ich dachte lange nach, dann sagte ich Horst und Erika. In der Nacht zum 3. Okt. ging es dann wieder weiter bis Nyiregyhaza, wo wir dann fünf Tage lang auf einem toten Gleis warteten. Am Tag vorher hatte es dort Bombenangriffe gegeben, wir sahen noch die Bombentrichter. "

Analog zur chinesischen Redensart: "Willst du schnell an dein Ziel gelangen, dann musst du einen Umweg machen", behaupte ich forsch im Zusammenhang mit der Flucht der Nordsiebenbürger Deutschen im Herbst 1944: "Willst du etwas genau sehen, dann musst du die Augen schließen". Ich wage ein Experiment. Ich bitte Sie, die Augen zu schließen und die Flucht der Nordsiebenbürger 1944 in Augenschein zu nehmen – völlig gleichgültig, ob Sie dabei waren, davon über Dritte erfahren, in Büchern oder im Internet darüber gelesen haben oder bisher noch gar nicht mit diesem Thema konfrontiert wurden. Etwas sehen sie bestimmt. Mehr sogar, als Sie vermutet haben. Ich bitte Sie, die Augen zu schließen und die Flucht der Nordsiebenbürger 1944 in Augenschein zu nehmen …

Was immer Sie nun sehen, nachempfinden, hinter ihrem geistigen Auge wahrnehmen – es ist wohl größtenteils etwas anderes, als das, worauf ich Sie im Folgenden aufmerksam machen möchte.

Herbst 1944. Evakuierungsbefehl. Einige erahnten die Katastrophe, auf die unser Volk unweigerlich zusteuerte. Viele wollten das Bedrohliche, das sich mit rasendem Tempo näherte, nicht wahrhaben und stellten die Kardinalfrage in drastischer Art: "Ihr seid verrückt, wie könnt ihr die Heimat verlassen …?" Ich sagte es schon: Mein Großonkel Thomas Göbbel (1864-1954) aus Jaad hat diese Befindlichkeit dieser unsicheren Tage ausgedrückt. Er hat – als einer der wenigen im Dorf - die Evakuierung nicht angetreten Dafür musste er büßen. Als am 12. Oktober Soldaten der Roten Armee in ihr Haus eindringen, erlitt seine Ehegattin einen Todesschreck.

War es ein Fehler vor 60 Jahren, die Heimat zu verlassen? Waren die Menschen verrückt, ihrer über alle Maßen geliebten Heimaterde "Ade" zu sagen? Oder hatten sie keine realistische Alternative dazu? Wurden sie gezwungen, diesen unerhörten Schritt zu tun? Oder konnten sie frei entscheiden, ob sie gehen oder bleiben?

Viele, viele Fragen. Antworten bieten die Ausstellung, ein Festvortrag von Dr. Thomas Nägler in der Paulskirche, Publikationen oder Ausssagen von Zeitzeugen – Letzteres nicht mehr lange (der siebenbürgische Filmemacher hat hier in Dinkelsbühl dafür ein Zeitzeugenstudio eingerichtet).

Hier in dieser Ausstellung stelle ich andere Fragen. Heute, 60 Jahre danach, frage ich: Was bewahren wir davon auf? Was vergessen wir? Was beachten wir? Was stellen wir aus? Was ist uns wert, nicht ad acta gelegt zu werden? Ist es mehr als das rein Persönliche? Gehören dazu auch Tugenden, Eigenschaften, die sich in langen Zeiträumen herausgebildet haben? Etwa Fleiß, Hartnäckigkeit, Sparsamkeit, Geradlinigkeit, Zuverlässigkeit, Festhalten am christlichen Glauben, Durchsetzungsvermögen auch unter widrigsten Bedingungen, Mut und Bereitschaft zum Neuanfang?

Die Katastrophe von 1944/45 in Siebenbürgen begann mit der Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen im Herbst 1944. Sechzig Jahre danach wollen wir zurückblicken, uns erinnern, bedenken …

Wir haben heute hier die Gelegenheit, 1944 Geschehenes an konkreten Objekten festzumachen. Draußen im Spitalhof haben Sie schon den Fluchtwagen aus Dinkelsbühl, mit dem der verstorbene Georg Krauß sen. 1944 mit seiner Familie von Deutsch-Zepling nach Österreich flüchtete, in Augenschein nehmen können. Er ist natürlich wie ein Kleinod konserviert worden und sah sicherlich im Herbst 1944 keineswegs so glänzend aus. Das belegen die Erinnerungen über die Fahrt mit dem Treck (Johann Rauh aus Kyrieleis, B.S. aus Bistritz, Johann Grum aus Deutsch Zepling). Manche sind mit Wehrmachtslastkraftwägen unterwegs gewesen, sehr viele wurden mit der Eisenbahn transportiert, wie sich beispielsweise Johann Mann aus Maniersch. Der Sprachwissenschaftler Dr. Friedrich Krauß nahm statt Hausrat seine 800 000 Zettel auf die Flucht und legte damit den Grundstein fpür das Nordsiebenbürgisch-sächsische Wörterbuch.

Was haben die Flüchtenden mitgenommen? Lebensmittel, Kleidung, Hausrat, Kelche … Flucht und Evakuierung – das klingt nicht positiv, das hat mit Abschied, mit Schmerz, mit Trennung zu tun. Flucht und Evakuierung – das klingt bedrohlich, hier erwartet man kurzfristig Böses, Schlimmes, Existenzgefährdendes, wovor man sich durch Ausweichen, durch In-Bewegung-Setzen zu retten versucht. Flucht und Evakuierung – das klingt hart, brutal, negativ und ist für den Moment doch der einzige – der rettende - Strohhalm, denn Flucht trägt auch das Fünkchen Hoffnung in sich.

Mal ganz anders gesehen: Sie haben es vorhin, als Sie die Augen geschlossen haben, sicherlich sehr klar gesehen: Auf der Flucht wurde viel geweint, gehungert, gelitten, man hatte viel Angst, es gab viel Ungewissheit, die Unsicherheit war bedrückend – aber (und da bin ich nicht so sicher, ob Sie dies auch gesehen haben: Man hat auf der Flucht auch gestritten, man hat überlegt, sich täglich kleine Ziele gesetzt, sie erreicht, man hat geplaudert, sich gegenseitig Mut gemacht, man hat gelacht, gesungen …, man hat äußerst intensiv gelebt – völlig neue Erfahrungen gesammelt – man hat auch Dankbarkeit verspürt, man war auch zufrieden …

Oft wird heute von der so genannten Erlebnisgesellschaft gesprochen – Erlebnisparks – Sie wissen, diese Mickey-Mouse-Welt, dieses Disney-Land in Amerika, bei Paris, in Rust - da gibt es „Fun“ – Leute stürzen sich an Gummiseilen von hohen Brücken in die Tiefe, rennen in acht Stunden auf den Mount Everest, lassen sich im Urlaub von recht lauten, einfallslosen Typen animieren, besuchen Las Vegas oder den Europa-Park Rust, um etwas zu erleben …

Wie war das im Herbst 1944 ? – Da spielte sich besonders intensives Erleben live ab – ohne vorher ein teures Ticket zu lösen …

Das war auch, das war für mich die wahre Erlebnisgesellschaft: Von heut auf morgen im Treck, mit dem Wehrmachtswagen oder mit der Eisenbahn unterwegs ins Ungewisse, von Siebenbürgen nach Österreich, von dort zum Teil nach Bayern bzw. wieder zurück nach Siebenbürgen in eine gegnerische Umgebung, in eine Welt der Enteignung, Entrechtung, Drangsalierung – was unsere Eltern und Großeltern damals erlebt haben, das war vielseitig, vielfältig, anstrengend, hart. Dieses Erleben war jedoch auch stärkend, der Lebenswille war in die Zukunft gerichtet, wie in den Jahrhunderten vorher auch…

Der Sachse – und nicht nur er – aber hier geht es um ihn: Der Sachse weiß: "Wir können uns aus der Zeit nicht herausstehlen. " Und ebenso weiß er: "Unsere Zukunft hat eine lange Vergangenheit. " Dazu gehört – besonders heuer, 60 Jahre danach – auch das lang anhaltende Trauma Evakuierung.

Altes und Neues, Vergangenes und Künftiges - sie gehören zusammen. Sie sind unterennbar miteinander verbunden. Diese Ausstellung kann helfen, Lücken zu schließen. Diese Ausstellung kann helfen, neue Fragen an uns heranzulassen. Diese Ausstellung kann uns helfen, uns aus dem Alltagseinerlei zumindest für Momente wohltuend zu verabschieden – auch wenn das Thema, das diese Ausstellung markiert, im Grundton ein Trauriges ist.

Lassen Sie Sich auf diese anders geartete Ausstellung ein – so wie sich Hans-Werner Schuster in besonderem Maße auf das Thema Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen eingelassen und eine exzellente Ausstellung dazu hier erstellt hat.

"Ihr seid verrückt, wie könnt ihr die Heimat verlassen …?" Nein, lieber Großonkel, wir sind nicht verrückt. Wir haben die Heimat verlassen und haben uns und unsere siebenbürgische Seele gerettet. 1944 und später. Später, als wir – Gott sei Dank – nach Deutschland oder nach Österreich kommen durften, um wieder freie Sachsen zu werden.

Horst Göbbel

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