2. Oktober 2000

Hessens Ministerpräsident Koch: 'Aussiedler haben Deutschland mit aufgebaut'

Hessens Ministerpräsident Roland Koch würdigt in einer Festrede zum 50. Jubiläum der landsmannschaftlichen Landesgruppe am 9. September in Wiesbaden die Leistungen der Vertriebenen und Aussiedler beim Wiederaufbau Deutschlands und des Bundeslandes. Mit ihrer Bereitschaft zu Toleranz hätten sie der Bundesrepublik nach dem Krieg "mindestens ein Jahrzehnt gesellschaftlichen Unfriedens erspart".
"Sie haben in Deutschland ein Stück politischer Kultur geschrieben, die es diesem Land möglich gemacht hat, schnell und unbestritten in die Gemeinschaft der europäischen Völker, in die Gemeinschaft der Welt zurückzukehren." Mit diesen Worten würdigte der hessische Ministerpräsident Roland Koch die "historische Leistung" der Vertriebenen und Aussiedler in seiner Festrede während der Feier zum 50-jährigen Bestehen der landsmannschaftlichen Landesgruppe Hessens am 9. September im Christian-Zais-Saal des Kurhauses von Wiesbaden. Dass gerade die bei Kriegsende Vertriebenen und nach Deutschland Verschlagenen, bei denen angesichts erlittener Verluste "die Gefahr, dass Schmerz zu Hass" werde, "am größten war", dass gerade diese Menschen in der "Wiesbadener Erklärung" und ein Tag danach in ihrer Stuttgarter "Charta" dem Hass und jeder Art von Vergeltung abgeschworen und sich der "Schaffung eines geeinten Europas" verschrieben hatten, habe die junge Bundesrepublik auf ihrem Weg der Toleranz und Akzeptanz entscheidend vorangebracht.

Zu der Feierstunde hatte Landesgruppenvorsitzender Imre Istvan neben Koch auch Norbert Kartmann, CDU-Fraktionsvorsitzender im hessischen Landtag, sowie weitere Vertreter aus Hessens Politik, Wirtschaft und öffentlichem Leben, zudem landsmannschaftlicherseits den Bundesvorsitzenden Volker E. Dürr, Ehrenvorsitzenden Wolfgang Bonfert und weitere Mitglieder des Bundesvorstands, dazu die Landesvorsitzenden Alfred Mrass (Baden-Württemberg), Harald Janesch (Nordrhein-Westfalen), Rudolf Kartmann (Rheinland-Pfalz/Saarland) und seinen Vorgänger im Amt, Wilhelm Beer, sowie zahlreiche Landsleute begrüßen dürfen. Die Anwesenheit Kochs, der im politischen Streit mit der Landtagsopposition wahrlich andere Sorgen hatte, sah Istvan durchaus "nicht als Selbstverständlichkeit", sondern als ein Zeichen dafür an, dass "Sie das in die Tat umsetzen, was Sie sich für Ihre Regierungszeit vorgenommen haben, nämlich sich in besonderer Weise auch um die Belange der Aussiedler und Vertriebenen zu kümmern".
Der Landesvorsitzende erinnerte in einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Landesgruppe an das erste "große Treffen" der Siebenbürger Sachsen von 1947 in Marburg, an die "Wiesbadener Erklärung" und die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" von 1950, zudem daran, dass im gleichen Jahr der "Verband der Siebenbürger Sachsen" zur 800-Jahr-Feier der Ansiedlung in Frankfurt erstmalig an die Öffentlichkeit getreten sei und dass kurz darauf, am 26. November, die Gründungsversammlung der Landesgruppe in Frankfurt-Bockenheim stattfand.
Damit und durch ihre späteren Aktivitäten habe die Vereinigung "den Grundstein für die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Integration der Siebenbürger Sachsen in Hessen gelegt". Dabei habe man immer wieder die Unterstützung des Bundeslands in Anspruch nehmen dürfen, wofür Istvan auch in warmen Worten zu danken wusste, doch die Aussiedler aus Siebenbürgen seien als "loyale Bürger in den Städten und Gemeinden Hessens nicht nur Nehmende, sondern auch Gebende" gewesen, und hätten "die erhaltenen Hilfen auf vielfältige Weise erstattet". Aufgabe des Verbands für die Zukunft sei es, "in einer Übergangsphase von der Erlebnis- zur Bekenntnisgeneration neue Visionen zu entwickeln, die sich an den alten Visionen unserer Vorfahren prüfen lassen".
Auch Ministerpräsident Koch sprach in seiner Festrede wiederholt den maßgebenden Wert überlieferter Leistungen und Erfahrungen an. Gerade an der Integration der Aussiedler habe sich erwiesen und erweise sich heute noch: Man dürfe Wurzeln nicht abreißen, "wenn man neue Wurzeln schlagen lassen will", man könne nur verpflanzen, "wenn man alte Wurzeln mitnimmt, damit die neuen anwachsen". Daher müsse die mitgebrachte "kulturelle Identität" unter allen Umständen, erhalten bleiben, und er, Koch, wolle und werde, "auch in der strittigen Diskussion mit Herrn Staatsminister Naumann", alles ihm Mögliche tun, dass dies auch geschehe.
Namentlich die gemeinschaftsstiftenden Erfahrungen, die Aussiedler mitbrächten, seien für die heutige und hiesige Gesellschaft wichtig, "sehr wohl auch für die Menschen in meiner Generation und für meine Kinder". Es sei gerade auch in den Anfangsjahren beispielgebend gewesen, wie es den Vertriebenen gelungen sei, die "verlorene Heimat durch gegenseitiges Stützen und Trösten und Wegefinden zu ersetzen". Derartige Hilfe und Selbsthilfe könne nie und nimmer durch den Staat ersetzt werden: "Wir können rechtliche Regelungen schaffen, wir können mit Formularwesen und Beamten sicherstellen, dass diese rechtlichen Regelungen zu dem erwachsen, was man Leben nennt, wir können finanzielle Hilfen anbieten, aber wir können nicht dafür sorgen, dass Menschen ein Gefühl empfinden, das etwas mit Geborgenheit zu tun hat - dafür gibt es keine Formulare."
Gerade auch diese gruppeneigene Geborgenheit sei mitentscheidend dafür gewesen, so Koch, dass Vertriebene und Aussiedler an den Orten ihrer Ankunft neu Heimat gefunden und ihrerseit das neue Umfeld in seiner Entwicklung mitbestimmt haben. Ihr frühes, nicht unbedingt selbstverständliches und in den Jahren danach zu selten gewürdigtes, ja unterschätztes Bekenntnis "zum friedlichen Miteinander und zur Akzeptanz von Verhältnissen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden waren", habe der Bundesrepublik "ein Jahrzehnt, mindestes ein Jahrzehnt gesellschaftlichen Unfriedens" erspart. Wäre dieses Bekenntnis nicht erfolgt, "es hätte uns den Weg schwerer gemacht in diesem Land, das den Aufbau und die Hilfe brauchte und das zurück wollte in eine Weltgemeinschaft, aus der es sich selbst herauskatapultiert hatte". Das Verhalten der Vertriebenen und Aussiedler, ihrer Verbände, sei aus seiner Sicht "einer der wesentlichen Gründe, warum dieses Land - zerstört, besiegt und schuldig - so schnell in eine freie europäische Welt zurückkehren konnte". Und wenn es sonst nichts gäbe als dies, meinte Koch, indem er sich an die Anwesenden wandte, "dann hätten Sie schon damit den Anspruch erlangt, Schutz und Hilfe zu haben aufgrund der Leistung, die Sie in Ihrer Geschichte erbracht haben".
Ganz im Sinne dieser Leistung sei es heute nötig, all denen mit konsequenter Ablehnung zu begegnen, "die glauben, man könne die Geschichte streichen" und "in einem Land, in dem wir durch nationalsozialistisches Denken alle miteinander so viel verloren haben, uns zurückführen zu können zu den dumpfen braunen Sprüchen" von ehedem. Glücklicherweise sei Deutschland, auch mit den Erfahrungen seiner Aussiedler und Vertriebenen, "eine stabile, freie, demokratische Gesellschaft geworden", in der Leute mit solchem Ansinnen "gegen eine breite Wand des Volkes anrennen, das Frieden und Freiheit will so, wie es sie hat und kein bisschen anders".
Im Rahmen des würdigen und niveauvollen Festakts in Wiesbaden, dem durch vorzügliche musikalischen Darbietungen des Cembalisten Horst Gehann, der Flötistin Julia Schierhoff und des Gambisten Ulrich Pietsch mit Werken von Bach sowie siebenbürgischer Komponisten der Reanissance und des Barock zusätzlichen Glanz verliehen wurde, eröffnete Bundesvorsitzender Volker E. Dürr mit einer Ansprache die Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage, die dieses Jahr im Rhein-Main-Gebiet stattfanden. Zusätzlich zu dem, was seine Vorredner angesprochen hatten, würdigte Dürr auch die Brückenfunktion, die von den Siebenbürger Sachsen, ihrer Landsmannschaft und ihrem Verband in geschichtlicher Überlieferung wahrgenommen worden ist und wahrgenommen wird.
Damit im Zusammenhang wollte er berücksichtigt wissen, "dass der von meinen Landsleuten hier in Deutschland bereits seit fünf Jahrzehnten geleistete Brückenschlag nur dann erfolgreich sein kann und Bestand haben wird, wenn auch unsere wirtschaftliche und kulturelle Eingliederung und Verankerung in Deutschland, unserem geschichtlichen Identifikationspunkt, weiter ausgebaut und langfristig gesichert wird". Dazu gehöre auch, entsprechend der im Grundgesetz verankerten Schutz- und Obhutspflicht der Bundesrepublik für die Deutschen aus dem östlichen und südöstlichen Europa, "ein Klima der Akzeptanz und der Solidarität mit den Aussiedlern" aufrecht zu erhalten und weiterhin ihre uneingeschränkte Aufnahme und Integration zu ermöglichen, auch die vor einigen Jahren verhängten Rentenkürzungen rückgängig zu machen.
Und nicht zuletzt gehöre dazu die Kulturförderung nach Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes, denn "seit diese aus dem Bundesministerium des Innern in das Ressort des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien ausgegliedert wurde, ist sie durch existenzielle Einschnitte spürbar zurückgenommen und die kulturelle Breitenarbeit weitestgehend beeinträchtigt worden". Dürr unterstrich ein übriges Mal: "Geschichte und Kultur der Deutschen im Osten und Südosten Europas sind organischer Teil der kulturellen Leistungen des gesamten deutschen Volkes und können daher nicht, wie im Kulturneuordnungskonzept des Staatsministers Naumann unterstellt, als ‚Ostkunst' stigmatisiert und ausgegrenzt werden." Offensichtliche Tendenzen, die Kultureinrichtungen der Vertriebenen und Aussiedler zu "verstaatlichen" und deren Breitenarbeit zu unterbinden, seien kontraproduktiv und entsprächen in keiner Weise den "von unserer Bundesregierung angekündigten neuen Akzenten der Offenheit in Politik und Kultur".
Dürr rief zur Schaffung eines "Netzes der Partnerschaften" auf, "in dem allen Akteuren die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre Erfahrungen einzubringen", und sagte: "Genau in diesem Sinne handelt unsere Landsmannschaft schon seit Jahrzehnten, und dies trifft gleichermaßen gerade auch für die vielen Bürgerpartnerschaften zu, die meine Landsleute durch Mitübernahme von Verantwortung für die Geschicke der Kommunen auch in Hessen gefestigt haben. Und ohne das Gefühl der Verantwortung für das Gemeinwesen ist auch der Kampf gegen rechts- oder auch linksradikale Gewalt nicht zu führen." Er hoffe und rechne dabei auf die Unterstützung Hessens und seiner Landesregierung, erklärte Dürr abschließend. Ziel gemeinsamer Anstrengungen müsse sein, letztendlich "ein Europa der Kulturen" zu schaffen, "dann haben auch wir Siebenbürger Sachsen eine Zukunft".
Vor und nach der Festveranstaltung im Kurhaus traten sächsische Kulturgruppen aus Hessen im Wiesbadener Kurpark auf. Aus Anlass des Jubiläums hatte zudem Wilhelm Folberth, stellvertretender Vorsitzender der Landesgruppe, eine gediegene und informationsreiche Festschrift über "Fünfzig Jahre Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Hessen" erstellt, die bei Teilnehmern und Gästen uneingeschränkt Anklang fand.

Hannes Schuster

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