15. Juli 2004

Aufwühlendes Zeitdokument: Schienen in den Bombenhagel

Vier Zeitzeugenberichte erinnerten am Pfingstsonntag beim Heimattag in Dinkelsbühl an die dramatischen Geschehnisse von Flucht und Evakuierung der Deutschen Nordsiebenbürgens und einiger südsiebenbürgischer Gemeinden vor 60 Jahren. Rund 40 000 deutsche Flüchtlinge und Evakuierte suchten in einem größtenteils "generalstabsmäßig geplanten Unternehmen" der heranrückenden Roten Armee zu entkommen. Transportmittel waren teils Pferdewagen, teils aber auch Lkw oder Züge, wie im Falle der Familie Scholtes, die am 11. September 1944 Bistritz verlassen musste. Sechs Jahrzehnte später schildert Ursula Tobias-Scholtes, damals Kind, heute pensionierte Lehrerin, ihre Erlebnisse in den nachfolgenden Aufzeichnungen, die im Rahmen einer Publikationsserie wiedergegeben werden.
Am 8. September 1944 wurde in Bistritz zum ersten Mal ernstlich von einer Flucht gesprochen. Tags darauf kam der Widerruf. Es war Sonntag und wir freuten uns, bei Rudionkel (Bruder meines Vaters) und Gerdatante im schattigen Garten Verstecken und Verklopfen zu spielen. Wir waren so froh, nicht weg zu müssen. - Montag, den 11. September, 14.00 Uhr: Alarm! "In einer Stunde holt euch ein deutscher Militärlastwagen ab. Mütter mit vier Kindern und mehr oder Schwangere werden zu ihrer Sicherheit per Bahn weggebracht." Es hieß Lebensmittel und Kleidung für zwei Wochen einpacken, aber nur so viel, wie jeder selbst tragen kann. Das war sehr wenig, denn meine Schwester Helgard war fünf Jahre, ich zehn, mein Bruder Horst zwölf und mein Bruder Friedrich vierzehn Jahre alt. Meine Mutter hatte in die gute Kostümjacke 10 000 Pengö eingenäht, Friedrich trug sein Konfirmationsgeld um den Hals. Die Väter mussten zum Heimatschutz zurück bleiben.

Siebenbürgische Schicksalsgemeinschaft versorgt sich notdürftig bei einem Zwischenstopp ihres Zuges. Foto aus der Dokumentationsausstellung Nordsiebenbürgen, die in Dinkelsbühl gezeigt wurde und ab September bei den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtagen in Nürnberg zu sehen ist.
Siebenbürgische Schicksalsgemeinschaft versorgt sich notdürftig bei einem Zwischenstopp ihres Zuges. Foto aus der Dokumentationsausstellung Nordsiebenbürgen, die in Dinkelsbühl gezeigt wurde und ab September bei den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtagen in Nürnberg zu sehen ist.

Wir wurden außerhalb von Bistritz in Szeretvalva einwaggoniert. Unsere schwangere Gerdatante mit dem neun Monate alten Peter kam in ein Abteil im Personenwagen. Für unsere Cousine Christl (12) gab es dort keinen Platz und so kam sie zu uns. Wir hatten einen offenen Plattformwagen bei strömendem Regen bezogen. In der Mitte des Waggons lag etwas Stroh, mit einer Plane bedeckt. Erst früh um fünf Uhr setzte sich der so genannte Flüchtlingszug, bestehend aus 60 Waggons, vorwiegend mit Marketenderware, in Bewegung. Friedrich, der als großer Lausbub bekannt war, übernahm nun die Rolle des Beschützers für beide Familien. Er baute uns mit ein paar gestohlenen Brettern ein Dach über den Kopf. In Dej blieben wir das erste Mal stecken: Brennstoffmangel. Dies wiederholte sich immer wieder, so dass wir bis zu unserer Ankunft in Dresden, wo der Bruder meiner Mutter (Dr. Otto Lang) als Arzt tätig war, über sieben Wochen unterwegs waren.

"Mama heraus, wir verbrennen!"

Für uns Kinder begann das große Abenteuer, für unsere Mütter die großen Aufregungen und Ängste. Ich möchte nur die einschneidendsten Erlebnisse erzählen: Szatmarnemeti war die erste große Stadt, die wir sahen und die erste, die schon Bombenschäden erlitten hatte. Abends gegen 20.00 Uhr, als wir gerade an unserem gewohnten Schlafplatz auf der Plattform waren, sahen wir eine Stalinkerze, dann mehr, immer mehr, bis es taghell war und die Sirenen heulten. Der Zugführer befahl: "“m Zug bleiben! Unser Zug wird herausgezogen.“ Ein Zug mit Verwundeten wurde herausgezogen, wir nicht. Immer dichter erschienen die Stalinkerzen. Immer näher kamen die Einschläge. Wir bekamen Angst. Es rührte sich nichts. Da griff Friedrich ein und schrie: „Mama heraus, wir verbrennen!“ Wir rannten und krochen im Schatten der vielen Waggons bis zum Zugende. Wo sollten wir hin? Wir legten uns unter den nächstbesten Waggon, der zu unserem Glück mit Quadersteinen beladen war. Wir lagen bäuchlings im Dreck. Mama schrie: „Fasst mich alle an, damit ich spüre, wenn ihr getroffen werdet!“ Toben, Lärmen, Krachen, Schreien. Es wurde immer schlimmer, grauenvoll! Der Boden unter uns, der Waggon über uns bebte. Wir hielten uns die Ohren zu. Menschenteile flogen herum. In dieser größten Not begann der vor kurzem konfirmierte Friedrich das Vaterunser zu beten. Wir sprachen es mit. Es wurde still um uns. Die Leute neben uns begriffen nicht, wieso wir still wurden. Nach eineinhalb Stunden hörten die Bombeneinschläge auf. Ruhe trat ein. Unheimliche Stille. Wir hatten überlebt. Was war aber mit Gerdatante und Peter? Der Wagen von Gerdatante brannte, Christl war verzweifelt: „Mama, wo bist du?“ Nach der dritten Angriffswelle fanden wir Gerdatante in einem Waggon, wo ein Eisenbahner mit seinen vier Kindern um das Bett seiner Frau saß, die eben entbunden hatte. Peterle hatte Glassplitter am Kopf und an den Armen. Was spielte es da für eine Rolle, dass all unser Geld, Pässe und Papiere verbrannt waren. Wir lebten. Auf unserem „Strohbett“ lagen Granatsplitter. In der nächsten Nacht wieder Angriffe. Nach zwei Tagen endlich wurde unser Zug herausgezogen. So erlebten wir fast jeden Abend Fliegeralarm. Wir schliefen meist in den Maisfeldern, klauten uns Essbares und waren überglücklich, wenn der Zug ein Stückchen weiter fuhr. Mit diesen täglich sich wiederholenden Erlebnissen kamen wir nach vier Wochen in Budapest an. Am 15. Oktober erlebten wir dort den Putsch und dessen Auswirkungen, dass Horty den Russen ein Friedensangebot gemacht hatte. Auf die Deutschen wurde geschimpft, geschossen. Aufruhr. Angst. Wohin? Deutsche Soldaten wollten uns helfen, zu Fuß zur sudetendeutschen Grenze zu gelangen: ca. 120 km Wegstrecke. Friedrich wollte Helgard auf den Schultern tragen, um unser nacktes Leben zu retten. Zwei Stunden Bangen, dann war der Putsch niedergeschlagen und wir fuhren mit dem Zug Richtung Deutschland. Aufatmen. Kaum im Sudetenlande, wurde uns Friedrich mit Polizeigewalt weggenommen. Er hatte hohes Fieber und es bestand Verdacht auf Typhus. Meine Mutter musste mit uns drei „Kleinen“ allein nach Dresden fahren zum ausgemachten Treffpunkt bei ihrem Bruder Otto. Gerdatante und Christl hatten wir in den Wirren auch schon verloren. Obwohl wir uns versprochen hatten, uns nie zu trennen. Friedrich kam zehn Tage später. Der Typhusverdacht hatte sich nicht bestätigt. Ohne Geld und Proviant hatte er sich allein durchgeschlagen.

"Suppenglück"

Rudionkel suchte in Dresden verzweifelt seine Familie. Wir durften nicht in Dresden bleiben, die Stadt war für Flüchtlinge gesperrt. So kamen wir in die Oberlausitz, meine Brüder ins Internat nach Meißen. Am 13. Dezember kam endlich eine Karte von Gerdatante, von Dr. Otto Lang aus Dresden. Gerdatante hatte Typhus bekommen, ihr ungeborenes Kind verloren, viel Schweres mitgemacht. Weihnachten verlebten wir zusammen voller Dankbarkeit. Von unseren Vätern kam Post.

Die russische Front kam bedrohlich näher und so begann im Februar die zweite Flucht im Treck, zu Fuß. Nur kleine Kinder und alte Leute fanden auf den Wagen Platz. Wir zogen Richtung Meißen, sahen von weitem Dresden brennen und wussten noch nicht, dass Ottoonkel am 13. Februar als Arzt im Einsatz ums Leben gekommen war. Als wir mit dem Treck durch Meißen zogen, gelang es Mama, meine Brüder telefonisch zu verständigen, dass wir wieder auf der Flucht waren. Friedrich sagte: „Wir essen nur schnell unsere Suppe, wir haben Hunger!“ Auf dem steilen Weg hinunter in die Stadt kam ihnen ein ungarischer Offizier entgegen: unser Tata! So kamen sie zu dritt zum Treck. Hätten sie die Suppe nicht gegessen, wären sie aneinander vorbei gerannt und wir hätten uns nicht getroffen.

Tata hatte zehn Tage Urlaub bekommen, mit dem Fahrrad uns vergeblich in Dresden und in der Oberlausitz gesucht. Nun wollte er seine Söhne sehen und traf uns alle. Schicksal? Unsere Wege trennten sich wieder: meine Brüder zurück ins Internat, Tata zu seiner Einheit. Die Jungen mussten nun in Dresden die Toten bergen. Unser Weg ins Ungewisse ging weiter, es war trostlos. Würden wir uns je wiedersehen? Es war kalt. Tiefflieger beschossen uns, wir lagen zwischen Leichen im Straßengraben. Unsere Familien trennten sich wieder in Nossen, da Gerdatante mit den Kindern nach Hamburg bei einer Familie Aufnahme fand, deren Sohn zur „Kinderlandverschickung“ bei ihnen gewesen war. Wir zogen weiter in den Bayerischen Wald, nach Großarmschlag. Wie der Ortsname klang, so armselig war es dort auch.

Kurz vor Kriegsende kamen unsere beiden Buben zu uns. Friedrich mit dem Soldbuch in der Hand. Er sollte und wollte mit dem „Werwolf“ Deutschland verteidigen. Dazu kam es nicht, weil ein Beamter Friedrichs Papiere nicht finden konnte (oder wollte). Wie sollte mein Vater uns finden? Auch da gab es wieder eine Fügung. Als meine Tante in Passau zum Arzt musste und vor dem Regen in einem Torbogen Schutz suchte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Die Stimme kam von meinem Vater, der in einem Militärlastwagen vorbeifuhr. Und so konnte er unseren Aufenthaltsort im Bayerischen Wald erfahren. Nach Monaten kam er mit einem selbstgebastelten Leiterwägelchen bei uns an. Unsere Familie war wieder vereint. Nun hieß es, eine neue Existenz aufbauen. Der Überlebenskampf begann von neuem.

Ursula Tobias-Scholtes

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 30. Juni 2004, Seite 6)

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