27. Januar 2005

Gedenkfeier in Ulm: Deportation vor 60 Jahren

Die Reihen haben sich gelichtet. Und doch fanden sich Dutzende ehemalige Deportierte am 15. Januar in der Ulmer Donauhalle ein zum Lagertreffen. Von Artjomowsk bis Woroschilowgrad buchstabierten die Tischkarten das Alphabet eines noch immer unfasslichen Traumas. Rund 900 Saalgäste nahmen teil an der Gedenkfeier anlässlich der Deportation der Deutschen aus Südosteuropa in die Sowjetunion vor 60 Jahren. Nicht so sehr deren historische Bewertung - noch am Vorabend Gegenstand einer lebhaften Podiumsdiskussion - als vielmehr die Frage nach dem angemessenen Umgang mit diesem zu wenig bekannten Kapitel der Zeitgeschichte beschäftigte die Redner der Gedenkfeier. Heribert Rech, Innenminister von Baden-Württemberg, rief zu gemeinsamen Anstrengungen auf, damit das Schicksal der Heimatvertriebenen und Deportierten im kollektiven Gedächtnis haften bleibe.
Die Veranstaltung begann um 10 Uhr mit einem Ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Donauhalle, den Weihbischof Gerhard Pieschl, Limburg, Pfarrer Wieland Graef seitens des Hilfskomitees der Siebenbürger Sachsen, Andreas Straub, Visitator der Donauschwaben und Deutschen aus Südosteuropa, sowie der Banater Pfarrer Peter Zillich feierlich gestalteten. Als musikalischer Begleiter, neben dem Bläserensemble „Mährisch-Böhmische Blaskapelle“, zierte der „Liederkranz der Siebenbürger Sachsen Heilbronn“ den Gottesdienst mit stimmlichem Wohlklang.

Namens der veranstaltenden Landsmannschaften der Banater Schwaben, der Donauschwaben, der Deutschen aus Ungarn, der Sathmarer Schwaben, der Siebenbürger Sachsen, des Heimatverbands Banater Berglanddeutscher, des Hauses des Deutschen Ostens München, des St. Gerhards-Werks, des Hilfskomitees der Siebenbürger Sachsen und evangelischen Banater Schwaben im Diakonischen Werk der EKD, des Siebenbürgischen Museums Gundelsheim sowie des Donauschwäbischen Zentralmuseums hieß Bernhard Krastl, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Banater Schwaben, die Ehrengäste herzlich willkommen: Erika Steinbach, MdB, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Heribert Rech, MdL, Innenminister von Baden-Württemberg und Landesbeauftragter für Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler, Ivo Gönner, Oberbürgermeister der Stadt Ulm, Mihai Botorog, Generalkonsul von Rumänien, sowie alle weiteren Vertreter des diplomatischen Chors. Krastl begrüßte ferner die kirchlichen Repräsentanten und alle landsmannschaftlichen Vertreter, vor allem Dipl.-Ing. Arch. Volker Dürr, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Hans Supritz, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Donauschwaben, Dr. Friedrich Zimmermann, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn, und Helmut Berner, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Sathmarer Schwaben, u.a.

Die historische Wahrheit erfordere es, so Krastl, die gegen Deutsche in ihren Herkunftsgebieten begangenen Verbrechen beim Namen zu nennen und die Erinnerung an das begangene Unrecht wach zu halten. Er verwies dabei auf die in der Donauhalle gezeigte Dokumentationsausstellung. Die Ausstellung wurde als Wanderausstellung konzipiert, um in Deutschland und in Ländern, die im Bezug mit der Deportation stehen, gezeigt zu werden. Zweck dieser Veranstaltung in Ulm sei aber nicht nur zu erinnern, sondern auch zu mahnen: „Wir möchten die politisch Verantwortlichen weltweit auffordern, Deportationen und Zwangsarbeit, Sklavenarbeit in Lagern als Mittel der Politik zu ächten“.



Seite an Seite nahmen viele ehemalige Deportierte an der Gedenkfeier am 15. Januar in der Donauhalle in Ulm teil. Foto: Hans-Werner Schuster
Seite an Seite nahmen viele ehemalige Deportierte an der Gedenkfeier am 15. Januar in der Donauhalle in Ulm teil. Foto: Hans-Werner Schuster


Oberbürgermeister Ivo Gönner, Schirmherr der Gedenkveranstaltung, übermittelte den Saalgästen die Grüße der Bürgerschaft und des Gemeinderates der Stadt Ulm. Ulm dokumentiere zuvorderst in seinem Donauschwäbischen Zentralmuseum, „dass wir die Geschichte nicht dem Vergessen anheimfallen lassen wollen“. Gönner verknüpfte die Erinnerung an die Deportation Deutscher in die Sowjetunion vor 60 Jahren mit der Bombardierung Ulms am 17. Dezember 1944; diese wiederum stehe in einem Bezugsrahmen mit dem von Nazideutschland proklamierten „Totalen Krieg“ und der kollektiven Vernichtung im deutschen Namen, dem „Imperialismus in der widerlichsten Fratze“. In anderem Namen wurden auch Verbrechen begangen. Und daher sei die Botschaft einer solchen Veranstaltung wie in Ulm: „In niemandes Namen mehr soll überfallen, ermordet, verfolgt und deportiert werden.“ Lehre und Botschaft für unsere und die folgenden Generationen sei es, rechtzeitig aufzustehen, Flagge zu zeigen und sich dem Mitmarschieren zu verweigern. Diese Veranstaltung in Ulm sei eingebettet in viele Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr, die an das Schicksal der Verfolgung, Vernichtung und Ermordung Unschuldiger erinnern. In Ulm habe man keine Kriegerdenkmäler aufgestellt, sondern Erinnerungssteine, die den einen Satz tragen: „Besinnt Euch, Ihr Lebenden“.

Ihrem Vorredner unmittelbar und kritisch erwidernd, monierte Erika Steinbach, man dürfe den zu Opfern gewordenen Menschen nicht vorhalten, welches Regime etwas ausgelöst hätte. Die einfachen Bürger seien unschuldig gewesen und verdienten die „Gerechtigkeit des Mitgefühls“. Maßgeblich für die Deportation deutscher Zivilisten in sowjetische GULags sei nicht das Kriterium der persönlichen Verantwortung oder Schuld des Einzelnen gewesen, sondern allein seine deutsche Volkszugehörigkeit. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) verwies auf die inzwischen als CD-ROM publizierte Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Den zustimmenden Beifall des Saalpublikums fand Steinbachs Forderung: „Auch dieser Teil deutscher Geschichte“, nämlich die Deportation, „gehört in das kollektive Gedächtnis unserer Nation und in das kollektive Gedächtnis Europas“. Überdies plädierte die BdV-Präsidentin in ihrem Grußwort neuerlich für einen Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung am 5. August sowie für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin als Stiftung der deutschen Heimatvertriebenen. In diesem Zusammenhang bat Frau Steinbach auch die Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben um ihre Unterstützung.

Die Grüße der Landesregierung von Baden-Württemberg überbrachte Innenminister Heribert Rech. Der Landesbeauftragte für Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler erinnerte in seiner Ansprache an das Schicksal der mehr als 130 000 Volksdeutschen aus Rumänien, Ungarn und dem ehemaligen Jugoslawien, die vor 60 Jahren zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden. Die tiefe Verwurzelung in ihrem Glauben hätte ihnen Mut und Kraft gegeben, das Martyrium in den Bergwerken und Arbeitslagern zu überstehen. Rech erinnerte auch an die hervorragende Wiederaufbau- und Integrationsleistung der Heimatvertriebenen nach dem Krieg in Deutschland. Das opferreiche Schicksal jener Deportierten sei heute nur noch wenigen bekannt. Allerdings würden Fragen von Flucht und Vertreibung der Deutschen, auch dank der Arbeit des Bundes der Vertriebenen, zunehmend das Interesse der Öffentlichkeit finden. Rech verwies auf eine aktuelle Umfrage der Zeitschrift GEO, wonach 70 Prozent der Befragten der Ansicht sind, dass das Thema „Flucht und Vertreibung“ an bundesdeutschen Schulen nicht ausreichend behandelt werde. Das Land Baden-Württemberg setze diesbezüglich im Bereich der kulturellen Breitenarbeit und in der schulischen Bildung besondere Akzente, um gerade der jungen Generation am Beispiel der deutschen Heimatvertriebenen zu verdeutlichen, „dass Umsiedlungen und Vertreibungen von Bevölkerungsgruppen zur Lösung von innerstaatlichen und internationalen Konflikten ein Irrweg sind. Egal wo sie geschehen auf dieser Welt.“ Beispielhaft führte der Redner eine vom Haus der Heimat Stuttgart herausgegebene Lehrerhandreichung an sowie ein gegenwärtig in der Planung befindliches Zeitzeugenprojekt: Erfahrungen der Erlebnisgeneration sollen unmittelbar in den Schulunterricht einfließen. Heribert Rech wandte sich an die Zeitzeugen im Saal mit der Bitte, bei diesem Projekt mitzuwirken. Er sprach sich außerdem explizit gegen die Aufrechnung von erlittenem Unrecht aus. Die deutschen Heimatvertriebenen hätten frühzeitig erkannt, dass Rache und Vergeltung nicht das Ziel sein können. Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950 sei ein „Dokument für Versöhnung und Frieden“ und „eine ganz große politische Leistung“. „Das Schicksal der Heimatvertriebenen und Deportierten“, schloss der baden-württembergische Innenminister, „darf nicht aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen und der Europäer vertrieben werden.“



Die Redner der Gedenkfeier, von links nach rechts: Volker Dürr, Heribert Rech, Erika Steinbach, Ivo Gönner, Bernhard Krastl und Mihai Botorog. Foto: Christian Schoger
Die Redner der Gedenkfeier, von links nach rechts: Volker Dürr, Heribert Rech, Erika Steinbach, Ivo Gönner, Bernhard Krastl und Mihai Botorog. Foto: Christian Schoger


Grüße seitens der weltweiten Föderation der Siebenbürger Sachsen entrichtete Bundesvorsitzender Volker Dürr zu Beginn seiner Ansprache. Lange Zeit sei über das Leid der in die Sowjetunion deportierten Deutschen Südosteuropas geschwiegen worden: „Wir gedenken heute ihres schweren Schicksals und verneigen uns vor den Toten.“ Im siebenbürgischen Kulturzentrum in Gundelsheim seien in einem noch zu vervollständigenden Register die Namen von rund 32 000 Deportierten verzeichnet. Im Streben nach Freiheit und Mitbestimmung haben die Deutschen des Donau- und Karpatenraumes dessen Geschichte über viele Jahrhunderte mitgeschrieben, so Dürr. Dann, im vergangenen Jahrhundert, sei „im Spiel der politischen Kräfte“ die Existenz der Deutschen und ihrer Gemeinschaften im Raum zwischen Tatra und Donau in Rumänien, Ungarn und Jugoslawien gefährdet gewesen. Freilich wurden „Anlehnung und Bestätigung beim Mutterland gesucht und in falscher Zeit mit den schlimmsten Folgen begrüßt“. Mit der Kapitulation des besiegten Deutschland hatten die Volksdeutschen kollektiv die Kriegsfolgen zu tragen – „weil sie Deutsche waren“. „Flucht und Vertreibung der Südostdeutschen und nicht zuletzt die Deportation von ca. 130 000 Deutschen, davon ca. 75 000 aus Rumänien, zur Zwangsarbeit in die UdSSR zwischen den Jahren 1945 und 1949 markieren das Ende der deutschen Siedlungsgruppen in Südosteuropa als lebendige, eigenständig agierende und sich bestimmende Gemeinschaften.“ Mit dem Ausgeliefertsein an die Willkür von menschenverachtenden Regimes, der Enteignung, dem Verlust des Vermögens und der Bürgerrechte sei der Verlust der inneren Bindung an die Heimat einhergegangen. So habe die Deportation zur Zwangsarbeit das Identitätsbewusstsein der deutschen Minderheiten während der kommunistischen Epoche bis in die Gegenwart mitgeformt. Das damals an diesen Deutschen begangene Unrecht habe eine moralische Verpflichtung begründet, die sich die Bundesrepublik im Artikel 116 des Grundgesetzes selbst auferlegt habe in Form der Aufnahme der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler aus Südosteuropa als Staatsbürger, „allein weil sie Deutsche sind“. Dürr würdigte nachdrücklich, dass alle Landsmannschaften später die Familienzusammenführung erstritten hätten, als die Angehörigen der deutschen Minderheit „dem Terror und den Verfolgungen eines menschenverachtenden und zuvorderst (…) gegen ihre Gruppenidentität gerichteten Systems ausgesetzt blieben“.



Dokumentationsausstellung in der Ulmer Donauhalle. Foto: Christian Schoger
Dokumentationsausstellung in der Ulmer Donauhalle. Foto: Christian Schoger


Der Bundesvorsitzende wandte sich gegen jedes Relativieren der von Deutschen und in deutschem Namen begangenen Verbrechen, sprach sich für Versöhnung und gegen ein gegenseitiges Aufrechnen von Unrecht aus. Siebenbürger Sachsen, Banater und Sathmarer Schwaben, Donauschwaben und Deutsche aus Ungarn hätten indes überall dort, wo sie heute leben, neue Heimat geschaffen, für sich und ihre Nachkommen. So sollten wir den Sinn dieser Gedenkveranstaltung, endete Volker Dürr seine Ansprache, „nicht nur in der Erinnerung an gemeinsam ertragenes Leid der Betroffenen oder im Wachhalten eines Wissens um maßloses Unrecht sehen, sondern auch im Sinne des zukünftigen Weges als Mahnung an uns alle, gerade heute für Frieden und Menschlichkeit alle einzelnen und gemeinschaftlichen Kräfte einzusetzen.“

Als Schlussredner der Gedenkfeier sprach Mihai Botorog, Rumänischer Generalkonsul in München, ein Grußwort in Vertretung des Rumänischen Botschafters in Berlin, Adrian Vierita. Botorog bezeichnete die Deportation in die Sowjetunion als „tiefen Einschnitt in die Existenz der Rumäniendeutschen“. Lange Zeit sei dieses Thema in Rumänien verschwiegen worden. Erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs könne eine Aufarbeitung erfolgen, da Historiker und Betroffene nun Zugang zu den Archiven hätten: „Ihre Stimme soll gehört werden. Für künftige Generationen soll ihre Erfahrung Mahnung und Beispiel zugleich sein“, sich für die Würde des Menschen einzusetzen und die Menschenrechte zu verteidigen. Symbolhaft für das heutige fried- und respektvolle Zusammenleben von Rumänen und Deutschen in Rumänien stehe die Wahl deutscher Bürgermeister in Hermannstadt, Heltau und Mediasch. Ende April werde Rumänien den Beitrittsvertrag mit der Europäischen Union unterzeichnen. Das Land blicke mit Zuversicht in die Zukunft, ohne die Vergangenheit aus dem Auge zu verlieren, schloss Generalkonsul Botorog. Bernhard Krastl lud die Gäste im Saal abschließend dazu ein, die informativ und anschaulich gestaltete Dokumentationsausstellung in Augenschein zu nehmen. Zeitzeugen, ehemals Deportierte nutzten am Nachmittag die Gelegenheit, sich im Rahmen der Lagertreffen auszutauschen.

Christian Schoger


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