10. August 2004

Dieter Schlesak - ein Leben für die Literatur

Es ist noch nicht allzu lange her und doch schon Literaturgeschichte, dass der Publizist und Herausgeber Jürgen Serke Anfang der 80er-Jahre jenen toskanischen Berg bestieg, auf dem der siebenbürgische Autor Dieter Schlesak 1973 sein selbst gewähltes Exil angetreten hatte.
Eine denkwürdige Begegnung. Serke recherchierte für sein Buch „Das neue Exil. Die verbannten Dichter“, mit dem er das ebenso platte wie bequeme Rechts-Links-Denken aufzubrechen suchte, das damals in weiten Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit einer differenzierten Wahrnehmung der aus sozialistischen Ländern emigrierten oder exilierten Schriftsteller im Wege stand. Und traf ganz unverhofft auf einen wahren Sisyphos des Wortes. Denn Schlesak, der sich nach siebenjähriger Arbeit an seinem Roman „Vaterlandstage oder Die Kunst des Verschwindens“ eine epische Pause gegönnt und den Gedichtband „Weiße Gegend – Fühlt die Gewalt in diesem Traum“ veröffentlicht hatte, führte Serke durch das unwegsame, teils verschüttete Gelände eines halben Jahrhunderts Lebens- und Zeitgeschichte mit den Hypostasen ihres Scheiterns seit den 30er-Jahren auf das „Themengebirge“ seines gerade wieder aufgenommenen Prosawerks. „Da versucht einer, unsere unüberschaubar gewordene Welt wieder überschaubar zu machen, die Atomisierung des Wissens aufzuheben, einen neuen Lebenszusammenhang herzustellen und mit diesem Versuch der Literatur wieder den Rang zurückzugewinnen, den sie bis James Joyce und auch noch im Scheitern Robert Musils (,Der Mann ohne Eigenschaften’) gehabt hat: ihrer Zeit voraus zu sein. Sechstausend Seiten hatte er niedergeschrieben und dann alles beiseite gelegt. Weiter gekommen wäre er allemal. Noch einmal sechstausend Seiten. Und dann wieder. Ein Schreiben ohne Ende. Grenzenlos“, hielt Serke fasziniert fest.
Dieter Schlesak bei einer Lesung vor einigen Jahren im Münchner Haus des Deutschen Ostens. Foto: Konrad Klein
Dieter Schlesak bei einer Lesung vor einigen Jahren im Münchner Haus des Deutschen Ostens. Foto: Konrad Klein

Fünf Jahre später war dieses Opus magnum, das zu fassen versuchte, was – so Serke – „unfassbar schien“, dann doch abgeschlossen und erschien bei Benziger in Zürich. Dass es, zumindest von vielen Landsleuten des Autors, damals als Stein des Anstoßes empfunden und abgelehnt wurde, spricht keineswegs gegen das Buch und ist heute, falls überhaupt, nur für die Rezeptionsgeschichte von Belang. Denn Schlesak ist es mit seinem Erstlingsroman gelungen, sich aus der regional tradierten, auf die biedermeierliche Idylle fixierten siebenbürgisch-sächsischen Heimatliteratur heraus- und in die moderne deutsche Gegenwartsliteratur hineinzuschreiben. Und dafür waren sowohl inhaltliche wie auch formale Gesichtspunkte maßgeblich: „Vaterlandstage oder Die Kunst des Verschwindens“ reflektiert die von der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur sowie vom Exodus verschlungenen (Über-)Lebensmöglichkeiten und setzt diesen Bewusstseinsprozess adäquat um in eine „Hirnsyntax“, die den Geschichts-, Identitäts-, Sinnen- und Sinnverlust als existenzielle Grenzphänomene sprachlich überzeugend zu transportieren vermag. Nicht zufällig resümiert das „Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“: „Durch seine Tragweite gehört der Roman ohne Zweifel zu den bedeutendsten deutschsprachigen Neuerscheinungen der achtziger Jahre.“

Das Schreiben war für Schlesak von jeher eine Möglichkeit, sich mit den vielfältigen Facetten der „wirklich erlebten Unwirklichkeit“ auseinander zu setzen, um nicht daran zu Grunde zu gehen. Davon zeugen sowohl die Gedichtbände – vom Debütband „Grenzstreifen“ (1968), der noch in Bukarest erschien, über „Weiße Gegend“ (1981), „Aufbäumen“ (1990), „Landsehn“ (1997), „Tunneleffekt“ und „Lippe Lust“ (2000) bis zu den Reisegedichten „Los“ (2002) – wie die Romane „Vaterlandstage“ (1986) und „Der Verweser“ (2002) oder die Essaybände „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“ (1991), „Stehendes Ich in laufender Zeit“ (1994), „So nah, so fremd. Heimatlegenden“ (1995) und „Eine Transsylvanische Reise“ (2004) – von den ungezählten Rundfunk-, Zeitschriften-, Zeitungs- und Buchbeiträgen ganz zu schweigen. Jede Zeile unbequem, jede Zeile ein Stein, den er anstieß, um über den Berg zu kommen. Eine Sisyphos-Arbeit, lebenslänglich: „Immer noch sitze ich vor dem Bild-Schirm, das Auge auf dem Lichtpunkt, Zeile ... Text ... Er ist immer noch mein Lebens-Mittel, Hoffnung und Einstieg, Flucht aus der Wüste. Er nimmt mir das ganze Leben, braucht es auf, und schenkt es mir wieder“, hält das Journal „Stehendes Ich in laufender Zeit“ fest. Im Gespräch mit dem Literaturhistoriker Stefan Sienerth räumt Schlesak jedoch ein: „Es geht um Brüche, für die Nenner gesucht werden mußten: Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung, die meine wie die jüngere Literatur erst möglich gemacht haben. So daß einige, wenn nicht sogar alle durch sie zu Autoren geworden sind. Ich weiß nicht, ob ich es in friedlichen Zeiten so ausschließlich geworden wäre?"

Dieter Schlesak hat für die Literatur gelebt und wird das wohl auch weiterhin tun – runde Geburtstage hin oder her. Deshalb sei ihm zum neuen Lebensjahrzehnt neben bester Gesundheit und ungebrochener Schaffenskraft vor allem eines beschert: eine stetig wachsende Zahl von Lesern mit wachen Köpfen und weiten Herzen.

Edith Konradt

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 13 vom 10. August 2004, Seite 9)

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