5. Februar 2005

"Heinrich, Heinrich!"

"Eine bewegende, genau gearbeitete und deshalb sehenswerte Inszenierung", heißt es in der nachfolgenden Kritik. Die siebenbürgische Regisseurin Ingrid Gündisch hat Goethes "Urfaust" an der deutschen Abteilung des Radu Stanca Theaters in Hermannstadt inszeniert.
Im deutschen Feuilleton gibt es seit längerem ein Diskussion darüber, wie das Theater der Zukunft aussehen wird. Hat das Regietheater, dem viele Stückezertrümmerer anhängen, ausgedient? Kommen die texttreuen Regisseure wieder mehr zum Zug?

In Zeiten von Arbeitslosigkeit und Theatersterben kehrt eine neue Ernsthaftigkeit auf die Bühne zurück. Damit geht eine Besinnung auf das kulturelle Erbe einher. Man denkt öffentlich darüber nach, dass es die Aufgabe des Theaters ist, dieses Erbe zu pflegen und es in das Bewusstsein der jungen Generation zu heben. Dieser Auftrag gilt auch für das Hermannstädter Theater, das unter viel schwierigeren Verhältnissen bestehen muss. Dessen Publikum definiert sich als Minderheit auch über dieses kulturelle Erbe und wünscht sich deswegen die Klassiker auf die Bühne.

Urfaust. Roger Pârvu (Faust) und Johanna Adam(Gretchen). Foto: Radu-Stanca-Theater
Urfaust. Roger Pârvu (Faust) und Johanna Adam(Gretchen). Foto: Radu-Stanca-Theater

Goethes „Urfaust“ ist zeitlos, also auch modern. Die Gretchenfrage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ gehört in einer offenen Gesellschaft zum Alltag. Wenn ein Katholik ein evangelisches Mädchen, eine Muslimin einen orthodoxen Mann oder ein konfessionsloser einen gläubigen Partner nimmt, stellt sich die Frage nach der Religion. Sie ist wieder wesentlich geworden. Das Erstaunliche am „Urfaust“ ist, dass der Text wenig historischen Ballast enthält und dass sich die oft sehr kurzen Szenen wie im modernen Film in schnellen Wechseln aneinander reihen (Short Cuts). Man kann das Stück als frühe Fassung des berühmten Klassikers lesen oder als geniales, eigenständiges Sturm-und-Drang-Werk, wie es die siebenbürgische Regisseurin Ingrid Gündisch tut.

Wunderbar, wie in dieser Inszenierung mit Farben umgegangen wird: Das Bett ist weiß und weiß der Tüll, der bis in den (Theater) Himmel geht und wenn man so will, auf die Verbindung zum Göttlichen (im Glauben und in der Liebe) hinweist. Das Kostüm von Gretchen ist weiß. Später liegt eine rote Decke auf dem Bett; Gretchens Puppe hat ein rotes Kleidungsstück, Mephisto ein rotes Sakko, Marthe ein rotes Kleid und der Rotwein perlt (in Form von unzähligen Seidenschnüren) vom Himmel. Der Tüll vom Himmelbett wird in der Domszene zur Kuppel. Zum Schluss ist das Bett abgeräumt und Mephisto schnürt Gretchen, die unschuldig Schuldige, in eine weiße Zwangsjacke. Weiß, Rot und Schwarz sind die Farben der Inszenierung. Eine Farbensprache, die die Geschichte auf ihre Art erzählt (Bühnenbild und Kostüme Florilena Farcasanu-Popescu, Nationaltheater Bukarest).

Der „Urfaust“ in Hermannstadt ist eine schlichte, moderne, aber keineswegs modisch überspannte Inszenierung. Der Zuschauer wird von einem nachdenklichen Faust erwartet. Herztöne sind zu hören und weisen, wie auch der mit Föten bestückte Arbeitstisch und später Gretchens Puppe, darauf hin, dass es hier ein totes Kind geben wird. In der Lesart der Regisseurin ist Faust (Roger Parvu) ein hochbegabter, junger Mann mit übertriebenem Selbstbewusstsein. Ihm fehlen Glaube, Liebe, Hoffnung. Er ist nicht ein Titan, ein Halbgott, der die Welt verändert. Heinrich Faust wird sich enttäuscht von seiner Forschung (Experimente an toten menschlichen Embryonen) abwenden und mit Mephisto (Mircea Dragoman) in die Niederungen des Alltags begeben. Die Regisseurin bezieht den ganzen Raum in das Bühnengeschehen mit ein, was für einen gelungenen Überraschungseffekt sorgt: Das Trinkgelage in Auerbachs Keller beginnt mitten unter den Zuschauern im Saal. Faust wird gegen die Normen der Gesellschaft verstoßen, Gretchen (Johanna Adam) verführen und sie im Stich lassen. Gretchen wird in höchster Verzweiflung ihr uneheliches Kind töten. In Goethes „Urfaust“ kommt Gretchen in den Kerker und wird gerichtet. In der Hermannstädter Interpretation verfällt Gretchen dem Wahnsinn und kommt in die Zwangsjacke, bleibt also mit ihrem Leid und ihrer Schuld sich selbst überlassen. Diese Bilder des verirrten Gretchens prägen sich dem Zuschauer tief ins Gedächtnis und ihr Schrei „Heinrich! Heinrich!“ in der Schlussszene auf der unbeleuchteten Bühne geht durch Mark und Bein. Eine bewegende, genau gearbeitete und deshalb sehenswerte Inszenierung, bei der die Schauspieler zeigen dürfen, dass Goethes Text auch heute nicht an Aktualität entbehrt.

Thealinde Reich

Bewerten:

3 Bewertungen: o

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.