22. November 2004

Plädoyer für eine differenzierte Geschichtsschreibung

In ihrer Besprechung des Buches "Umbruch und Neubeginn. Zum 50. Jubiläum unseres Abiturs am Honterusgymnasium zu Kronstadt (1954-2004) " plädiert die Germanistin und Pädagogin Gudrun Schuster für eine differenzierte Geschichtsschreibung. Die Autorin geht unter anderem der Frage nach, wieso materielle Not, Enteignungen und politische Verfolgung im Kommunismus die Leistungsfähigkeit der jugendlichen Siebenbürger Sachsen nicht geschwächt hat, sondern ganz im Gegenteil, vielen von ihnen sogar zum "Aufbruch" verholfen hat.
Ein ansehnliches und inhaltsreiches Buch haben die beiden für die Redaktion der Texte verantwortlich zeichnenden Hansgeorg von Killyen /Lahr und Hans-Dieter Roth/Heidelberg aus den eingesandten Beiträgen von rund hundert ehemaligen Absolventen des Kronstädter deutschen Gymnasiums des Jahres 1954 in zweijähriger Arbeit zusammengestellt. Schon die Überzeugungsarbeit, bei einem ganz und gar nicht so einfachen Unternehmen mitzumachen, mag keine leichte gewesen sein, wie viel mehr die Redaktion der zum Teil sehr unterschiedlichen Texte, ihre Gliederung, Betitelung, elektronische Erfassung, die finanzielle Sicherung des Projektes etc! Alles in allem: eine Leistung, die es wert ist, gewürdigt zu werden. Was dabei herausgekommen ist, wird und sollte nicht nur die „Betroffenen“ interessieren, sondern all jene, die ein Stück Zeitgeschichte nacherleben und kritisch hinterfragen möchten.

Das 1913 erbaute neue Gebäude der Honterusschule, das nur 31 Jahre lang Sitz der traditionsreichen Schule sein durfte. 1944 wurde das Gebäude enteignet und in ein heute noch bestehendes Krankenhaus umgewandelt.
Das 1913 erbaute neue Gebäude der Honterusschule, das nur 31 Jahre lang Sitz der traditionsreichen Schule sein durfte. 1944 wurde das Gebäude enteignet und in ein heute noch bestehendes Krankenhaus umgewandelt.

Bezüglich einer Zeit, die wir aus einem Abstand von 50 Jahren noch als „jüngste Vergangenheit“ bezeichnen dürfen und mit deren Erforschung die Historiker erst nach der Wende in Osteuropa richtig begonnen haben, gibt es noch viel Klärungsbedarf. Selbst wenn mittlerweile auch die ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Tagungen, Symposien und Veröffentlichungen zum Thema Zeitgeschichte boomen, bleibt es unverzichtbare Aufgabe der Zeitzeugen, ihre Geschichte, ihre Sicht der erfahrenen und erlebten Ereignisse nach 1945 zu dokumentieren. Solches geschieht erfreulicherweise immer öfter, z.B. auch in den Jubiläumsbänden ehemaliger Absolventen deutscher Schulen in Rumänien.

Zwar sind offizielle Verlautbarungen, im Druck erschienene Gesetze und Regierungsbeschlüsse, politische Kommentare in der Presse und die Auswertung von anderen Archivalien gewiss sehr wichtige Quellen der Forschung, nicht weniger jedoch (das ist längst auch wissenschaftlich anerkannt) – ob nun als Beweis für aufgestellte Thesen oder als Gegenbeweis dazu oder auch nur zu deren Veranschaulichung – die „Oral History“, die Zeitzeugenbefragung; mit einem Wort: die Individual-„Geschichten“. Erst die Gegenüberstellung unterschiedlicher Quellen ergibt ein annähernd reales Zeitbild. „Wo anders ließe denn Geschichte sich begreifen als in den Brüchen zwischen Individualgeschichte und Offizialgeschichte? [...Man] darf sie [die Brüche] nicht leugnen und billig kitten, sonst fabriziert [man] Ideologie“ (Christoph Dieckmann).

In sechs Kapitel haben die beiden Redakteure den Stoff gegliedert: Die Schule des Honterus in der Vergangenheit mit einem vorangestellten zusammenfassenden Beitrag des bekannten Schulhistorikers Walter König über das Schulwesen der Siebenbürger Sachsen im Wandel der Zeiten sowie mit Daten zur Geschichte der Honterus-Schule in Stichworten, einem Text über die Zeit zwischen 1944 und 1954 und Gedanken über die historische Bedeutung dieser Schulanstalt, verfasst von dem für die Geschichte seiner Heimatstadt engagierten und wissenschaftlich tätigen Hansgeorg von Killyen. Es folgen die Kapitel Aus unserem Schulleben (1951-1954), Unsere Lehrer (Erinnerungen an Lehrer/Innen), Wir über uns (Absolventen der 10. bzw. der 11. Klassen kommen zu Wort), Abschied und Wiedersehen (Kommentare zu vorangegangenen Klassentreffen) und das Editorische Schlusswort der Herausgeber. Eine Vielzahl von Fotoreproduktionen sind den Kapiteln beigegeben.

Ganz besonders aufschlussreich wird für manchen Leser ein echtes Zeitdokument sein, nämlich der Schulbericht, den der Rektor der damals unter dem Namen „Deutsches Gemischtes Lyzeum“ firmierenden Schule des Andrei Saguna Lyzeums in Stalinstadt (Kronstadt), Dr. Otto Liebhart, anlässlich der Jahresschlussfeier der Oberstufe 1953/54 vorlegte, dem Jahr, in dem die im Band versammelten ehemaligen Schüler absolvierten. Es war die Zeit materieller Not der enteigneten, drangsalierten und über einen, den kommunistischen, Kamm geschorenen deutschen Bevölkerung Rumäniens (andere Bevölkerungsgruppen nicht ausgeschlossen), der versuchten ideologischen Vergewaltigung von Lehrern und Schülern. Mit der „Fantasie für die Wahrheit des Realen“ entsteht jedoch durch die Gegenüberstellung eines solchen Dokumentes mit den Absolventenbeiträgen im Buch das widersprüchliche Bild jener Zeit.

Die formalen ideologischen Zugeständnisse, die in den üblichen Losungen seines Berichtes ihren verbalen Ausdruck finden, stechen ins Auge: Dank an Partei und Regierung für die immer besseren Unterrichtsbedingungen (wohlgemerkt: nachdem Schulgebäude und Einrichtungen mehrere Male enteignet worden waren, zuletzt 1948 die unter Opfern neu eingerichtete Mädchenschule durch die Forsthochschule), Auflistung der gewissenhaften Frequentierung von Russischkursen, „Produktionsberatungen“ und sonstigen Bemühungen der Lehrer um die Mehrung ihres „politisch-ideologischen Wissens und die marxistische Ausrichtung ihres Unterrichts“. Im offensichtlichen Gegensatz zu den politisch gefärbten allgemeinen „Erfolgsmeldungen“ folgt dann allerdings die Auflistung von so unverfänglichen, politikfremden und in bewährter Tradition des Gymnasiums hochstehenden Schulaktivitäten wie Chor- und Orchesterkonzerten, Ausfahrten der Blasmusikkapelle und des „Doppelquartetts“, Kunst- und besonders „Leibeserziehung“ (bei Sportwettkämpfen auf Stadt-, ja sogar Landesebene belegten die Schüler der deutschen Lyzealklassen vordere Plätze). Als Beweis für das politische Niveau der Schüler werden „Wort ergreifen“ in politischen Informationsstunden, abgeleisteter Arbeitsdienst in Form von „Abladen eines Waggons“ Ziegeln, „Schneeschaufeln“ auf dem Zentralmarkt, und ähnliche Tätigkeiten zum Wohle der Allgemeinheit aufgeführt.

Kein Rechenschaftsbericht war damals jedoch gut, das hatte Dr. Liebhart inzwischen lernen müssen, wenn er nicht auch punktuelle „Selbstkritik“ enthielt und am Ende die obligaten politischen Schlussformeln, die die „Rumänische Arbeiterpartei“, die „Freundschaft zur mächtigen Sowjetunion“ und den „Kampf für den Frieden“ hochleben ließen.

Liest man nun im Gegensatz zu einer solchen offiziellen Rede des Rektors aus dem Jahre 1954 die erinnerten Beiträge vieler ehemaliger Schüler, die fast ausnahmslos die freundschaftlich-verantwortungsvolle, ja riskant subversive Betreuung durch ihre Schulleiter hervorheben und konkrete Beispiele für deren Mut geben, strengste Verordnungen der Machthaber gegenüber politisch Verfemten zu umgehen (z.B. illegale Zulassungen von Schülern zu Prüfungen, Wissen um illegalen Aufenthalt von Zwangsevakuierten, Vergabe von Stipendien an besonders durch Enteignungen und politische Verfolgung Benachteiligte etc.), dann fällt die Vergegenwärtigung der Zeit, die Einschätzung der politische Haltung der Beteiligten, der alltäglichen Probleme der Menschen realistischer aus als ohne diese Möglichkeit der Gegenüberstellung. Erinnerungsbücher von Absolventen können also Aufklärung leisten und sind unverzichtbar für die Geschichtsschreibung, die Sozialgeschichte und -psychologie, nicht zuletzt für die Entlarvung von Funktionsmechanismen in der Diktatur und vom Umgang mit ihr, für die Geschichte der Deutschen Rumäniens im 20. Jahrhundert allemal.

Die Beiträge der ehemaligen Absolventen stimmen zum Großteil darin überein, dass die drei oder vier Jahre Honterusschule (1954 beendeten gleichzeitig die 11. und erstmalig auch die 10. Klassen nach dem sowjetischen Modell ihre Schulzeit mit der Matura), entscheidend nicht nur für ihre weitere Berufsausbildung, sondern auch für ihr ganzes Leben waren.

Die Frage wäre berechtigt: Wieso materielle Not, Enteignungen in der Stadt und auf dem Lande, Familienverstümmelungen (viele Väter waren im Krieg gefallen, 1945 oft beide Eltern in die Sowjetunion deportiert, mehrere von ihnen danach in die Ostzone Deutschlands verbracht, andere gelangten in den Westen), wieso Zwangsevakuierungen ganzer Familien, unvorstellbare Wohnverhältnisse, politische Verfolgung (mehrere Lehrer wurden verhaftet, fristlos und ohne Begründung ihres Amtes enthoben, drei der ehemaligen Schüler haben selber mehrjährige Haftstrafen verbüßt), allgemeine Einschüchterung, Ausgrenzung, nicht selten Ausschluss von der angestrebten Berufsausbildung wegen „ungesunder Herkunft“ etc. – wieso also das alles die Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit der Jugendlichen nicht nur nicht geschwächt hat, sondern ganz im Gegenteil, vielen von ihnen sogar zum „Aufbruch“ verholfen hat? Die hochqualifizierte Berufsausbildung der meisten Absolventen, ihre späteren Berufswege auch hier in Deutschland (nur wenige leben noch in Rumänien) beweist das: Als gut ausgebildete und motivierte Techniker- und Ingenieursgeneration, als Ärzte, Pfarrer und Lehrer sind sie ein beachtliches Gesellschaftspotential geworden. Ihre Lebenseinstellung ist auch heute in ihrem Rentnerdasein eine zupackend positive, nur vereinzelt werden leise und dunkle Töne angeschlagen. Der damalige Start wird nämlich trotz aller Widrigkeiten von der überwiegenden Mehrheit als prägendes Erlebnis geschildert, als ein triumphierendes „Dennoch“ einer verschworenen Notgemeinschaft, in der Erinnerung eben als Aufbruch.

Der schonungslose Umbruch hatte ihnen vielleicht sogar den „Ausbruch“ ermöglicht, eine Entgrenzung der kleinen (auch kleinbürgerlichen) Welt in eine größere durch den Abbau von Vorurteilen gegenüber Andersnationalen, eine Bereicherung durch neue Freundschaften und Kollegialität, durch Eroberung kulturellen Neulands in der Großstadtatmosphäre der erlebten Studien- und Ausbildungsorte im ganzen Land. Solche Öffnung und Sensibilisierung sowie der erzwungene Erwerb von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit hat ihnen nicht zuletzt das Einleben in der neuen westlichen Welt ermöglicht und erleichtert, was viele zurecht mit Stolz erfüllt. Den Lehrern und der Institution Schule wird von ihren ehemaligen Schülern ein positives Zeugnis ausgestellt (leider können die meisten von ihnen diese Dankbarkeit nicht mehr erleben).

Soziopsychologen, Historiker, Schulhistoriker und -pädagogen werden, ausgehend von Dokumenten wie dem vorliegenden Buch, vermutlich Fragen nachgehen müssen; z.B. der, ob nur unser Gedächtnis (dass über alles Schlimme, das uns widerfährt, den beschönigenden Schleier der Erinnerung breitet), dafür verantwortlich ist, dass am Ende die „Dankbarkeit überwiegt“? Oder: Wie kann die Geschichte des östlichen Sozialismus und seiner Folgen für die Menschen differenziert geschrieben werden? Und nicht zuletzt: Was sollte Schule jungen Menschen für ihr Leben und Fortkommen eigentlich und vorrangig vermitteln?

Die in der Diaspora lebende (ehemalige) Minderheit der Rumäniendeutschen wird in solchen Büchern ein positives Signal für ihren wie auch immer gearteten Fortbestand sehen und weiter darüber sinnieren, was denn eigentlich unter historisch meist widrigen Umständen „ihre Welt im Innersten zusammengehalten hat und hält“.

Gudrun Schuster

Das Buch: Umbruch und Neubeginn. Zum 50. Jubiläum unseres Abiturs am Honterusgymnasium zu Kronstadt (1954-2004), Lahr/ Heidelberg, September 2004, 460 Seiten, ISBN 3-929484-41-4, ist zum Preis von 29,50 Euro zu beziehen über: Gertrud Dumitrescu, Pontarlierstraße 9, 78048 Villingen, Telefon: (0 77 21) 17 78.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 18 vom 15. November 2004, Seite 9)

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