24. April 2002

Filmfestival in Wiesbaden: "Europa ist bunt"

Beim zweiten Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden - GoEASt wurde der rumänische Regiesseur Nae Caranfil mit dem besonderen Preis der Jury ausgeueichnet.
Für eine Woche, vom 10. bis 17. April, öffnete Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden wieder ihr Herz für Osteuropa, seine Filme, Regisseure und Besucher. Das zweite Festival des mittel- und osteuropäischen Films wurden unter der Schirmherrschaft von Hilmar Hoffmann zum zweiten Mal vom Deutschen Filminstitut Frankfurt organisiert. Die Kurstadt Wiesbaden entdeckte ihre Liebe zu Osteuropa nicht nur durch Dostojewski und Jawlenski, die beide eine Zeit lang in der Stadt lebten. Schon seit Jahren wird auch ein reger Austausch mit den Partnerstädten Karlsbad, Ljubljana und Breslau gepflegt. Großes Interesse an den Filmen zeigen neben Studenten der Universitätsstädte Mainz und Frankfurt in zunehmendem Maße auch die Bürger der Stadt und Umgebung, so dass noch mehr Besucher als im letzten Jahr verzeichnet wurden. 115 Spiel- und Dokumentarfilme standen heuer auf dem Programm. Zu den prominenten Gästen gehörte Istvan Szabo, der seinen Film "Taking aside" ("Der Fall Furtwängler") vorstellte und mit den Gästen über seine Auffassung vom europäischen Film und der Zukunft des europäischen Films sprach.
Eugen Drewermann konferierte über Dostojewski und das Menschenbild in seinen Romanen. Der russische Dichter weilte Mitte des 19. Jahrhundert (1865-66) in Wiesbaden und verspielte dabei sein gesamtes Geld in der Spielbank, ein Erlebnis, das er in seinem Werk "Der Spieler" verarbeiten sollte. Drewermann nannte ihn den "Erfinder des psychischen Surrealismus". "Dostojewski kann man nicht sehen, man muss ihn lesen", rief er dem Publikum zu. Im Begleitprogramm des Festivals wurden mehrere Verfilmungen der Dostojewski-Romane gezeigt: "Schuld und Sühne" von Aki Kaurismäki, 1983; "Die Brüder Karamasow" in einer deutschen Produktion von 1930 und einer amerikanischen von 1957 von Richard Brooks sowie "Der Idiot", Frankreich 1946.
Von den zehn Spielfilmen des Wettbewerbs gewann der rumänische Film "Der Philantrop" in der Regie von Nae Caranfil den besonderen Preis der Jury, der mit 2 500 Euro dotiert ist. Der junge rumänische Regisseur, Sohn eines bekannten rumänischen Filmkritikers, zeichnet mit Humor ein neues Bild Rumäniens, das allerdings die krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich nicht ausspart. Der Bukarester Theaterschauspieler Mircea Diaconu tritt in der Rolle eines Lehrers auf, der mit der Situation in seinem Klassenzimmer nicht mehr zurecht kommt. Schüler mit Handys, ihr Desinteresse an Unterricht und Schule lassen den Lehrer verzweifeln. Er entschließt sich, sein Leben nunmehr gleichfalls bunter und aufregender an der Seite einer jungen Frau zu gestalten. Sein kleines Gehalt reicht jedoch nicht aus die Wünsche des Mädchens zu erfüllen. So verpflichtet er sich zu einem ungewöhnlichen Betteldienst für einen so genannten "Philantropen". Dabei fällt er noch tiefer, lernt die Abgründe des Lebens kennen und gewinnt schließlich ein neues Selbstbewusstsein. Diaconu fasziniert den Zuschauer durch seine liebenswürdige und naive Art.
Nae Caranfil stellte in Wiesbaden klar, dass er nicht das "Bild Rumäniens im Westen" verändern oder in Konkurrenz zu jenen Medien treten wollte, die bekannte Klischees über sein Land (Kinderheime, Straßenkinder, Zigeuner, Banden) verbreiten. "Ich möchte betonen, dass Humor nie eine Seltenheit war bei den Rumänen. Er gehört auch zu einem der wenigen Exportartikel dieses Volkes lateinischen Ursprungs, dessen Menschen vital, trinksüchtig, lustig und besonders gastfreundlich sind." In Rumänien verzeichnete der Film bereits nach drei Wochen Spielzeit einen Rekord von über 40 000 Kinobesuchern. Hauptziel des Regisseurs, dessen Film von Domino Film Bukarest und Mact Productions Paris mitfinanziert wurde und schon beim Filmfestival in Paris mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, war es die reelle Welt nach dem Zusammenbruch der Diktatur in Rumänien zu schildern. Es ist sein erster langer Spielfilm. In Wiesbaden ging er aufgrund einer Umfrage auch als Lieblingsfilm des Publikums hervor.
Mit dem Preis für die beste Regie wurde der slowenische Film von Vojko Anzelc "Das letzte Abendmahl" ausgezeichnet. In bewegenden Szenen zeichnet der Regisseur ein kritisches Bild der nachsozialistischen Gesellschaft: Elend, Armut, Drogen, Ausweglosigkeit eines jungen Mädchens, das von zwei Patienten einer Nervenheilanstalt, die mit einer Kamera ausgerissen waren, auf irrsinnige Weise vom Selbstmord gerettet wird. Die höchste Auszeichnung, die "Goldene Lilie", die mit 10 000 Euro dotiert ist, erhielt der sozialkritische Streifen aus Polen "Czesc Tereska" (Hi Tereska) von Robert Glinski. Seine Schwarz-weiß-Produktion ist zur traurigen Wirklichkeit geworden: Die Hauptdarstellerin, das junge Mädchen Aleksandra Gietner, als Ola bekannt, sitzt wegen wiederholten Einbruchs zurzeit in einem polnischen Erziehungsheim. Der Spielfilm wird demnächst auf 3satausgestrahlt.
"Europa ist bunt", sagte ein russischer Regisseur. Zehn Jahre nach der Wende habe Osteuropa seine Selbstsicherheit wiedergefunden und verteidige nun vehement seinen Platz im europäischen Kino. "Im Kommunismus durften wir uns nicht frei ausdrücken, jetzt wo wir uns frei äußern dürfen, sind wir nicht mehr willkommen", bedauerte Nae Caranfil. Die Gescheiterten, die Obdachlosen, die Verstoßenen, Bettler und Straßenkinder werden zu faszinierenden Geschöpfen, die versuchen - trotz aller Widrigkeiten - das Leben zu meistern. Und diese Probleme sind nicht nur typisch osteuropäisch.
Auf die Frage, warum europäische Filme in Europa kaum große Erfolge erzielen, antwortete Istvan Szabo: Die heutige Kino-Generation wolle keine Filme über Verlierer und Gescheiterte, sondern nur "Sieger und Helden" sehen. Und dieser Nachfrage entsprechen vorwiegend amerikanische Produktionen.

Katharina Kilzer

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