18. Dezember 2005

Einzigartiges Kapitel der europäischen Musikgeschichte

Erstmals liegt als Ergebnis einer fast 20-jährigen akribischen Forschungsarbeit des Organisten, Dirigenten und Musikhistorikers Franz Metz eine mehr als 700 Seiten starke, 350 Faksimile und Bilder umfassende wissenschaftliche Auswertung des bis 1981 als verschollen gegoltenen Archivs des Temeswarer Philharmonischen Vereins vor.
Darin widerspiegelt sich die gesamte Musikkultur Südosteuropas aufgrund internationaler Kontakte zu ähnlichen Vereinen zwischen New York und St. Petersburg in der Zeitspanne 1850-1950. Längst überholte musikhistorische Aspekte sowie kulturgeschichtliche und kulturpolitische Anschauungen hinsichtlich dieser Region werden in ein neues Licht gerückt.

Temeswar, eine Kulturmetropole der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, war nicht nur das politische und wirtschaftliche Zentrum des Banats, sondern auch eine wichtige Musikstadt. Infolge des Baus des Franz-Joseph-Theaters, der Entstehung zahlreicher Gesang- und Musikvereine sowie der blühenden Kirchenmusik kamen namhafte Kapellmeister, Virtuosen und Opernsolisten nach Temeswar, die den guten Ruf dieser Stadt in die weite Welt trugen. Zahlreiche Musiker wie Liszt, Strauss, Brahms, Joachim, Wieniawski oder Sarasate konzertierten hier, für viele Konzertagenten aus Wien, Berlin, Budapest oder Paris war der Philharmonische Verein um 1870 eine wichtige Adresse. Der 1871 gegründete Verein war nicht nur einer der wichtigsten Kulturträger des Banats, sondern des gesamten südosteuropäischen Raumes. Die Dokumente des Vereins erfassen den Klangraum Südosteuropas über eine Zeitspanne von 100 Jahren, beginnend mit den Tätigkeiten des Temeswarer Liederkranzes (um 1850) bis hin zu den kulturpolitischen Umwälzungen der Stalin-Ära (um 1950).

Bereits in der Einleitung vermittelt der Verfasser einen fesselnden Gesamteindruck dieser groß angelegten Monographie, die ersten acht Kapitel enthalten faszinierende Details bezüglich Gründung des Temeswarer Philharmonischen Vereins, Archiv, der gesamten musikkulturellen Entwicklung und Politik der Region, vor allem aber der Nationalitäten, Sprachen und Konfessionen innerhalb des Vereins. Demnach war dies der erste multinationale Verein, in dessen Reihen neben deutschen und ungarischen Mitgliedern Serben, Rumänen, Tschechen und Slowaken auftraten. Die Umgangssprache war zunächst Deutsch - obwohl die Mitglieder allesamt der ungarischen Nation angehörten. Das gemeinsame Singen und Musizieren brachte die verschiedenen Nationalitäten und Konfessionen einander näher. Ein einzigartiges Beispiel in der europäischen Musikgeschichte.

Das 9. Kapitel enthält die Entstehungsgeschichte und Aktivitäten von weiteren 40 Musik- und Gesangvereinen, mit denen der Temeswarer Philharmonische Verein in Verbindung stand (u.a. der Männergesangverein und der Musikverein Hermania, beide aus Hermannstadt). Das 10. Kapitel bringt 60 Kurzbiographien berühmter Musiker, Komponisten, Dirigenten und Interpreten, wie z.B. Henry Wieniawsky, Jan Kubelik, Pablo Sarasate, Franz Limmer.

Das "Fremden-Buch" (Kapitel 11) wurde anlässlich des Besuches des Königs Franz Josef I. 1872 angelegt, dessen Unterschrift sich auf der ersten Seite befindet. In chronologischer Reihenfolge befinden sich weitere Eintragungen und Unterschriften prominenter Persönlichkeiten vor allem auf musischem Gebiet, wie die von Jan Kubelik oder Bela Bartok. Das umfangreichste und vielfältigste Kapitel 12 ("Chronik") beinhaltet eine mit erstaunlicher Sorgfalt erstellte Dokumentation, worin Protokolle, Programme, Zeitungsberichte, Briefe, Plakate, Kritiken sowie Tätigkeiten wichtiger Musikinstitutionen bzw. Musiker Südosteuropas in enger Beziehung zu den sozialen und politischen Ereignissen der damaligen Zeit wiedergegeben werden. Von dokumentarischen Wert ist auch das 13. Kapitel "Repertoire", das knapp 500 Titel der wichtigsten Kompositionen der noch vorhandenen Notensammlung des Temeswarer Philharmonischen Vereins aufführt. Der Anhang enthält neben erklärenden Begriffen und bibliographischen Daten ein umfangreiches Namens- und Ortsregister, das dieses einmalige Kompendium zur europäischen Kultur- und Musikgeschichte ergänzt. Mit Recht behauptet der Autor: "Spannender kann Musikgeschichte kaum sein!"

Peter Szaunig


Franz Metz: Der Temeswarer Philharmonische Verein. Eine Chronik südosteuropäischer Musikgeschichte 1850-1950. Edition Musik Südost, München 2005, über 700 Seiten, 350 Bilder, Preis: 25 Euro. Bestellung über den Buchhandel oder über Telefon/Fax: (0 89) 45 01 17 62, E-Mail: FranzMetz@aol.com.

Bewerten:

1 Bewertung: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.