8. September 2001

EU-Beitritt "zeitlich noch in weiter Ferne"

Bei einer Debatte über die bevorstehende EU-Erweiterung hat die Berichterstatterin des Europa-Parlaments für Rumänien, die britische Liberale Baronin Emma Baroness Nicholson of Winterbourne, Rumänien wichtige Erfolge bescheinigt, aber auch noch einen großen Handlungsbedarf festgestellt. Der Beitritt von Rumänien, Bulgarien und der Türkei liegt nach Ansicht von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen "zeitlich noch in weiter Ferne".
Das Europa-Parlament hat die EU-Beitrittskandidaten aufgefordert, energischer als bisher gegen Korruption und Kriminalität vorzugehen. Bei einer Debatte über die bevorstehende EU-Erweiterung kritisierten die Abgeordneten am 4. September in Straßburg auch Missstände bei der Behandlung von Minderheiten. So würden Angehörigen der Roma in mehreren osteuropäischen Bewerberstaaten wie der Slowakei, Bulgarien und Rumänien diskriminiert. Allerdings wurde auch festgestellt, dass alle Beitrittskandidaten große Fortschritte bei der Übernahme des EU-Rechts gemacht hätten.
EU-Kommission und Europaparlament bekräftigen bei der Debatte, alles zu tun, damit die Erweiterung der Europäischen Union um neue Mitglieder im Jahr 2004 beginnen kann. EU-Erweiterungskommissar Verheugen wird von der Süddeutschen Zeitung zitiert, wonach sich die EU-Länder "innerlich" vorbereiten müssten, 2004 eine erste Beitrittsgruppe von bis zu zehn Beitrittskandidaten aufzunehmen. Die Erweiterung auf "einen Schlag" um zehn Mitglieder sei jedoch nicht so dramatisch, versicherte Verheugen. Diese Staaten repräsentierten insgesamt nur 75 Millionen Bürger. Erst durch den Beitritt von Rumänien, Bulgarien und die Türkei, "die zeitlich noch in weiter Ferne liegen", würde die Bevölkerung der EU insgesamt um 185 Millionen Menschen wachsen, sagte Verheugen. Der EU-Kommissar bekräftigte das bisherige Prinzip, nur "individuelle Verdienste" der Kandidatenländer für einen Beitritt zu zählen. "Die Kommission wird den Abschluss des Beitrittsvertrags für jeden einzelnen Bewerber erst dann vorschlagen, wenn sie davon überzeugt ist, dass der Bewerber gut genug vorbereitet ist und alle Bedingungen erfüllt", zitiert die Süddeutsche Zeitung den Erweiterungskommissar.
Die Berichterstatterin des Parlaments für Rumänien, die britische Liberale Baronin Emma Baroness Nicholson of Winterbourne, stellte fest, das Rumänien zwar wichtige Erfolge erzielt, aber noch viel zu tun habe. Positiv wurden die Entwicklungen im Bereich der makro-ökonomischen Stabilisierung eingeschätzt, die Maßnahmen für den Schutz der verlassenen Kinder und die Bemühungen der rumänischen Regierung, den Beitrittsprozess zu beschleunigen, berichtet der Kurier in Wien. Kritisiert wurden unter anderen die mangelhafte Bekämpfung der Korruption, die fehlenden Reformen der Landwirtschaft, im Bereich des Umweltschutzes und der öffentlichen Verwaltung sowie die Einmischung der Exekutive in die Justiz. Während die politischen Kriterien von Rumänien im Allgemeinen erfüllt werden – demokratisch gewählte Regierung, stabile demokratische Institutionen – entspreche Rumänien vom wirtschaftlichen Standpunkt bei weitem nicht den EU-Kriterien. So werde in einem Bericht der Europäischen Kommission von November 2000 klar gesagt worden, "dass Rumänien nicht über eine ordnungsmäßig funktionierende Marktwirtschaft verfügt und mittelfristig noch nicht in der Lage sei, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der EU standzuhalten", fasst der Kurier die derzeitige Lage zusammen.
Einen anderen Schwerpunkt setzt die Berliner Zeitung in ihrer Berichterstattung über die Debatten in Straßburg. Rumänien sei wegen der Lage der Heimkinder und des internationalen Kinderhandels "heftig kritisiert" worden. Die Lage der rund 100 000 Heimkinder sei nach wie vor außerordentlich schlecht, habe die Baronin Emma Baroness Nicholson erklärt. "Kinder aller Altersstufen würden in den Heimen verprügelt, müssten hungern und würden in den Heimen medizinisch nicht versorgt. Babys im Alter von weniger als sechs Monaten würden rasch in ein ‚gut funktionierendes, finanziell motiviertes internationales System des Kinderhandels’ geraten. Unter dem Vorwand der Adoption würden weltweit Gewinn bringend verkauft", so die Berliner Zeitung. Auch bei Waisenkindern zwischen elf und 18 Jahren sei Nicholson bei ihren Nachforschungen "Auf Hunderte von Fällen internationaler Adoption, bei denen es keine Hinweise auf eine adoptierende Familie gegeben habe", gestoßen. Erweiterungskommissar Günter Verheugen habe in der gleichen Debatte im Europa-Parlament von einem "atemberaubend korrupten System". Immerhin habe sich die neue rumänische Regierung aber zu Reformen bereit erklärt. Bukarest sei willens, ein Moratorium für internationale Adoptionen in Kraft zu setzen, bis sichergestellt sei, dass es keinen Missbrauch mehr geben könnte.
Einer Meldung der Algemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien zufolge habe Verheugen die Fortschritte in der Kinderfürsorge gelobt und von "einem Hoffnungsschimmer bezüglich Rumänien" gesprochen.
Die rumänische Regierung gab in einer am 6. September veröffentlichten Erklärung ihrer Befriedigung über den Verlauf der Erweiterungsdebatte und die Bewertung Rumäniens Ausdruck. Die von der Neuen Zürcher Zeitung zitierte Stellungnahme geht auf die kritischen Anmerkungen des Berichts nicht ein, sondern bewertet die Straßburger Debatte als eine Bestätigung dafür, "dass der Ernst und die Entschlossenheit der seit Ende letzten Jahres im Amt stehenden Regierung bei der Vorbereitung des EU-Beitritts Ergebnisse zu zeitigen beginnen". Bukarest begrüßte namentlich der Ruf nach Abschaffung des Visumzwangs für rumänische Staatsangehörige sowie die Unterstützung für Rumäniens Wunsch nach NATO-Mitgliedschaft.

S. B.

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