24. Juli 2001

Bücher über Minderheiten in der Zwischenkriegszeit

Der Historiker Michael Kroner rezensiert im Folgenden zwei Bücher zur Geschichte des Minderheitenschutzes im Europa der Zwischenkriegszeit, die als Band 6 und 7 der vom Herder-Institut in Marburg herausgegebenen Reihe "Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung" im letzten Jahr erschienen sind. Die Minderheiten sind in keinem einzigen Land, so die wichtigste Schlussfolgerung des Verfassers, in den vollständigen Genuss der im Minderheitenschutz garantierten Rechte gelangt.
Das erste Buch trägt den Titel "Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren" und ist von Martin Scheuermann verfasst (517 Seiten), das zweite schrieb Sabine Bamberger-Stemmann und titelt es "Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbystentum und Großmachtinteressen" (619 Seiten).
Wir haben es bei den Bänden mit zwei voluminösen Dissertationen zu tun, die, wie die Titel erkennen lassen, sich mit zwei Aspekten des nationalen Minderheitenproblems in der Zwischenkriegszeit befassen.
Durch die staatlichen Umgestaltungen und die neuen Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg festgelegt wurden, erhielt die Minderheitenfrage eine neue Dimension in Ostmittel- und Südosteuropa. Insgesamt änderte sich dort für fast 80 Millionen Menschen die Staatsangehörigkeit. In diesem Raum lebten über 30 Nationen und Nationalitäten in einer zum guten Teil sehr starken ethnischen Gemengenlage. In den seltensten Fällen wurde ein Gebiet von über 90 Prozent Angehörigen derselben Ethnie bewohnt. Oft betrugen die lokalen Minderheiten ein Sechstel bis ein Drittel der Bevölkerung, und nicht selten war nur von relativen Mehrheiten des Staatsvolkes sprechen. Fast kompakte Enklaven von Minderheiten waren keine Seltenheit. Den größten Anteil an den Minderheiten hatten die Deutschen mit 8,3 Millionen in 13 Staaten und die Ukrainer mit zehn Millionen in fünf Staaten.
Angesichts dieser Tatsachen fühlten sich die alliierten Siegermächte genötigt, den neuentstandenen Minderheiten im Angesicht des zwar verkündeten aber nicht durchsetzbaren Selbstbestimmungsrechts die Lage durch Minderheitenschutzverträge erträglicher zu machen. Sie taten dies auch, um dem Wunsch nach Grenzänderung bei den sogenannten "unechten" Minderheiten und deren Mutterland vorzubeugen. Es sollte also der Konfliktstoff, der in der Minderheitenexistenz gegeben war, entschärft werden. Inwieweit das gelungen ist, bemüht sich das Buch von Scheuermann darzustellen.
Die Minderheitenschutzverträge wurden allen neuenstandenen Staaten und solchen, die Gebietszuwachs und damit ethnische Minderheiten erhalten hatten wie beispielsweise Rumänien bei der Unterzeichnung der Friedensverträge aufoktroyiert. Die Überwachung der Schutzverträge wurde dem Völkerbund als Garantiemacht übertragen, an den sich die Minderheiten mit Petitionen wenden konnten.
Die nationalen Minderheiten schufen sich ihrerseits durch die Gründung des Europäischen Nationalitätenkongresses im Jahre 1925 ein Gremium, das sich parallel zur Ebene des Petitionsrechts an den Völkerbund durch eine eigene Lobby internationales Gehör zu verschaffen suchte.
Auf Details der Bücher von Scheuermann und Bamberger-Stemmann einzugehen, ist nicht nur wegen des dafür zur Verfügung stehenden Raumes, sondern auch wegen ihres Umfangs von zusammen über 1100 Seiten hier nicht möglich. Wir werden daher allgemein auf den Inhalt und den Dokumentationswert der beiden Dissertationen sowie auf darin enthaltene Bezüge zur Minderheitenproblematik Rumäniens, speziell zu den Siebenbürger Sachsen, hinweisen.
Martin Scheuermann präsentiert nach einem einleitenden Teil zur Problematik des untersuchten Sachgebiets im zweiten Teil die hauptsächlichsten Minderheitenbeschwerden aus den einzelnen Ländern vom Baltikum im Norden bis zur Türkei und Griechenland im Süden Europas, im dritten Teil die Ergebnisse völkerbundlicher Minderheitenarbeit in den zwanziger Jahren, um dann im vierten dokumentarischen Teil in Verzeichnissen und Tabellen die dem Völkerbund bzw. dessen Minderheitensektion überreichten zulässigen und unzulässigen Beschwerden zu erfassen sowie Angaben über die wichtigsten Mitarbeiter der erwähnten Minderheitenabteilung und ihre Erkundungsreisen in die Vertragsstaaten zu bieten.
Was Rumänien betrifft, weist der Verfasser darauf hin, dass das Land nach der beträchtlichen Gebietserweiterung von 1918 zu einem Vielvölkerstaat wurde, in dem die nationalen Minderheiten 28,1 Prozent ausmachten. Rumänien betrachtete, wie auch andere Staaten, den Minderheitenschutzvertrag als eine Einschränkung seiner Souveränität und hatte ihn nur unter dem Druck der Siegermächte unterzeichnet. Seine Regierungen haben sich infolgedessen auch nicht an den Vertrag gebunden gefühlt, was zu zahlreichen Beschwerden der Minderheiten führte. So sind bis 1929 bei der Minderheitenabteilung des Völkerbundes etwa 50 Petitionen seitens der ungarischen, ukrainischen, jüdischen, bulgarischen und russischen Minderheiten Rumäniens eingegangen, von denen 25 als zugelassen behandelt wurden. Die meisten Petitionen wurden von der Regierung in Bukarest als unbegründet abgelehnt, oder es wurden den klagenden Minderheiten minimale Zugeständnisse gemacht. Die deutsche Minderheit Rumäniens ist klagend beim Völkerbund nicht vorstellig geworden, sondern hat versucht, ihre Probleme in direkten Verhandlungen mit der rumänischen Regierung zu lösen. Es hat seitens rumäniendeutscher Politiker allerdings informelle Kontakte über Schul- und Agrarfragen zu Mitarbeitern des Völkerbundes gegeben, so zu dem Direktor der Minderheitenabteilung Erik Colban während dessen Informationsreisen nach Rumänien. Im Jahre 1924 überreichte ihm Hans Otto Roth eine Denkschrift.
Die Minderheiten sind in keinem einzigen Land, so die wichtigste Schlussfolgerung des Verfassers, in den vollständigen Genuss der im Minderheitenschutz garantierten Rechte gelangt.
Auf Initiative des Baltendeutschen Ewald Ammende wurde 1925 ein europäischer Nationalitätenkongress einberufen, der sich zu einer ständigen Institution etablierte. An seinen jährlichen Zusammenkünften haben sich bis 1938 Abgeordnete fast aller nationalen Minderheiten Europas beteiligt. Der Titel des Buchs von Sabine Bamberger-Stemmann über die Aktivitäten des Kongresses verspricht leider mehr, als der Band bietet. Ihre Dissertation reduziert sich nämlich im Wesentlichen auf die Analyse der Tätigkeit der deutschen Minderheiten Europas, die den Nationalitätenkongress dominierten, sowie über deren Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung. Die deutschen Minderheiten haben, so die Verfasserin, ihre Minderheitenpolitik den Interessen und der Außenpolitik Deutschlands untergeordnet, sich somit instrumentalisieren lassen. Es ist dies eine etwas einseitige Interpretation der Fakten, welche, um ein Beispiel zu nennen, die auf Loyalität basierende Haltung der Rumäniendeutschen gegenüber ihrem Vaterland übersieht und das Bekenntnis von Rudolf Brandsch sowie von anderen rumäniendeutschen Politikern zum Gesamtdeutschtum als großdeutschen Ansatz einstuft. Brandsch trat zudem 1931 vom Vorsitz des "Verbandes der Deutschen in Europa" nicht darum zurück, weil er unhaltbar geworden, sondern weil er als Unterstaatssekretär für Minderheiten in die rumänische Regierung berufen worden war. Dieses Amt hätte er mit großdeutschen Ansprüchen nie bekleiden können. Er befürwortete allerdings die Schutzfunktion des deutschen Mutterlandes, von dem die deutschen Volksgruppen Subventionen für ihre Kulturarbeit und wirtschaftlichen Unternehmen erhielten.
Über die allgemeine Wirksamkeit des Europäischen Nationalitätenkongresses erfährt man bloß selektiv und nebenbei etwas, ebenso über die Probleme, welche die nichtdeutschen Minderheiten auf dem Kongress zur Sprache gebracht haben. Der Band erweist sich nichtsdestotrotz als wichtige Dokumentationsquelle, er präsentiert unter anderen die Liste der jeweiligen Teilnhemer am Europäischen Nationalitätenkongress, die Themen der gehaltenen Referate, die Namen der Referenten, die verabschiedeten Resolutionen sowie die Tagungsdaten des Nationalitätenkongresses, des Verbandes der Deutschen Volksgruppen in Europa u.a.
Das Buch bezieht gelegentlich die Rumäniendeutschen in seine Betrachtungen mit ein. An einer Stelle heißt es, dass sie neben den baltendeutschen Minderheiten von "besonderer Bedeutung für den Europäischen Nationalitätenkongress waren", geht dann aber bloß tangentiell darauf ein. Namentlich nennt die Verfasserin vor allem Rudolf Brandsch als Vorsitzenden des Verbandes der Deutschen Volksgruppen in Europa, als Mitherausgeber der Zeitschrift "Nation und Staat", ferner Hans Otto Roth, Richard Csaki, Emil Neugeboren, Hans Hedrich, Franz Kräuter, Lutz Korodi, Kaspar Muth und Arnold Weingärtner als Abgeordneten oder Referenten des Europäischen Nationalitätenkongresses. Den Kongress beschickten auch die ungarische, jüdische, bulgarische, ukrainische, ja sogar die russische Minderheit Rumäniens mit Delegierten.

Michael Kroner


Anschrift: Johann-Gottfried-Herder-Institut, Gisonenweg 5 – 7, 35037 Marburg,
http://www.siebenbuerger.de/cgi-bin/branchen/adressen.pl?z=V&1=Herder-Institut .

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