29. Oktober 2005

Ingmar Brantsch: Aphorismen

Die Aphorismen sind eine literarische Gattung, die bei den Siebenbürger Sachsen etwas in Vergessenheit geraten ist. Eine wahre Fundgrube ist Richard Breckners „Spinngewebe. Aphoristische Gedanken“, erschienen 1929 im Verlag Krafft & Drotleff in Hermannstadt. Mit Breckner und Ingmar Brantsch sind übrigens zwei Siebenbürger Sachsen in der Anthologie „Deutsche Aphorismen“, herausgegeben von Klaus von Welser im Piper Verlag München (1988) vertreten.
Ausgewogen
Zwischen schwarz und weiß ist grau die Mitte. Grau in grau totale Ausgewogenheit.

Konstruktive Kritik
Kritik ist gestattet. Selbstverständlich im Rahmen des Lobes.

Wissenschaftlich erwiesen
Das Wasser fließt dorthin, wo es keinen Widerstand gibt. Deshalb geht ohne Widerstand alles den Bach runter.

Konstruktiver Vorschlag zum gesellschaftlichen Engagement
Aphoristiker zwingen, Volksreden zu halten.

Verstand und Gewissen
Mein Verstand sagt mir, was ich schreiben kann. Mein Gewissen schweigt, um mir nicht zu sagen, was ich nicht schreiben kann.

Knalleffekt
Seine Aphorismen waren so blendend, dass man danach keinen Blick mehr für das Schöne im Leben hatte.

Tragik des zu Frühgekommenen
Mancher, der sich die Hörner noch gar nicht abgestoßen hat, kriegt schon wieder neue aufgesetzt.

Political correctness
Eine Quote für Kleinwüchsige im Baskettball.

Logik
Wer sollte einen schon enttäuschen, wenn nicht gerade diejenigen, von denen man es am wenigsten erwartet.

Eine Demokratie im Flüsterton
Eine Demokratie im Flüsterton, in der nicht offen über alles gesprochen werden kann, ist eine Demokratie im Narkosezustand, die aus der Operation von der Diktatur nicht erwacht ist.

Weisheit des Alters
Als alter Mann mit Glatze heißt’s jetzt gelassen sein. Die Zeit des sich Haareausraufens ist vorbei und man braucht sich auch nicht mehr graue Haare wachsen zu lassen.

Statt
Statt der schweren Koffer des Systems die Leichtigkeit des ideologischen Kofferkulis.

Präzisierung
Im Alter gehe ich zu den grauen Panthern, in die Abteilung Albinos mit meinem schlohweißen Haar.

Männer
Es gibt nichts Dümmeres als Männer, weil sie nur Frauen im Kopf haben.

Kulturelle Westhilfe
Da kommen irgendwelche Spezialisten aus dem Westen und erzählen den Ossis, wie deren Geschichte wirklich gewesen zu sein hat für die nötige Quote in den Westmedien.

Die Sonne bringt es an den Tag
Erst wenn der Schnee geschmolzen ist, kannst du sehen, wo die Kacke liegt.

Neues Kostüm
Wenn man in Rente geht, zieht man ein neues Kostüm an. Von der grauen Eminenz zur grauen Maus.

Der Affe und der Börsenmakler
Der Affe und der Börsenmakler wählten Aktien. Die Affen waren erfolgreicher. Das kam daher, dass der Börsenmakler cool war. Der Affe aber war affengeil auf Tierfutteraktien. Diese waren gerade wegen der unerwarteten Dürre gestiegen und stiegen lustig weiter.

Verstand schafft Leiden
Mit der Aufklärung ist es nur ein Schritt von der heilen Kuh zur dummen Kuh. Von Indien nach Posemuckel.

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Ingmar Brantsch wurde am 30. Oktober 1940 in Kronstadt geboren, lebt zurzeit in Köln und wirkt bis zu seinem 66. Lebensjahr als beamteter Lehrer. Sein Gedichtband „Deutung des Sommers“ (Literaturverlag Bukarest, 1967) wurde 1968 mit dem Lyrikpreis der Jungen Akademie München und der Jungen Akademie Stuttgart ausgezeichnet. 1983 erschien sein Lyrikband „Neue Heimat BRD. Spätheimkehrer nach tausend Jahren“, 1985 bzw. 1987 veröffentlichte er die Prosabände „Karnevalsdemokratie“ sowie „Mozart und das Maschinengewhr“. Sein jüngstes Werk ist ein Prosaband mit autobiographischen Erzählungen „Goethe und Heine hinter Gittern“ (2005). Zudem veröffentlichte Brantsch literaturgeschichtliche Bücher und zahlreiche Aufsätze über die deutschen Minderheiten in Rumänien, Ungarn und Russland.

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