8. Mai 2005

Geisteswissenschaftler Stefan Sienerth im Gespräch

Dr. Stefan Sienerth, Professor honoris causa der Universität Bukarest und Lehrbeauftragter der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist seit dem 1. Februar 2005 Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) in München. Der am 28. März 1948 in Durles (Siebenbürgen) geborene Geisteswissenschaftler arbeitete in Rumänien als Hochschullehrer in Neumarkt am Mieresch und Hermannstadt sowie als Forscher am Hermannstädter Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie. Stefan Sienerth ist Verfasser bzw. Herausgeber zahlreicher Bücher, Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Regionalliteraturen in Südosteuropa und zur siebenbürgisch-sächsischen Lexikographie. In einem Interview mit Siegbert Bruss sprach der neue Direktor über die Projekte des IKGS, die oft auch Siebenbürgen gewidmet sind.
Sie haben die Volksschule in Durles, das Gymnasium in Mediasch besucht und von 1966 bis 1971 Germanistik und Rumänistik in Klausenburg studiert. Wie ist Ihr Interesse, das Sie auch als Hochschullehrer und Buchautor begleiten sollte, an der siebenbürgisch-deutschen Literatur entstanden?

Zum Bücherlesen bin ich bereits in meinem Elternhaus in Durles, vor allem durch meine Mutter angeregt worden, am Mediascher Gymnasium wurde mir ein erster Einblick in die Geschichte der deutschen und rumänischen Literatur vermittelt. Nachdem ich mich als Student hauptsächlich mit dem Kanon der deutschen und rumänischen Literatur, der Weltliteratur und der vergleichenden Literaturwissenschaft beschäftigt hatte, stieß ich gegen Ende des Studiums auf der Suche nach einem geeigneten Thema für meine Diplomarbeit auf die deutschsprachige Literatur Rumäniens.
Intensiver setzte ich mich mit diesem Thema im Rahmen meiner Promotion (1979) auseinander, die der siebenbürgisch-deutschen Lyrik um die Jahrhundertwende galt, und nachdem ich an der Universität in Hermannstadt Vorlesung zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Rumänien übernommen hatte und das Fach in den Jahren 1975-1986 in seiner ganzen Breite vertrat.

Ihre Forschertätigkeit nach der Aussiedlung im Jahr 1990 steht im Zeichen der Kontinuität. Schon 1991 wurden Sie wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (damals noch Südostdeutsches Kulturwerk), dessen Ruf als angesehene wissenschaftliche Institution im Bereich der Südosteuropaforschung Sie mitbegründen durften. Welche Akzente möchten Sie nun als neuer Direktor des IKGS setzen?

Ich hatte das Glück, im Unterschied zu vielen rumäniendeutschen Akademikern, dass ich nach meiner Aussiedlung keinen neuen Beruf ergreifen musste und meine in Rumänien begonnene Forschungstätigkeit fortsetzen konnte, die ich thematisch freilich stark ausgeweitet habe. Waren meine Arbeiten in meiner rumänischen Zeit (bis 1990) hauptsächlich auf die ältere Literatur orientiert, so sind jene, die ich in Deutschland schrieb und herausgab, vorwiegend auf das 19. und 20. Jahrhundert, auf die Zeit der Nationalismen und des Nationalsozialismus, des kommunistischen Totalitarismus und auf die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Schriftsteller aus Rumänien, aber auch aus dem ehemaligen Jugoslawien und gelegentlich aus Ungarn und der Slowakei, ausgerichtet.
Dank einer guten und ergiebigen Zusammenarbeit mit dem Vorstand des Südostdeutschen Kulturwerkes und jenem des IKGS, mit dem Kuratorium, mit der ehemaligen Direktorin Dr. Krista Zach und den Kollegen und Freunden Dr. Peter Motzan und Eduard Schneider, ist es uns gelungen, im Laufe von rund zwei Jahrzehnten das IKGS zu einer anerkannten Wissenschaftseinrichtung zu entwickeln.


Dr. Stefan Sienerth bei seiner Arbeit in der Halskestraße 15 in München. Foto: Siegbert Bruss
Dr. Stefan Sienerth bei seiner Arbeit in der Halskestraße 15 in München. Foto: Siegbert Bruss

Als Direktor bin ich an einem zügigen und ergebnisreichen Fortgang der Arbeiten im Institut, an seiner weiteren Profilierung und Konsolidierung in der internationalen wissenschaftlichen Landschaft sehr interessiert und werde mich hierfür voll einsetzen.

Im Zeichen der Kontinuität steht auch Ihr Einsatz für das Siebenbürgisch-sächsische Wörterbuch. Wie hat sich dieses Projekt vor und nach der Wende entwickelt, wie beteiligt sich das IKGS an der Herausgabe weiterer Bände des Wörterbuchs?

Nachdem 1986 die Fremdsprachenabteilung an der Hermannstädter Universität aufgelöst worden war, wechselte ich zum Hermannstädter Forschungsinstitut der Rumänischen Akademie, wo ich hauptamtlich im Bereich der Lexikographie tätig war. In den Jahren von 1986 bis 1990 habe ich am Siebenbürgisch-sächsischen Wörterbuch mitgewirkt, zahlreiche dialektale Lemmata verfasst und einige Beiträge zur Geschichte dieses Wörterbuches und zum Werk mehrerer namhafter südostdeutscher Sprachwissenschaftler (Andreas Scheiner, Gustav Kisch, Karl Kurt Klein u. a.) geschrieben. Da die Unterstützung der Ausarbeitung dialektaler Wörterbücher (in Siebenbürgen und im Banat und möglicherweise auch in anderen Regionen) mit zu den Aufgaben unseres Instituts gehört, werde ich das Erscheinen weiterer Bände des Siebenbürgisch-sächsischen Wörterbuches, an dessen Redaktion ich über Jahre mitbeteiligt war und mit dessen Leiterin, Dr. Sigrid Haldenwang, ich sehr gut zusammengearbeitet habe, nach Kräften fördern.

Die Bundesregierung hat 2000 die Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa gemäß Paragraph 96 BVFG neu konzipiert und massive Kürzungen vorgenommen. Wie ist es Ihrem Institut gelungen, die Förderung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) aufrecht zu erhalten?

Die Konzeption der Bundesregierung war bekanntlich auch darauf aus, die wissenschaftliche Orientierung und Profilierung der Institute und Institutionen vorzunehmen, die dem Förderbereich nach Paragraph 96 BVFG angehören. Dass das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, im Unterschied zu anderen Einrichtungen ähnlicher Ausrichtung, damals eine neue Chance bekam, hängt meiner Meinung nach mit mehreren Faktoren zusammen, die ich hier im Einzelnen nicht alle anführen kann. Eine wesentliche Rolle hat hierbei bestimmt auch die durch zahlreiche Veröffentlichungen ausgewiesene Kompetenz der Mitarbeiter gespielt, deren langjährige universitäre und fachliche Erfahrung und das beachtliche Niveau ihres wissenschaftlichen Diskurses. Nicht zuletzt war es die grenzüberschreitende Tätigkeit, die intensive und effiziente Zusammenarbeit (auf Tagungen und Symposien und bei Veröffentlichungen) mit Instituten und Universitäten der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der südosteuropäischen Staaten.

Anfang dieses Jahres wurde dem IKGS der Status eines An-Instituts an der Ludwig-Maximilians-Universität München zuerkannt. Welche Vorteile bringt diese Anbindung an eine renommierte Universität für Ihr Haus?

Eine ganze Menge. Dadurch wird vor allem die wissenschaftliche und universitäre Leistung der Germanisten des IKGS, die schon seit Jahren als Lehrbeauftragte der Münchner Uni tätig sind, anerkannt. Nach der Anbindung an die LMU München können wir unsere Forschungsergebnisse verstärkt an Studenten, Doktoranden und Habilitanden vermitteln sowie Diplomarbeiten und Promotionen betreuen. Zudem sind wir bestrebt, die universitäre Lehrtätigkeit an südosteuropäischen Universitäten auszuweiten. Die Anbindung des IKGS an die LMU, die mit drei Hochschulprofessoren in den Leitungsgremien unseres Instituts vertreten ist, wird übrigens in einer Feierstunde am 4. Juni 2005 im Senatsaal der Universität öffentlich begangen.

Welche Tätigkeiten entfaltet das IKGS im universitären Bereich, und welche Ziele verfolgt es im Hinblick auf die Nachwuchsförderung?

Wenn die finanziellen Möglichkeiten des IKGS es erlauben, werden über die unmittelbare Betreuung der Studenten in den Lehrveranstaltungen auch Diplomanden- und Doktorandenkolloquien im IKGS oder andernorts interdisziplinär und länderübergreifend veranstaltet. Kollege Peter Motzan leitet Mitte Mai in Zusammenarbeit mit dem Inhaber des Stiftungslehrstuhles an der Klausenburger Universität, Prof. András Balogh, eine solche Begegnung in Klausenburg mit Doktoranden, die über rumäniendeutsche Literatur promovieren. Ich habe vor kurzem bei ähnlichen Treffen in Bukarest und Laibach/Ljubljana (Slowenien) den Forschungsbereich des IKGS vorgestellt und hatte einen sehr interessanten Erfahrungsaustausch mit Lehrkräften, Doktoranden und Studierenden an den dortigen Germanistikabteilungen. Nicht wenige von ihnen zählen zu den Mitarbeitern eines seit Jahren in Angriff genommenen Lexikons deutschsprachiger Autoren aus Südosteuropa, an dem zurzeit zügig gearbeitet wird.

An der Universität Klausenburg wurde 2004 aus Mitteln der Bundesregierung eine Stiftungsprofessur zum Studien- und Forschungsbereich „Deutsche Literatur im südöstlichen Mitteleuropa und ihre Verflechtungen und Wechselbeziehungen in multikulturellen Lebensräumen“ eingerichtet. Das IKGS wird diese Professur im Auftrag der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien über einen Zeitraum von fünf Jahren unterstützen und begleiten. Welche konkreten Ziele werden dabei verfolgt?

Der Tätigkeit des Stiftungslehrstuhles an der Universität Klausenburg (Rumänien), der mit Mitteln der Bundesregierung über das IKGS gefördert wird, widmen wir eine besondere Aufmerksamkeit. Welch wichtige Rolle dieser Lehrstuhl in der Kulturpolitik der Bundesregierung spielt, beweist nicht zuletzt die Anwesenheit der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Dr. Christina Weiss, bei der Eröffnungsfeier am 11. Oktober 2004 in Klausenburg.
Die wissenschaftliche Arbeit und die universitäre Lehre der Stiftungsprofessur wird von Peter Motzan und von mir beratend begleitet, wir planen und führen mit den Klausenburger Kollegen Tagungen und gemeinsame Buchprojekte durch, organisieren Lehrveranstaltungen und öffentlich wirksame Darbietungen wie Dichterlesungen und Vorträge.

Das IKGS hat die Totalitarismen aus literaturgeschichtlicher Sicht bereits in zwei Bänden beleuchtet („Worte als Gefahr und Gefährdung. Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht“, 1994 und „Deutsche Literatur in Rumänien und das „Dritte Reich“, 2003). Welche Vorhaben sind geplant, um den Nationalsozialismus und Kommunismus auch aus historischer Perspektive zu untersuchen?

Die Auseinandersetzung mit den beiden in ihren Folgen auch für die Deutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa verheerenden Diktaturen, der nationalsozialistischen und kommunistischen, gehört zu den Schwerpunkten der wissenschaftlichen, universitären und publizistischen Tätigkeit des IKGS. Mit Fragen der Vereinnahmung, der Verstrickung, aber auch der Ausgrenzung und des Widerstandes der Deutschen aus Südosteuropa gegen den Totalitarismus im 20. Jahrhundert haben sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter immer wieder in Büchern, nicht nur in den von Ihnen erwähnten, und Studien sowie auf Tagungen beschäftigt; in den „Südostdeutschen Vierteljahresblättern“ wird sozusagen in jedem Heft darauf eingegangen oder Bezug genommen. Im historischen Bereich, der im Vergleich zum germanistischen bislang etwas vernachlässigt worden ist, widmet sich Privatdozentin Dr. Mariana Hausleitner, seit Dezember 2004 Projektmitarbeiterin des IKGS, fast ausschließlich diesem Forschungsfeld, dem sich die Germanisten auch hinfort verstärkt zuwenden werden.

Im Auftrag des IKGS erscheinen, nun bereits im 54. Jahrgang, die von Hans Bergel und Johann Adam Stupp herausgegebenen „Südostdeutschen Vierteljahresblätter“, die über Literatur, Kunst und Geschichte der Deutschen in und aus Südosteuropa informieren. Wie wollen Sie diese Zeitschrift, deren Markenzeichen auch der grenzüberschreitende Dialog ist, noch attraktiver gestalten und für ein breiteres Leserpublikum öffnen?

Die beiden bewährten Herausgeber, Dr. h. c. Hans Bergel und Johann Adam Stupp, die mit dem allzu früh verstorbenen Franz Hutterer und mit Prof. Anton Schwob und Dr. Horst Fassel über Jahre die Zeitschrift des IKGS inhaltlich geprägt und redaktionell betreut haben, werden auch hinfort an der Zeitschrift mitwirken, auch wenn in der nächsten Zeit einige Änderungen im Redaktionskollegium, in der inhaltlichen Ausrichtung und formalen Gestaltung vorgenommen werden. Vor allem soll das Leseangebot der „Südostdeutschen Vierteljahresblätter“ thematisch aufgefächert und qualitativ verbessert werden, auch wird eine etappenweise Modernisierung der Zeitschrift, ebenso ihres äußeren Erscheinungsbildes, angestrebt. Neue Rubriken sollen eingeführt werden, beispielsweise die Rubrik „Manuscriptum“, um nicht zuletzt auf die Archivbestände des IKGS aufmerksam zu machen. Der Mitarbeiterkreis der „Südostdeutschen Vierteljahresblätter“ ist vor allem mit jungen Autoren und Beiträgern aus Südosteuropa zu vergrößern.

Als Direktor sind Sie sicherlich stark auch in administrative Aufgaben eingespannt. Bleibt da überhaupt Zeit, sich eigenen Forschungsvorhaben zu widmen?

Ich will es hoffen, wenn auch zurzeit die eigene Forschungstätigkeit im Zuge der Aufgaben, die mit meiner neuen Stelle zusammenhängen, etwas in den Hintergrund gedrängt worden ist. Doch bin ich zuversichtlich, dass ich bei einer guten Zeitein- und Aufgabenverteilung meine wissenschaftlichen Vorhaben nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren brauche. Übrigens, Direktor bin ich erst seit ein paar Monaten und von Amts wegen, Hochschullehrer und Forscher sozusagen schon ein Berufsleben lang.

Herr Dr. Sienerth, besten Dank für das Gespräch.

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