3. November 2005

Eginald Schlattner: Mit Geschichten sich der Geschichte angenähert

Bei Zsolnay in Wien ist nach "Der geköpfte Hahn" und "Rote Handschuhe" der dritte Roman Eginald Schlattners erschienen: "Das Klavier im Nebel". Seine Handlung spielt im Siebenbürgen der Jahre 1948 bis 1951, als sich unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht in Rumänien die stalinistische Diktatur etablierte. Damit schiebt sich die Neuerscheinung erzählzeitlich zwischen die ersten beiden Romane des Schriftstellers. Zusammen bilden die drei Bücher nach Ansicht der ernst zu nehmenden "Neuen Zürcher Zeitung" eine "veritable Siebenbürgen-Trilogie", mit der Schlattner, so das Blatt, "der untergehenden sächsischen Lebenswelt ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt" habe.
Gegenstand der neuen Romanerzählung sind vier Jahre aus dem Leben des Gymnasiasten Clemens Rescher, Sohn eines von den kommunistischen Machthabern enteigneten Schäßburger Fabrikbesitzers. Der Vater des Jungen sitzt als renitenter "Ausbeuter" in "Stalinstadt", dem vormals sächsischen Kronstadt, im Gefängnis. Als der Rest der Familie samt Gesinde aus ihrer herrschaftlichen Villa hinausgeworfen wird und im ehemaligen Pferdestall des Anwesens eine Notunterkunft findet, flieht die extravagante Mutter vor den Fährnissen des Umsturzes und soll, dem Vernehmen nach, irgendwo im Südosten des Landes als Fischweib ihr Leben fristen. Auch der Sohn, der mit der Großmutter allein verblieben ist, bricht zunächst in eine erträumte Freiheit aus: Er verbringt mehrere Wochen in einer Laubhütte am Rande eines der Sonnenblumenfelder aus dem enteigneten Besitz des Vaters. Bald aber treiben ihn die Zwänge des Realen zurück ins sozial umgekrempelte Leben der Vaterstadt. Als Tagelöhner in einer verstaatlichten Ziegelei, dann als angehender Facharbeiter in der ebenfalls staatseigenen Porzellanfabrik versucht er vergeblich, sich der "neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung" anzupassen. Schließlich führt ihn eine Reise zu Verwandten ins Banatschwäbische, wo er Zeuge der Deportation seiner Angehörigen in die Baragansteppe wird. Immer und überall bleibt er der Außenstehende.


Gleichsam als roter Faden ziehen sich durch die Stationen seines jungen Lebens frühe Liebeserfahrungen: erste erotische Ahnungen im Zusammensein mit Petra, der Tochter des ehemaligen Nachtwächters und frisch gebackenen Parteiagitators Schuffert, jugendlich abgehobene Gleichklänge in hochintellektuellen Gesprächen mit der wohlerzogenen Isabella Reinhardt aus der Familie des angesehenen örtlichen Konditors, die Entdeckung zwischengeschlechtlicher Solidarität in der Begegnung mit dem Zigeunermädchen Carmencita und zuletzt das tiefe Liebesverhältnis zur schönen Rumänin Rodica. Keiner dieser Beziehungen aber ist Dauer gegeben: Petra kehrt in ihre gesellschaftlich konditionierte Lebenswelt zurück und wird aus den Augen verloren, Isabella und deren Hausfrau Sophie, die einen zu Kriegsende versprengten deutschen Fahnenjunker versteckt halten, werden von Clemens an die Staatssicherheit verraten, Carmencita kehrt in ihren Stammesverband zurück und Rodica geht, weil in ihr Bindungen an Herkunft und Traditionen lebendig sind, die Clemens nicht nachvollziehen kann. Letztlich aber sind es nicht weltanschauliche Gründe, nicht die Klassenunterschiede und nicht die national unterschiedlichen Wertvorstellungen, die zum Auseinanderbrechen dieser Beziehungen führen, die Ursache dazu liegt vielmehr im erfahrungsbedingten Ich- und Weltverständnis des Clemens selbst, der einmal von sich sagt: "Nie werde ich zu euch gehören, denn ich gehöre nirgendwo hin." (S. 234)

Und ein zweiter Kernsatz findet sich im Buch: "Geschichte trennt, aber Geschichten, die schaffen Nähe", meint Clemens in einem Gespräch mit Isabella (S. 361). Die Aussage ist Selbstaussage weniger der Hauptfigur als des Romanautors, mit ihr definiert er sein schriftstellerisches Credo: Auf ihren 520 Seiten ist seine Erzählung ein einziger Versuch, sich erlebter Geschichte in Geschichten zu nähern. Nicht anders war die Machart in den beiden vorangegangenen Romanen: Hier wie dort unterbrechen unzählige Rückblenden und Verästelungen den zentralen Handlungsstrang, lauter Geschichten in der Geschichte, oft anekdotisch pointiert, in überwiegender Mehrzahl von satter Plastizität. Sie machen das Lesen vergnüglich und verkürzen in der Tat die Distanz, "schaffen Nähe" zu dem, was war, irgendwann und irgendwo fern in einer südosteuropäischen Provinz.

Freilich kann Nähe auch Unschärfe erzeugen. Zusammenhänge, Querverbindungen, Zustandslinien verwischen sich, fallen gar aus dem Blick. So wird bloß episodisch, in nur zwei Szenen - einmal angesichts des streng bewachten, zum Gefängnis umfunktionierten Burgkastells in Fogarasch und das zweite Mal bei der plötzlichen Verhaftung eines altgedienten Parteifunktionärs vor versammelten Dorfbewohnern im Banat - die gesellschaftlich relevante Grundbefindlichkeit der Menschen in jenen Zeiten brutaler Diktatur angedeutet: die allgegenwärtige Angst vor den Terrormaßnahmen und Übergriffen der Machthaber, fleißig von diesen geschürt als bewährtes Mittel der Herrschaftssicherung.

Ähnlich unscharf die Zeichnung in Sachen Russlanddeportation und deren Auswirkungen: Der Verschleppung haben sich einige Siebenbürger Deutsche entzogen, indem sie sich vor den Häschern verbargen oder sich freikauften. Das ist für Clemens ein moralisches Problem, das ihn belastet, denn seine reichen Eltern gehörten auch zu denen, die nicht deportiert wurden: "Für jeden, der sich gedrückt hat, haben sie einen Schuldlosen verschleppt." (S. 137) Da stellt sich sofort die Frage, die freilich eine an die Geschichte und nicht eine an Familiengeschichten ist: In welchem Maße war denn der kleine Schäßburger Lebensmittelfabrikant Rescher "schuldig", dass er hätte zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt werden müssen, und inwieweit waren es die anderen alle, die nicht einspringen mussten für "Drückeberger", kleine Leute zu Tausenden und Abertausenden, Frauen, Männer, Halbwüchsige, die, ebenfalls zu Tausenden, in der Deportation umkamen? Einiges hat sich hier in der Tat verwischt.

Daher auch die ständigen Versuche des Autors Distanz zu gewinnen zu seinem Stoff. Bewährte Mittel: Ironie und Groteske. Vorwiegend sie kennzeichnen die Machart der Verästelungen und anekdotischen Einschübe, verfremden oder karikieren darin gesellschaftliche Zustände und Fakten, stellen die Absurdität von Machtanspruch und das menschliche Versagen davor bloß. Und sie veranschaulichen den Niedergang des siebenbürgisch-sächsischen Gemeinwesens, über das die Geschichte in Geschichten hinwegzieht. Ironie und Groteske machen das Böse und die Tragik erträglich, auch dann noch, wenn in der Szene in Fogarasch (S. 393 f.), wo ein Redeauftritt der kommunistischen Spitzenfunktionärin Ana Pauker vom allgemeinen Tanzvergnügen des zusammengetriebenen Auditoriums unterbrochen und beendet wird, der berühmte Günter Grass mit seinem nicht weniger berühmten Kapitel "Die Tribüne" aus der "Blechtrommel" kräftig mitgeschrieben hat.

Ähnlich wie ebenfalls bei Grass ist die Sprache des Romans, vor allem die seiner Gestalten durchsetzt von mundartlichen Ausdrücken und Redewendungen, auch von rumänischen Satzfragmenten, die dem Roman reizvoll Lokalkolorit verleihen. Dass allerdings Schlattner kein sicherer Mundartsprecher zu sein scheint, darauf lassen einige Fehleinsätze des dialektalen Sprachmaterials schließen. So etwa spricht der frisch gebackene sächsische Parteiagitator Schuffert eher ein verballhorntes Jiddisch als das typisch siebenbürgische "Kucheldeutsch", und in der Mundart dreht man sich, genau wie in der Hochsprache, im Grabe um, man "bedreht" (S. 297) sich darin nicht, es sei denn, man will damit ausdrücken, dass man darin gerade noch Platz finde.

Solches freilich wird vor allem den binnendeutschen Leser nicht stören, dem, wie dem siebenbürgischen auch, mit diesem Roman eine über weite Strecken fesselnde und immer wieder auch vergnügliche Lektüre geboten wird. Selbst wenn die Einschätzung der "Neuen Zürcher Zeitung", es handle sich hier um ein "grandios erzähltes Epos", etwas hoch gegriffen scheint, weist der Roman seinen Verfasser, wie im Falle der beiden ersten Bücher auch, als einen der kunstfertigsten und faszinierendsten Erzähler siebenbürgisch-deutscher Zunge aus. .

Hannes Schuster

Eginald Schlattner: "Das Klavier im Nebel". Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005, 428 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 3-552-05352-2. Buch über den SiebenbuergeR.de-Shop bestellen ...
Das Klavier im Nebel: Roman
Eginald Schlattner
Das Klavier im Nebel: Roman

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