11. Dezember 2004

Auf Spurensuche in Bistritz 1944 / 2004

Genau 60 Jahre nach Evakuierung und Flucht der deutschen Bevölkerung Nordsiebenbürgens besuchte ein Teil der Großfamilie Fritsch/Schneider die Heimat ihrer Vorfahren. Von den 32 Reiseteilnehmern waren zehn noch vor 1944 in Bistritz geboren, alle anderen kannten Siebenbürgen nur aus Erzählungen.
Nach zweistündigem Flug von Frankfurt nach Klausenburg und zweistündiger Busfahrt war Bistritz erreicht! Beim Stadtrundgang und bei Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung wurden Erinnerungen wach. Die Stadtpfarrkirche mit ihrem 75 m hohen, die Stadt beherrschenden Turm, der Kornmarkt, das Deutsche Gymnasium, der Gewerbeverein, die Häuser und Wohnungen der Eltern und Großeltern – alles war vertraut, und doch fremd. Zu tiefe Spuren haben Evakuierung und Flucht, Industrialisierung der Stadt und Bevölkerungszunahme und -verschiebung hinterlassen. Im sonntäglichen Gottesdienst verloren sich die Gottesdienstbesucher in der mehr als 2 000 Menschen fassenden Stadtpfarrkirche, trotz der nicht unbedeutenden Verstärkung durch unsere Gruppe. Nachdenklich standen wir am Bahnhof – hier begann im September 1944 die Flucht ins Ungewisse, in Güterwaggons, mit 28 Personen auf 23 qm Raum! Sie sollte viele Wochen dauern und kreuz und quer durch Europa führen bis 1946 die zweite Heimat gefunden war – für einen Zweig unserer Familie war es Schweinfurt.



Reise in die Heimat der Elterngeneration. Vor dem Hauptportal der Kirchenburg Michelsberg.
Reise in die Heimat der Elterngeneration. Vor dem Hauptportal der Kirchenburg Michelsberg.


Weiter ging es durch herrliche Landschaft ostwärts über die Karpaten in die Südbukowina zu den Moldauklöstern Moldovita, Sucevita und Voronet mit ihren herrlichen Außenfresken, danach durch nicht minder schöne Berglandschaft wieder zurück nach Siebenbürgen – entlang des 30 km langen Bicaz-Stausees, durch die wildromantische Bicaz-Klamm, vorbei am Mördersee. In Siebenbürgen waren Schäßburg, Kronstadt und Hermannstadt und die Kirchenburgen Birthälm, Deutsch-Weißkirch, Tartlau, Honigberg, Heldsdorf, Heltau und Michelsberg Ziele unserer Reise. In Hermannstadt endete mit einem beeindruckenden Gottesdienst in der Stadtpfarrkirche und dem Rückflug nach München die Siebenbürgen-Rundreise 2004. In Erinnerung werden bleiben die vielfältigen, in unserer Heimatstadt Bistritz gewonnenen Eindrücke, die herrliche Karpatenlandschaft, das bunte Völkergemisch, die Vielzahl und Vielfalt siebenbürgisch-sächsischer Kirchenburgen, der enorme Reichtum an historischen Städten und Baudenkmälern, an wertvollen Orgeln und Altären. In Erinnerung werden aber auch bleiben die vielen interessanten Begegnungen und informativen Gespräche, die unerwartet guten Hotels und eine abwechslungsreiche Gastronomie – aber auch die Armut und die zum Teil desolaten Zustände. Für den Reiseinitiator Jürgen Schneider waren nicht zuletzt die vielen Rückmeldungen der ihn auf der Reise begleitenden Jugend interessant. Im Folgenden eine Auswahl:

„Siebenbürgen – bei jedem Familientreffen hörten wir dieses Wort aus dem Mund unserer dort geborenen Eltern- und Großelterngeneration und spätestens beim Singen des Siebenbürgenliedes regte sich etwas Skepsis in uns ob all des Guten, das mit diesem Zauberwort verbunden wurde. Wir spürten aber auch, dass dieses Wort eine Klammer, eine Identifikation für unsere Familie bedeutete und dass es höchste Zeit war, sich selbst einen Eindruck von dem zu machen, was sich hinter diesem Wort verbirgt. Ein Blick auf den Namen unseres Zielflughafens Cluj-Napoca machte deutlich, dass wir abseits der Touristenströme reisen würden und spätestens hier wurde uns wieder bewusst, dass es das alte Klausenburg und das alte Siebenbürgen aus den Erzählungen wahrscheinlich nicht mehr gibt und wir wohl zu spät kommen, um zu verstehen, woher unsere Vorfahren kamen. Mit diesen Gedanken und der Befürchtung, ein völlig heruntergekommenes Land zu finden, ging es los. Mit jedem Schritt, mit jeder Stunde kombinierten sich aber die eigenen Eindrücke mit den so oft gehörten Erzählungen und beides fügte sich zu einem harmonischen Ganzen.“

„Der Kirchturm von Bistritz war ein Déjà-vu-Erlebnis – wie oft haben wir ihn vorher schon auf Bildern gesehen! Wir standen vor schmucken, kleinstädtischen Häusern und hörten, dass hier dieser oder jener Onkel, diese oder jene Tante geboren wurde. Wir saßen auf der Terrasse des Gewerbevereins, dort, wo sich vor über 60 Jahren unsere Großeltern bei Live-Musik aus dem Pavillon an den Sonntagen aufhielten und wo sie unter den gestrengen Augen einer Großtante zum Tanzen gingen. In strömendem Regen suchten wir die Obstgärten der Großeltern, in denen sich – an den Garten Eden erinnernd – all das Glück an Wochenenden und in den Ferien abgespielt haben soll. Wir standen am Bistritzer Bahnhof, starrten auf die Gleise und führten uns die entsetzliche Fluchtgeschichte in Viehwaggons unter Tieffliegerbeschuss im September 1944 vor Augen. Hier wurde auch greifbar, was es bedeutet haben muss, plötzlich die Heimat zu verlassen. Wir zwängten uns in die streng nach Alter und Geschlecht aufgeteilten lutherischen Kirchenbänke. Wir ließen unsere Augen von den Zinnen der Kirchenburgen über ein sanft geschwungenes, fruchtbares Land schweifen. Wir spürten einen optimistischen südländischen Lebensstil, der uns im Westen so fehlt, dass junge Siebenbürger lieber in Rumänien bleiben als nach Deutschland auszuwandern. Wir waren beeindruckt von den Reizen dieses Landes, seinen von der Moderne noch fast unberührten, farbenfrohen Straßendörfern, den überall im Lande anzutreffenden Pferdewagen und Ochsenkarren, den verträumten Tante-Emma-Läden mit der treffenden rumänischen Aufschrift ,Magazin mixt‘, den auf unbefestigten Dorfstraßen bis in die Dunkelheit hinein spielenden Kinder, und den bis an die Häuser reichenden Maisfeldern, für Viehfutter und für die aus der rumänischen Küche nicht wegzudenkende Polenta (Maisbrei). Von einer unserer Großmütter wurde uns mitgegeben: ,Schildert mir eure Eindrücke meiner toten Heimat‘ – unsere wesentlichste Impression ist allerdings, dass Siebenbürgen keineswegs eine tote Heimat ist, sondern ein Land im Aufbruch – voller Widersprüche natürlich! – aber so lebendig wie kaum ein uns bekanntes westeuropäisches Land! Ein Land mit großer Zukunftshoffnung, dessen Jugendliche Aufgaben vorfinden, an denen sie sich messen können.“

„Unsere Reise war zweifelsohne mehr als eine Studienfahrt, mehr als ein Familientreffen – sie war ein Ausflug in die Heimat unserer Elterngeneration – bis zu diesem Sommer ein abstrakter Begriff für uns!“

Jost Jürgen Schneider


Bewerten:

2 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.