22. Februar 2005

Haltrichs Geschichten vom Fuchs und vom Wolf

Vor 150 Jahren veröffentlichte Josef Haltrich die Abhandlung „Zur deutschen Thiersage“. Jacob Grimm schrieb 1855 in einem Brief an Haltrich: „auf das angenehmste überrascht wurde ich in diesen tagen durch Ihre fleißigen und treuen sammlungen zur thiersage.“
Im Vorwort zur ersten Auflage seiner Märchensammlung (1856) erzählt Josef Haltrich über die Entstehungsgeschichte des Märchenbuches Folgendes: „Als ich im Herbst 1845 die Universität Leipzig bezog, fand ich dort meinen Freund Wilhelm Schuster aus Mühlbach. (...) Seine große Begeisterung für die Erforschung alles dessen, was unser sächsisches Volkswesen und Volksleben betrifft, geweckt durch das Studium der Schriften von Jakob und Wilhelm Grimm u. a., teilte sich mir und in der Folge mehreren unserer Freunden, namentlich Friedrich Müller, Johann Mätz und Johann Albert mit, so dass wir uns mit Eifer auf die zu jener Aufgabe vorbereitenden Studien verlegten.“

Haltrich übernahm bei der Aufteilung der Arbeiten das Sammeln von Märchen. Wilhelm Schuster belehrte Haltrich noch in Leipzig über die Notwendigkeit, die siebenbürgisch-sächsischen Märchen zu sammeln. Er selbst begann Märchen aufzuzeichnen, an die er sich noch aus der Kindheit erinnerte, wie auch solcher, die er sich von Haltrich erzählen ließ. Nach der Rückkehr in die Heimat vermehrte er diese Sammlung, die dann den Grundstock zu Haltrichs Sammlung bilden sollte.

Noch bevor die „Deutschen Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen“ auf Vermittlung der Brüder Grimm 1856 im Springer Verlag, Berlin, erschienen, publizierte Haltrich die Tiermärchen im Rahmen einer breiteren Abhandlung mit dem Titel „Zur deutschen Thiersage“ im Schäßburger Gymnasial-Programm 1854/55, also vor 150 Jahren. In den ersten zwei Auflagen der Märchensammlung fehlten die Tiermärchen. Haltrich nahm sie erst in die 3. Auflage auf. Diese Auflage war zum ersten Mal auch illustriert (Bilder von Ernst Peßler). Seither gibt es zahlreiche Illustrationen zu den Märchen von einheimischen deutschen und rumänischen, österreichischen und deutschen Künstlern (siehe Abbildung).



Ernst Preßler (19. Jahrhundert): Der Fuchs betrügt den Bauern um die Fische, der Wolf frisst sie.
Ernst Preßler (19. Jahrhundert): Der Fuchs betrügt den Bauern um die Fische, der Wolf frisst sie.


Die Abhandlung „Zur deutschen Thiersage“ erschien zum zweiten Mal überarbeitet und wissenschaftlich aktualisiert von J. Wolff im Band „Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Kleinere Schriften von Josef Haltrich“, Verlag C. Graeser, Wien, 1885, S. 1-102, unter dem Titel „Siebenbürgisch-deutsche Tiermärchen“. In der ausführlichen theoretischen Einführung zu dieser Ausgabe wird versucht, den Ursprung und die Herkunft der Tiermärchen zu ergründen und festzustellen, inwieweit sie mit nicht siebenbürgischen Tiergeschichten und Fabeln übereinstimmen.

Haltrich war im Sinne der Grimmschen Auffassung der Meinung, es handle sich um „Trümmer“, um Bruchstücke eines alten Tierepos, einer der indogermanischen Völkern gemeinsamen Tiersage. Tatsächlich ist die Tiersage nicht auf deutschem Boden entstanden, sondern lässt sich weit zurück bis zu den Fabeln des Äsop (550 v. Chr.) und zu indischen Fabelbüchern verfolgen. Die Mehrzahl der abendländischen Tiergeschichten stammen also aus dem Orient, von wo sie über Griechenland, Byzanz und Italien nach Frankreich und Deutschland gelangt sind. Weit verbreitet war der elsässische „Reinhart“ und der niederländische „Reinaert de Vos“. Die volkstümlichste Fassung des Stoffes war das Lübecker niederdeutsche Versepos „Reineke de Vos“ (1498), das Gottsched 1752 neu herausgegeben hatte. Gottsched übertrug zugleich eine hochdeutsche Fassung des 16. Jahrhunderts in Prosa. Vermutlich kannte Goethe den Reineke Fuchs über die Gottschedsche Ausgabe mit den Illustrationen von Allaert van Everdingen (1621-1675). Auf diese Ausgabe stützte er sich im berühmten Hexameterepos „Reineke Fuchs“, das u.a. von Tischbein meisterhaft illustriert wurde. Bei all diesen möglichen Einflüssen ist die Herkunft der siebenbürgischen Tiermärchen nicht leicht zu erklären. Es dürfte sich jedenfalls nicht um „mitgebrachtes“ Gut aus der alten Heimat handeln. Die siebenbürgischen Tiersagen sind in gewissem Sinne Tierfabeln. In den Fabeln besitzen Tiere Vernunft und Sprache und somit werden sie zum Spiegel des Menschlichen und vermitteln Moral, d. h. sie enthalten eine Lehre, also Lebensklugheit. Äsop gilt als Vater der Fabeldichtung, seine Motive waren für die Gattung prägend und viele leben auch nach 2500 Jahren in neuen Fabeldichtungen unverändert oder abgewandelt weiter.

Haltrichs Sammlung in der von Wolff gestalteten Ausgabe enthält 45 Märchen, gegliedert in fünf Kapitel: I. Der Fuchs und der Wolf; II. Der Wolf allein; III. Der Fuchs allein; IV. Vereinzelte Stücke; V. Hühnchen und Entelein. In Fußnoten werden Sachsonismen, die im Text vorkommen, erklärt. Im Anhang gibt es ausführliche Erklärungen zu jedem Märchen. Angeführt werden die Orte, wo sie aufgezeichnet wurden und Vergleiche mit ähnlichen Geschichten, Märchen und Fabeln werden gezogen. Viele Tierfabeln sind durch Wandermotive gekennzeichnet. So gibt es z. B. das Haltrich-Tiermärchen „Der Bär, der Wolf, der Fuchs und der Hase auf dem Medwischer Margrethi“ mit identischer Handlung überraschender Weise auch im skandinavischen Märchengut. Wahrscheinlich stammen beide Varianten aus der gleichen Quelle, denn es ist nicht anzunehmen, dass eines der beiden vom anderen beeinflusst wurde. In einem gesonderten Anhang folgt eine Sammlung zum Thema „Die Tierwelt in Sprichwort und Redensart“, wobei nur diejenigen 13 Tiere berücksichtigt sind, die in den Märchen vorkommen. Dazu einige Beispiele: „Der Wulf wieselt det Hoor, awer net de Ort“ (Lupul lasa parul, dar naravul nu); „Wulf äs Wulf en bleift e Wulf und werd e esi alt wä de Kakel“; „Wat frocht der Wulf no den Statuten“; „Den Wulf zem Hanen (Greven, Farr, Kanter) machen“; „E passt derzea wä der Wulf zem Farr (Kanter)“; „Der Kanter hot de Fus bedruejen“; „Läwer Kirschner wä Fus“; „E äs durchgriwelt wä e licht Fus“. Haltrich erwähnt auch Beziehungen zu anderen ähnlichen deutschen, lateinischen und rumänischen Redensarten.

In wissenschaftlichen Kreisen wurde das Erscheinen der Abhandlung „Zur deutschen Thiersage“ freundlich begrüßt. So schreibt Jacob Grimm in einem Brief an Haltrich (1855): „auf das angenehmste überrascht wurde ich in diesen tagen durch Ihre fleißigen und treuen sammlungen zur thiersage. wer hätte geglaubt, daß aus so weiter ferne neue reichthümer dieser literatur aufgethan und bestätigungen mancher dinge, die ich bloß vermutet hatte, dargereicht werden sollten.“ Und Wilhelm Grimm schreibt ihm: „Es ist erfreulich, daß die Deutschen das Tiermärchen noch immer in seinem ursprünglichen Geist hegen, ich meine in der unschuldigen Lust an der Poesie, die keinen anderen Zweck hat, als sich an der Sage zu ergötzen und nicht daran denkt, eine andere Lehre hineinzulegen als die frei aus der Dichtung hervorgeht. Reiner und volkstümlicher haben die nach Siebenbürgen vor etwa 700 Jahren ausgewanderten Niedersachsen in ihrer Abgeschlossenheit die Überlieferung bewahren können.“

Grigore Alexandrescu (1810-1886), ein Zeitgenosse Haltrichs, dichtete zahlreiche Fabeln und wurde der Begründer dieser literarischen Gattung in der rumänischen Literatur. Seine Fabelwelt als malerisches Abbild der rumänischen Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts galt als „Menschliche Komödie“ im Kleinformat, Zitate aus seinen Fabeln wurden in der rumänischen Alltagssprache zu sprichwörtlichen Redensarten.

Es ist bemerkenswert, dass eine Reihe von Episoden aus Tiergeschichten der Weltliteratur, die weit in der Zeit zurückliegen, mit Haltrichs Tiersagen übereinstimmen. Immer wieder verblüffend sind die alle geographischen Grenzen überschreitenden Grundstrukturen dieser Novelistik. Das lässt sich auch mit den zahlreichen Illustrationen nachweisen, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden. Im Familienbesitz befindet sich eine stattliche Sammlung solcher Bilder, die Tiergeschichten verschiedener Zeiten und Länder illustrieren, wobei die Entsprechungen verblüffend sind. Im hier gegebenen Rahmen lassen sie sich leider nicht publizieren. Wir können nur einige Namen von Künstlern und Quellen angeben: Grandville, Ernst Peßler, Helmut von Arz, J. H. W. Tischbein, Fabeln und Parabeln der Weltliteratur, Mittelalterliche englische Illustrationen u.a. Doch sind die Haltrich’schen Tiermärchen nicht nur von kulturgeschichtlichem Interesse – sie gehören zu den Märchen der Sammlung, die den Kindern am liebsten sind.

Walter Roth



Haltrich-Märchen im Internet:
Im Internet sind im Rahmen des Gutenberg-Projektes auch die „Sächsischen Volksmärchen aus Siebenbürgen“, gesammelt von Josef Haltrich, vertreten. Nach einem Porträt von Haltrich und der Titelseite des Buches folgen die Titel sämtlicher Märchen, die im Wortlaut abgerufen werden können. Die Internet-Adresse lautet: gutenberg.spiegel.de/haltrich/maerchen/0htmldir.htm.

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