9. Oktober 2021

Zeitzeuge Michael Schuller über die Auswanderungswelle der Meeburger nach dem Umsturz 1989

Der hundertjährige Michael Schuller ist ein wahrer Zeuge des siebenbürgischen Gesellschaftslebens im 20. Jahrhundert. Die Auswanderungswelle der Siebenbürger Sachsen nach dem Umsturz von 1989 hat er hautnah erlebt. Lesen Sie im Folgenden seinen Zeitzeugenbericht, den sein Sohn Michael Schuller jun. für das Heimatbuch „Meeburg“ (erschienen 1994) aufgezeichnet hat.
Ansicht der Kirchenburg Meeburg. Foto: Michael ...
Ansicht der Kirchenburg Meeburg. Foto: Michael Schuller jun.
1989 war das Jahr der großen Änderungen in der Politik der Ostblockstaaten ... die Straßenschlachten konnten in Direktübertragung im ersten rumänischen Fernsehprogramm verfolgt werden. In Meeburg (in der Region Reps) kam es nicht zu schwierigen Auseinandersetzungen … Anfang 1990 wurden dann die Grenzen für die Hilfsgüter aus dem Ausland geöffnet. Auch die Familien, die jahrelang vergebens auf die Ausreise zu ihren Angehörigen in den Westen gewartet hatten, konnten endlich aussiedeln … Nachdem im Mai 1990 eine neue Regierung in Bukarest installiert wurde, also nachdem die Meeburger Sachsen wie eigentlich fast alle Rumäniendeutschen vergebens auf eine tiefgreifende politische Änderung gehofft hatten, geriet auch die Meeburger Auswanderungswelle ins Rollen.

Auf den ersten Aussiedlungsantrag erhielten die Aussiedlungswilligen die sogenannten „großen Formulare“, also einen ersten Bewilligungsbescheid von den deutschen Behörden, das Zeichen ihrer baldigen Ausreise. Nun zimmerten sie sich die Kisten aus Sperrplatte für ihre Ausreise zusammen, wohin sie ihre wertvollen Sachen wie Kristallgegenstände, Doppelbodengeschirr, Kleidungs- und Trachtenstücke u.a. einpackten und für den sogenannten „großen Zoll“ vorbereiteten… Komischerweise konnte die Leichtindustrie auch die Nachfrage an Reisekoffern nicht bewältigen, so dass manche Meeburger in die äußersten Ecken Rumäniens fuhren, um doch mit einem Köfferchen wie ein Schulranzen oder wiederum mit einem großen Koffer wie eine siebenbürgische Hochzeitstruhe nach Hause zu kommen, so dass ihn vollbepackt nur ein ganz starker Mann kaum hochheben konnte – zum Thema Koffermangel wurden sogar humoristische Sendungen im rumänischen Fernsehen ausgestrahlt … Die Häuser übernahm nicht mehr der Staat gegen einen pauschalen Betrag wie vor dem Umsturz – die Siebenbürger Sachsen mussten sie einfach zurücklassen. Viele nun unbrauchbaren Gegenstände, die man zum Teil seit Generationen aufgehoben hatte, wurden einfach verschenkt, oder man ließ sie einfach zurück … Vor der Abreise einer jeden Familie begleiteten fast die ganze Gemeinde sowie Bekannte aus der Umgebung die Wegziehenden zum Bahnhof – dieser Abschied von der Gemeinde wurde so eigentlich zu einer Tradition wie ein Hochzeitszug oder ein Begräbnis. Der jungen Generation fiel der Abschied leicht, weil sie an Trennungen von der Heimatgemeinde gewöhnt war. Die Älteren, die den letzten Krieg und die Verschleppung in die Sowjetunion miterlebt hatten, erkannten jedoch die richtige Bedeutung dieses endgültigen Abschieds.

Wir wanderten am 1. Juni 1990 mit noch zwei Familien aus, darunter dem Meeburger Kurator ... Nicht nur Siebenbürger Sachsen, sondern auch Rumänen und Zigeuner waren an diesem späten Nachmittag zum Bahnhof gekommen, um Abschied zu nehmen … Die sächsische Jugend begleitete uns bis Schäßburg, wo wir auf den Schnellzug in Richtung Berlin aufstiegen. In der Morgendämmerung mussten wir, drei Familien, mit dem vielen Gepäck in Prag mit mehreren Taxis zu einem anderen Bahnhof fahren. Aus dem Zug erblickten wir danach in der Morgensonne in Bayern die Felder, Dörfer und Wälder überall mit asphaltierten Wegen. Alles schien uns so geordnet wie in einem großen Park; die Felder hatten so eine satte grüne Farbe, wie ein siebenbürgischer Garten im Sommer nach einem „Platzregen“ ... Dann kam die Trennung: mit meiner Familie fuhr ich zu einer meiner Töchter und danach ins Übergangswohnheim nach Empfingen in den Schwarzwald, der Kurator blieb mit der Familie in Nürnberg, und MH fuhr mit seiner Gattin nach Nordrhein-Westfalen …

In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Aussiedler erstmals in Übergangswohnheime – bei dem herrschenden Zustrom von Aussiedlern aus Osteuropa auch in Notquartieren – untergebracht, bis ihre ersten Akten fertig waren. Dann konnten sie zu oder in die Nähe ihrer Verwandten weiterziehen, wo sie ihr neues Zuhause einrichteten.

Weil sie die deutsche Kultur, vor allem die deutsche Sprache beherrschten, war es für sie fast eine Leichtigkeit, sich den Gegebenheiten in der neuen Heimat anzupassen ... am meisten fehlte ihnen jedoch das traditionelle Gemeinschaftsleben … Aber dieses wird vorwiegend von der staatlichen Fürsorge ersetzt und gibt allen einen festen Halt in ihrer neuen Heimat.

Michael Schuller

Schlagwörter: Meeburg, Auswanderung, Zeitzeuge, Schuller, Exodus

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