15. Dezember 2005

Das modellhafte Phänomen der rumäniendeutschen Literatur

Neben der Region der Flamen im Norden Belgiens mit etwa fünf Millionen und der der Wallonen im Süden mit etwa vier Millionen ist die Region der Belgiendeutschen mit 72 252 Seelen der dritte und kleinste autonome Landesteil, der "Ostkanton", mit einem eigenen Parlament und einer eigenen Regierung. Damit hat Belgien zurzeit die minderheitenfreundlichste Regelung Europas. Unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des deutschsprachigen Ostkantons, Karl-Heinz Lambertz, und der 25-jährigen Ministerin für Kultur und Medien, Denkmalschutz, Jugend und Sport, Isabelle Weykmans, fand vom 26. bis 28. Oktober in der Kantonshauptstadt Eupen eine Tagung zum Thema "Literatur und Verlage der Minderheiten in Europa" statt.
Der gesamteuropäische Aspekt kam in der Vielzahl und Mannigfaltigkeit der eingeladenen Autoren und ihrer Verlagsvertreter zum Ausdruck. Aus Rumänien war Hans Liebhardt vorgeschlagen worden, weil er mit seinen drei gewichtigen rumäniendeutschen Prosaanthologien "Worte und Wege", "Worte unterm Regenbogen", aber vor allem mit seiner letzten Anthologie rumäniendeutscher Autoren ("Aufs Wort gebaut") der wichtigste rumäniendeutsche "Anthologist" in der alten Heimat ist. Alle waren mit dem Vorschlag einverstanden, mussten aber im letzten Augenblick noch umdisponieren, weil es keine Reisekostenzuschüsse für den ehemaligen Ostblock gab. Mir wurde die Ehre zuteil, Hans Liebhardt zu ersetzen, weil Köln, nur 80 km von Eupen entfernt, kein Kostenfaktor war.

Dies ist eine Folge des anhaltenden Vorurteils, die rumäniendeutsche Literatur sei nach der Aussiedlung der Aktionsgruppe Banat "gestorben", wie es die Anthologie "Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur" 1990 fälschlicherweise behauptete, aber inzwischen längst widerlegt wurde. Schon damals lebten und wirkten in der alten Heimat noch so bekannte Autoren wie Joachim Wittstock, Ilse Hehn, Hans Liebhardt, die kürzlich 85-jährig verstorbene Ursula Bedners, Erika Scharf, Carmen Elisabeth Puchianu, um nur die Bekanntesten zu erwähnen. Hinzu kommt das bisher in Europa einmalige Phänomen der jüngsten Autorengeneration des Stafette-Literaturkreises aus Temeswar. Hier schreiben in deutscher Sprache auch junge rumänischsprachige Autorinnen und Autoren wie Lucian Manuel Varsandan, Andrei Cherascu, Petra Curescu, Bianca Barbu und noch eine ganze Reihe anderer vielversprechender Talente, die neben ihrer Muttersprache Rumänisch auch ihre Bildungssprache Deutsch beherrschen, erlernt in den nach dem Massenexodus der Rumäniendeutschen verbliebenen Kindergärten und Schulen mit deutscher Unterrichtssprache. Ein ermutigendes Beispiel Sprachgrenzen überschreitender Kreativität im auch literarisch zusammenwachsenden Europa. Ein rumänisches und rumäniendeutsches Modell nicht zuletzt auch für Westeuropa, denkt man an Frankreich mit seinen zwei Millionen Elsässern ohne eigenes Staatstheater und Tagespresse und deutschsprachige Schulabteilungen.

Auf dieses für Gesamteuropa modellhafte Phänomen konnte ich am letzten Tag des Symposiums eingehen, nachdem wir am Vortag eine literarische Rundreise durch Ostbelgien unter der sachkundigen Führung des Autors und Linguisten Leo Wintgens genossen hatten und nachdem am ersten Tag über die Prager deutsche Literatur in Anwesenheit des tschechischen Botschafters in Belgien referiert wurde. Ebenfalls am Abend des Eröffnungstages stellte Leo Wintgens die deutschsprachige Literatur des belgischen Ostkantons vor, Rut Bernardi die ladinische Literatur, Johann Schuth die ungarndeutsche Literatur, Roza Domascyna die sorbische Literatur und Waldemar Weber die russlanddeutsche. Der Austausch zwischen den Verlagen fand als Höhepunkt des Treffens am letzten Tag statt.

Hinzu kamen die Berichte von Johann Schuth über den Verlag der Neuen Zeitung Budapest, von Maria Matschie über den sorbischen Domowina Verlag aus Bautzen sowie meine Kurzpräsentation des Verlages der Artpress Stafette mit deren letztem Jahrbuch aus Temeswar, des Hora Verlages in Hermannstadt mit Joachim Wittstocks letztem Band "Keulemann und schlafende Muse", des Aldus Verlags in Kronstadt mit Carmen Puchianus Prosaband "Amsel schwarzer Vogel" und des ADZ-Verlages in Bukarest mit Hans Liebhardts und Josef Erwin Tiglas Anthologie "Aufs Wort gebaut". Alle Werke lagen zur Ansicht aus. Die meisten Autoren und Verleger (außer Johann Schuth) hielten die rumäniendeutsche Literatur für abgeschlossen nach der Aussiedlung der Aktionsgruppe Banat. Dass zum Beispiel Eginald Schlattner der Kulturbotschafter Rumäniens für das Jahr 2004 war und im selben Jahr vom Bundespräsidenten der Republik Österreich mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse ausgezeichnet wurde, erregte Staunen.

Auch der russlanddeutsche Autor und Verleger Waldemar Weber, Herausgeber der Anthologie "Lyrik der Sieben Burgen" über die rumäniendeutsche Dichtung, betonte, dass die rumäniendeutsche Literatur zu Recht die fünfte deutsche Literatur genannt werde. Der Verleger, Lektor und geschäftsführende Gesellschafter des Rimbaud Verlags aus Aachen, Bernhard Albers, hob die Einmaligkeit der rumäniendeutschen Literatur am Beispiel des Hermannstädters Paul Schuster hervor, dessen große Familiensage "Fünf Liter Zuika" er in mehreren Folgen in seinem Verlag herausgibt. Er verglich Paul Schuster mit Robert Musil und Alfred Döblin und zeigte sich erfreut, dass trotz des Todes von Paul Schuster 2004 die Veröffentlichung seines Hauptwerkes weitergeführt werden könne. "Fünf Liter Zuika" sei eine im Geist der Aufklärung und Toleranz konzipierte Gesamtschau einer europäischen Randregion von eigenartigem Reiz. Aus der rumäniendeutschen Literatur hat der Rimbaud Verlag auch Alfred Kittner und in diesem Jahr Elisabeth Axmann (beide mit Gedichtbänden) veröffentlicht.

Man weiß noch viel zu wenig über die neueste rumäniendeutsche Literatur. Das Interesse an ihr ist nach wie vor sehr groß. Daher sollten vor allem die Literaturschaffenden vor Ort gefördert werden. Zumal im Zeichen der Globalisierung die Fördermittel immer knapper werden. Dabei schenken die bundesdeutschen und österreichischen Stellen der Brückenfunktion der deutschen Sprache und Literatur im gesamtrumänischen Kulturkomplex große Aufmerksamkeit. Es wäre sehr schön, wenn diese Aufmerksamkeit auch der Entsendung und dem Sponsoring von Reisen zu den Fachsymposien der deutschsprachigen Autoren, Verleger und Medienarbeiter Rechnung tragen könnte, damit endlich europaweit nicht mehr totgeschwiegen werden kann, was sich in Rumänien der Transformationszeit interkulturell doch alles tut.

Ingmar Brantsch

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