30. Juni 2000

Politik muss sich in die Schutz- und Obhutspflicht nehmen lassen

Auf der Festkundgebung des Heimattags 2000 der Siebenbürger Sachsen zu Pfingsten in Dinkelsbühl hat der landsmannschaftliche Bundesvorsitzende Volker E. Dürr in einer Grundsatzrede die Politik aufgefordert, sich ihrer Schutz- und Obhutspflicht gegenüber den Aussiedlern nicht zu entledigen. Dürr erwartet, dass die Bundesregierung mehr tue für ein Klima der Solidarität und Akzeptanz gegenüber Aussiedlern. Ihre Aufnahme, besonders in Härtefällen, dürfe behördlicherseits nicht durch neue Hürden weiter eingeschränkt werden.
Dürr verwies dabei auf die Erfahrungen der Toleranz und des Mittlertums, die von den Deutschen aus Siebenbürgen in die Gesellschaft der Bundesrepublik eingebracht worden und in einem vereinten Europa unverzichtbar sind. Die Festansprache des Bundesvorsitzenden wird hier vollinhaltlich abgedruckt.

Den diesjährigen Heimattag der Siebenbürger Sachsen in Deutschland haben wir angesichts des gemeinsamen Aufbruchs in ein neues Jahrtausend unter das Motto „Zukunft in Herkunft verankern“ gestellt, denn in dieser Zeitenwende sind alle Staaten und Nationen Europas auf der Suche nach Identität, nach dem, was sie im Innersten ausmacht und zusammenhält, was einem Gemeinwesen Profil und eigenen Charakter gibt. Je ähnlicher die Art zu leben wird, desto stärker halten die Menschen an tieferen, vertrauten Werten fest: an Sprache, Kunst, Literatur. Während die äußere Welt global immer austauschbarer wird, werden Kulturtraditionen und ihre Werte immer wichtiger.
Wie kommt es denn, dass im Zeitalter der Globalisierung der Ruf nach der kleinen Einheit, nach Heimat und Nähe wächst? Bedeutet etwa die Sehnsucht nach Identität einen Rückzug auf längst verlorene Gewissheiten oder ist es vielleicht gerade der globale Wettbewerb, der die Rolle der Regionen und auch der Minderheiten in Europa stärkt?
Der Leitgedanke unseres diesjährigen Pfingsttreffens will auf Wertvorstellungen hinweisen, die einiges, ja sehr vieles sogar, mit Erfahrungen von Toleranz und Verständnis für den jeweils Anderen, von Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft zu tun haben. Sie sind allesamt unerlässlich beim Bau eines „gemeinsamen europäischen Hauses“, wie es seit nunmehr einem halben Jahrhundert immer wieder beschworen wird, vorerst aber vor allem in Absichtserklärungen Gestalt und Form gewinnt.
Die Siebenbürger Sachsen müssen ihre Herkunft nicht verleugnen. Sie sind deutsche Siedler, die – größtenteils aus mittelfränkischen Dialektgebieten an Rhein und Mosel und aus dem Luxemburgischen sowie aus der gesamten Kölner Kirchenprovinz stammend, einst auch im Westen bis nach Flandern, im Osten bis an die Elbe und in Sachsen beheimatet – im 12. Jahrhundert, im Rahmen des europäischen Landesausbaus vom ungarischen Königshaus ins südöstliche Mitteleuropa als „deutsche Gäste“ gerufen wurden und sich dort, nachdem ihnen in dem „Goldenen Freibrief“ von 1224 persönliche Freiheit und Selbstverwaltung zugesichert worden war, auf dem sogenannten „Königsboden“ friedlich niedergelassen haben. Sie sind demnach seit Jahrhunderten für Frieden, Freiheit und Demokratie eintretende Deutsche.
In Siebenbürgen, das sie als loyale Bürger ihres Gastlandes gegen den Ansturm eindringender Mongolen und Türken mitverteidigten, errichteten sie nicht nur wehrhafte Kirchenburgen, sondern auch ein Gemeinwesen, das in Teilen schon sehr früh auf demokratischen Prinzipien fußte. In der Einrichtung der „Nachbarschaften“ organisierten sie schon im 16. Jahrhundert ihr soziales und religiöses Leben. Aus ihrer freiheitlichen Tradition der Selbstverwaltung wuchs auch das Prinzip der Selbsthilfe, dem sie etwa durch die Einrichtung etwa ihres Sozialwerks im Jahre 1953, durch den Bau von Altenheimen, Kindergärten und Begegnungsstätten in Deutschland und seit 1990 auch durch ihre Bleibehilfe in Siebenbürgen bis heute treu geblieben sind. Sie waren und sind in Wirtschaft, Politik und Kultur Mittler und Vermittler zwischen Ost- und Westeuropa.
Ihr friedliches Zusammenleben mit den übrigen in Siebenbürgen ansässigen Völkerschaften beruhte auf weitgehender Beachtung des Toleranzgebotes und kennzeichnet ihr fruchtbares Wirken. Ihr geschlossener Übertritt zur Reformation Luthers, von Honterus vorbereitet und durch Beschluss der siebenbürgischen Nationsuniversität im Jahre 1550 für sie alle verbindlich gemacht, führte zu einer Blüte der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft und zu deren festen Verankerung im europäischen Geist.
Die aus dem Anschluss an die deutsche Reformation erwachsenen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Bindungen haben das Bewusstsein ihrer deutschen Herkunft über die nachfolgenden Jahrhunderte hinweg lebendig erhalten und immer wieder erneuert. Wegen dieser Herkunft waren sie in Zeiten der nationalkommunistischen Diktatur in Rumänien der Enteignung, Entrechtung, Deportation und Verfolgung ausgesetzt – stellvertretend für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. Angriffe auf ihre Spreche und ihre deutsche Identität haben die Siebenbürger Sachsen nach 1945 ihrer Heimat entfremdet und den Drang nach Rückkehr in die deutsche Urheimat als einzigen Ausweg aus der Unfreiheit verstärkt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dabei als Rechtsnachfolger des deutschen Reiches jahrzehntelang ihre Verpflichtung, auch die Siebenbürger Sachsen als späte Opfer des Zweiten Weltkriegs anzuerkennen und aufzunehmen, zu beiderseitigem Vorteil wahrgenommen. Heute leben in der Bundesrepublik rund 250 000 Siebenbürger Sachsen, die aktiv an dem Wiederaufbau in Deutschland teilgenommen haben. Sie sind integrationsfähige und integrationsbereite Bürger der Bundesrepublik und gleichzeitig ideale Brückenbauer zu ihrem Herkunftsland Rumänien und daher in besonderem Maße willens und fähig, ein geeintes, friedliches und prosperierendes Europa mitzuerrichten.
Können die Erfahrungen der Siebenbürger Sachsen aus Herkunft und Ankunft auch beim Ausfindigmachen von Wegen in eine gemeinsame europäische Zukunft verwendbar und nützlich sein? Ich hoffe, dass Sie, sehr geehrter Herr Welt, nicht nur in Ihrer Eigenschaft als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, sondern auch als ehemaliger Oberbürgermeister der Industrie- und Kulturstadt Oberhausen, und auch Sie, verehrter Herr Bocklet als bayerischer Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten uns in ihren Redebeiträgen Hinweise geben werden, wie wir Siebenbürger Sachsen unsere in 850-jähriger Geschichte erworbenen Pfunde wie Toleranz, Verständigung, Zusammenarbeit, Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn in den weiteren Auf- und Ausbau eines vereinigten Europas einbringen können. Dabei bitte ich Sie zu berücksichtigen, dass der von meinen Landsleuten hier in Deutschland bereits seit fünf Jahrzehnten auch über die Grenzen Europas hinaus geleistete Brückenschlag nur dann erfolgreich sein kann und Bestand haben wird, wenn unsere wirtschaftlich-soziale und kulturelle Eingliederung und Verankerung in Deutschland weiter ausgebaut und langfristig gesichert wird. Deshalb erwarten wir Siebenbürger Sachsen von einer auf ein gemeinsames Europa ausgerichteten, zukunftsorientierten Politik in Deutschland Folgendes:
Eine Abstimmung der verschiedenen Sachpolitiken, um zusammenhängende Lösungen zur Fortsetzung der bisher erfolgreich verlaufenen Integration zu finden. Zur Schutz- und Obhutspflicht gemäß Artikel 116 Grundgesetz gehört auch, ein Klima der Akzeptanz und der Solidarität mit Aussiedlern zu schaffen, ihre Aufnahme in der Bundesrepublik, auch wenn sie nicht greencardverdächtig scheinen, zu fördern und dabei Härten wie Familientrennung und Abschiebung zu vermeiden. Hierzu gehört auch, dass die vor einigen Jahren vorgenommene 40-Prozent-Kürzung der Fremdrentenanteile von Aussiedlern aus den GUS und den südosteuropäischen Staaten in dem anstehenden Rentengesetzgebungsverfahren zurückgenommen wird, da inzwischen eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vorliegt, die die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung in Frage stellt.
Wir erwarten zweitens die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, wonach alle Maßnahmen auf derjenigen Handlungsebene durchgeführt werden, wo sie am wirksamsten vorgenommen werden können. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass die während der letzten fünf Jahrzehnten von uns in Deutschland geschaffenen Organisationen, Hilfswerke, Trägerschaftsvereine und Kultureinrichtungen, Zeichen ursprünglichen Bürgerengagements, das nur durch die Zähigkeit einiger Unentwegter Erfolg haben konnte, weiterhin erhalten und auch staatlicherseits gefördert werden. Hierzu gehört auch die Kulturförderung gemäß § 96 BVFG. Seit diese aus dem Bundesministerium des Innern in das Ressort des Beauftragten der Bundesregierung für die Kultur und die Medien ausgegliedert wurde, ist sie durch existentielle Einschnitte fast völlig zum Erliegen gebracht worden und die kulturelle Breitenarbeit fast gänzlich erloschen. Auch bisher wurde diese Arbeit im Wesentlichen durch ehrenamtliche Kräfte geleistet und war schwerpunktmäßig auf den grenzüberschreitenden Austausch sowie die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Völkern ausgerichtet.
Die jetzt eingeleitete Entwicklung widerspricht Sinn und Zweck des § 96 BVFG. Geschichte und Kultur der Deutschen im Osten und Südosten Europas sind organischer Teil der kulturellen Leistungen des gesamten deutschen Volkes und dürfen daher nicht, wie im Kulturneuordnungskonzept Staatsministers Naumann unterstellt, als „Ostkunst“ stigmatisiert und ausgegrenzt werden; einen ähnlichen Reflex beschreibt Hans Beltig in seinem Buch „Identität im Zweifel“, wonach die deutsche Kunst nach dem letzten Weltkrieg derart belastet war, dass man sie am liebsten in der „Westkunst“ untertauchen sah. Die Landsmannschaften sind bereit, ein gemeinsames Konzept zur Kulturförderung gemäß § 96 BVFG mit dem Kulturbeauftragten zu entwickeln, das vor allem auch die vielen ehrenamtlich tätigen Vertriebenen und Aussiedler wieder in die Lage versetzt, die durch mehrere Entschließungen des Deutschen Bundestages geforderte Brückenfunktion zu unseren östlichen Nachbarn wahrzunehmen.
Das Netz der Partnerschaften, in dem allen Akteuren auch auf lokaler Ebene die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre Erfahrungen einzubringen, muss sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene weiter ausgebaut werden. Gerne erinnern wir uns an die auf dem Heimattag 1997 in Dinkelsbühl getroffene Feststellung von Johannes Rau, dem damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und heutigen Bundespräsidenten, dass die seit 1957 zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen bestehende Patenschaft zu einer vertrauensvollen Partnerschaft herangewachsen sei. Dies trifft gleichermaßen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Sparrer, für die mittlerweile dreizehn Jahre bestehende Partnerschaft zwischen der Stadt Dinkelsbühl und unserer Landsmannschaft zu, aus der, wie ich hoffe, auch eine Partnerschaft zu einer siebenbürgischen Stadt in Rumänien, zum Beispiel dem romantischen Städtchen Schäßburg, erwachsen möge. Wir alle sind aufgefordert, ein europaweites Netz von solchen Partnerschaften zu knüpfen. Hierbei hoffen auch wir Siebenbürger Sachsen auf die tatkräftige Unterstützung Ihres Hauses, sehr verehrter Herr Welt.
Im notwendigen Wettbewerb der europäischen Regionen sollte vor allem unsere Jugend in die Lage versetzt werden, sich innovativ und leistungsbereit am Fortgang des europäischen Einigungsprozesses zu beteiligen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die vielzitierte europäische Wertegemeinschaft auf der Grundlage einer jahrhundertealten Tradition humanistisch-demokratischer Denkansätze fußt. An diesen Traditionen muss sich auch ein Kulturneuordnungskonzept der Bundesregierung orientieren.
Unser aller Vorankommen in einem gemeinsamen Europa kann nur gelingen, wenn wir die Auswirkungen auf die natürlichen Ressourcen stärker beachten und Raubbau an der Natur wie auch am historischen Erbe vermeiden helfen. Mit der Dokumentation der Natur- und Siedlungsräume unserer siebenbürgischen Heimat ist uns mit erheblicher Unterstützung der Bundesregierung in den vergangenen Jahren ein beachtlicher Schritt hin zu einer europaweiten Kooperation auf allen Ebenen gelungen. Die ersten beiden dieser zweiundzwanzig Bände umfassenden Dokumentation, „Burzenland“ und „Hermannstadt“, sind bereits erschienen. Bitte unterstützen Sie alle das Erscheinen auch der übrigen Bände durch Ihre Subskription!
Auch unserer neuen Republik der Nachwendezeit stünde es gut zu Gesicht, sich der Rolle Deutschlands in der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts zu erinnern, aber ebenso die wenigen Augenblicke der Emanzipation und die Leistungen unserer Gemeinschaft im Gedächtnis zu behalten, auf die wir stolz sein können.

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