20. Juni 2004

Dieter Schlesaks "Transsylvanische Reise"

Auf den Spuren der Erinnerung bewegt sich Dieter Schlesak durch einst vertraute Landstriche, deren Beschaffenheit und Bewohner vom umfassenden „posthistorischen“ Verwestlichungsprozess der letzten fünfzehn Jahre teils bis zur Unkenntlichkeit verändert und damit fremd geworden sind. Dieses Buch beschränkt sich aber nicht darauf, „Horror und Absurdität des neuen Zustands“ zu beschreiben, es sucht vielmehr, gerade die dunklen Kapitel der Geschichte im Hinblick auf die Gegenwart und mögliche Zukunftsperspektiven zu hinterfragen: „Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens“ ist 2004 bei Edition Köln erschienen, 192 Seiten mit Abbildungen, ISBN 3-936791-07-4, 16,90 Euro.
„Zuhause“ – im Zentrum dieses Begriffs steht wohl nicht allein für Dieter Schlesak die Kindheitswelt. So ist es denn auch kein Zufall, wenn seine Reise- und Gedankenwege immer wieder dahin streben, um jenen materiellen wie spirituellen Ort stets aufs Neue zu erkunden: „Ich taste die bekannte Tapete ab, die Wände. Da, ein Stück blaue Wand, alte Ölfarbe oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, darin das Schild TRANSSILVANIA, es kommen noch viele Einzeldinge und Eindrücke auf mich zu, voller Zeit noch, bekannt also, doch sie binden sich nicht mehr, fallen aus der Gegenwart heraus, fallen aus diesem Alltagsgefühl: heute.“

Die Reiseerfahrungen, die Schlesak unterwegs von Bukarest über Hermannstadt nach Schäßburg gesammelt hat, sind mit einer Fülle von Detailinformationen ummantelt. Von statistischen Zahlen – etwa zu gegenwärtigen Bevölkerungsstrukturen oder Schwindel erregenden Preissteigerungen, gepfefferten Akkordnormen oder märchenhaften Schleuserprofiten – bis zu historischen Daten, die vorwiegend das 20. Jahrhundert betreffen, teils aber bis ins Mittelalter zurückführen, dokumentieren die vielfältigsten Fakten den radikalen Wandel aller Lebensbereiche im heutigen Rumänien. Denn dieser Wandel ist überall sichtbar, greifbar, nicht nur die Ortschaften, auch die Landschaften sind teils nicht wiederzuerkennen.

Hinzu kommen die seelischen und geistigen Verwirrungen und Verwerfungen eines solchen Transitprozesses, die Schlesak in ungezählten Gesprächen mit alten und neuen Bekannten zu verstehen sucht: Da ist zum Beispiel die sächsische Bäuerin aus Denndorf, die Für und Wider ihrer bevorstehenden Ausreise abwägt. Da ist der pensionierte deutsche Lehrer aus Schäßburg, der auf folgenschwere Mängel des heutigen Schulbetriebs hinweist. Da ist die alte Zigeunerin aus Rothberg, die vom aussichtslosen Alltag ihrer Großfamilie berichtet. Da sind die rumänischen Mitarbeiter der Hermannstädter „Euphorion“-Redaktion, die über ihre Entfremdung und Entgeisterung nachdenken. Da ist ein junger ostdeutscher Kunsttischler, der die Trappolder Burg bewohnbar machen und den sanften Tourismus fördern will. Und da ist der Bischof der Evangelischen Landeskirche aus Hermannstadt, der die neuen Wirkungsbereiche der im Land verbliebenen Seelsorger würdigt. Schlesak lässt die unterschiedlichsten Menschen zu Wort kommen, deren Erlebnisse und Erfahrungen um eine vom schnöden Mammon besetzte und damit eines tieferen Sinns beraubte Daseinsmitte kreisen und einen Strudel erzeugen, dessen Sog auch den Leser erfasst und mitreißt.

Die „Transsylvanische Reise“ beschränkt sich aber keineswegs auf eine Beschreibung des Status quo. Schlesak befragt darüber hinaus die Geschichte dieses Landstrichs und seiner vielfältigen Völker und Kulturen nach möglichen Weichenstellungen für die heutige Situation. Und da zeigen die beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ihre Nachwirkungen: Faschismus und Kommunismus haben das individuelle wie das kollektive Bewusstsein so sehr zu beschädigen und zu lähmen vermocht, dass Demokratie und Freiheit nach wie vor bloß als (Tot-)Schlagworte für eine künftige (Un-)Möglichkeit im Schwange sind. Auch ethische, philosophische und religiöse Wertvorstellungen wurden von den Schutthalden der Historie und Posthistorie verschüttet, wie bei rumänischen Denkern (z. B. Noica, Manea, Boia, Patapievici) nachzulesen, deren Erkenntnisse Schlesak immer wieder zitiert und diskutiert. Doch die Gegenwart lässt sich nicht anverwandeln, sie widersetzt sich dem redlichen Bemühen des Autors, bleibt fern und unzugänglich. Und die Erinnerungen, so nahe und vertraut, gehören anderen, vergangenen Zeiten an. Schlesak ist im ehemaligen Zuhause in der Fremde angekommen.

Übrig bleiben nur Fragen, etwa: Wie lassen sich Gedächtnismetaphysik und Posthistorie zusammenbringen? Und: Gehören dazu unbeschädigte Menschen, nicht wir? Schlesak maßt sich nicht an, die Antworten zu kennen, doch gibt er wachen, neugierigen Lesern einen „merkwürdigen Satz“ des Philosophen Liiceanu mit auf den Weg: „Jede ungeschehene Geschichte ist noch unglaubwürdig, doch sie wird nicht glaubwürdiger, wenn sie geschehen ist.“ Auch in diesem Sinne sind Schlesaks „Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens“ ein Reisebuch „der anderen Art“: eine essayistisch umrissene zeitgenössische Odyssee.

Edith Konradt



Dieter Schlesak, „Eine Transsylvanische Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens“, 192 Seiten mit Abbildungen, Edition Köln, 2004, ISBN 3-936791-07-4, 16,90 Euro.
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