18. Februar 2014

Ilse Maria Reich zum 70.: In der Tradition siebenbürgischer Musikpraxis und des Orgelspiels

Orgel, Orgelmusik und Orgelspiel – gemeint ist hier selbstverständlich die Kirchen- und Konzertorgel sowie das liturgische und konzertante klassische und moderne Spielrepertoire – erfreuten sich in Siebenbürgen, d.h. in der Bevölkerung, im Publikum, bei Musikern und Musikliebhabern, seit jeher großer Beliebtheit, Wertschätzung und Pflege.
So kam es, dass auch Musiker anderer Sparten wie die Komponisten Waldemar von Baußnern, Dietrich von Bausznern, Paul Richter, Wilhelm Georg Berger oder Helmut Sadler, die Dirigenten Otto Eisenburger und Erich Bergel sowie zahlreiche andere dem Orgelspiel schöpferisch oder als Ausübende zugetan waren. Neben einigen bedeutenden, in herausragenden Positionen in Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien und dem übrigen Europa oder als reisende Solisten international bekannt gewesenen Pianisten, Cellisten und Bläsern, verhältnismäßig zahlreichen und exzellenten Sängerinnen und Sängern, wäre eine Reihe von Organisten zu nennen, die den üblichen Durchschnitt bei weitem übertrafen, aus der Geschichte der siebenbürgischen Musikinterpretation nicht wegzudenken sind, und von denen wesentliche, das gesamte Musikleben betreffende Impulse und Prägungen ausgingen, zumal diese Organisten oft, vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts, in Personalunion auch die Ämter des Kantors und als Chorleiter und Komponisten leitende Funktionen im weltlichen Musikleben und in den Aktivitäten der das städtische Musikleben tragenden Gesang- und Musikvereine einnahmen: Dass unter ihnen manche aus dem deutschsprachigen Ausland zugezogen waren, bedeutete u.a. dass Siebenbürgen Realisierungs- und Entfaltungsmöglichkeiten und dankbare Aufgaben für junge hochbegabte, tüchtige, gebildete und unternehmungsfreudige Kräfte bereit hielt. Das ist keine Neuigkeit, denn im Laufe der Geschichte ließen sich ständig deutsche Migranten in Siebenbürgen nieder, die sich aktiv, innovativ und erfolgreich in das geistige, kulturelle, künstlerische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben Siebenbürgens einfügten und, wie der aus dem böhmischen Aussig stammende Hermannstädter Organist, Kantor, Dirigent und Komponist Franz Xaver Dressler zu sagen pflegte, „zu Siebenbürger Sachsen wurden“.
Ilse Maria Reich und Christoph Reich beim ...
Ilse Maria Reich und Christoph Reich beim Liederabend in Bamberg. Foto: Christian Reich
In die illustre Reihe ist auch Ilse Maria Reich – als autochthone Nachfolgerin – zu stellen, wobei wiederum ihre Nachfolger im Fach in Siebenbürgen oder als Aussiedler in Deutschland längst das Erbe der Tradition angetreten haben. Da die Kräfte des Fortbestehens noch nicht erloschen sind, ist zu hoffen, dass sie keine Schlusslichter sind. Ilse Maria wurde als älteste von fünf Geschwistern am 13. Februar 1944 in Hermannstadt geboren. Ihr Vater war der seinerzeit in Siebenbürgen bekannte, aus der siebenbürgischen Gemeinde Hetzeldorf stammende Pfarrer, Organist, Chorleiter, Musikpädagoge und Komponist Ernst Helmut Chrestel (1916-2000), der, 1949 aus der von Rumänien 1945 betriebenen Russland-Deportation der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität zurückgekehrt, zwischen 1956 und 1969 in Baaßen und danach in Almen und Hermannstadt die so genannten Kantorenschulen (Kirchenmusikschulen) gegründet und geleitet hatte, in denen Kantoren und Organisten für die evangelischen Kirchengemeinden ausgebildet wurden, was im kommunistischen Rumänien – Siebenbürgen war nach dem Ersten Weltkrieg mit dem rumänischen Königreich vereinigt und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von der Sowjetunion besetzt und „sozialistisch umgestaltet“ worden – sonst nicht möglich war und nicht geschah (ein entsprechendes Studium in Deutschland wurde in der Regel von Staats wegen unterbunden). Den im Rahmen und unter der Obhut der Kirche funktionierenden Kantorenschulen Chrestels gebührt daher nicht nur als aus der Not und der Notwendigkeit heraus geborenes Unikum höchste Achtung und historische Wertschätzung. Chrestel hatte auch kirchliche Singwochen geleitet, in Hermannstadt, wo er von 1969 bis 1984 Stadtkantor war, eine Kantorei gegründet und in Hetzeldorf ein „Musikzentrum“ errichtet.

Es war gewissermaßen naheliegend, dass Ilse Maria im Elternhaus schon früh – mit sieben Jahren – Klavier- und Orgelunterricht erhielt. Mit zehn Jahren (von 1954 bis 1962) war sie Organistin der Kirchengemeinde Baaßen (bei Mediasch), mit 13 Jahren trat sie als konzertierende Organistin vor die Öffentlichkeit, von 1966 bis 1976 war sie Organistin in Burgberg (bei Hermannstadt). In Bukarest legte sie 1969 das staatliche Solistenexamen ab und begann Konzertreisen zu unternehmen, die sie im Laufe der Zeit durch ganz Europa und auch nach Asien führten. Außerdem konzertierte sie im Rahmen mehrerer internationaler Musikfeste und Orgelwochen. Anerkennende und lobende, oft enthusiastische Konzertbesprechungen und Rezensionen brachte sie damals schon mit. Trotzdem belegte sie 1975 Meisterkurse beim renommierten Prof. Dr. Jiri Reinberger in Prag, 1976 nahm sie Unterricht bei Prof. Gisbert Schneider in Essen und studierte in den im Osten politisch aufgelockerteren Jahren 1980 und 1981 als Stipendiatin des Lutherischen Weltbundes Genf Kirchenmusik und Künstlerisches Orgelspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Ihr berufliches Wirken begann sie 1981 als Organistin und Chorleiterin an der evangelischen Kirche in Bukarest (Biserica Lutherană, im rumänischen Volksmund „deutsche Kirche“ genannt). Gleichzeitig besuchte sie noch das Bukarester Lyzeum für Philologie und Geschichte, wo sie nachträglich das Abitur ablegte. Man kann durchaus von einem Musikleben der in Bukarest ansässig gewesenen Deutschen – Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben u.a. – sprechen, einem Musikleben, das sich vorwiegend in der katholischen und evangelischen Kirche der Stadt abspielte und oft bekannte rumänische und ausländische Interpreten als Gäste mit einbezog. Wir erinnern uns, dass der Hermannstädter Helmut Plattner, der sich 1955 in Bukarest ebenfalls einer staatlichen „Konzertprüfung“ im Fach Orgel unterzogen hatte, von 1954 bis 1973 als Nachfolger des aus Heldsdorf stammenden Pianisten, Organisten und Komponisten Rudolf Chrestel (1898-1986) Organist und Kantor an besagter Kirche, damit Initiator, Leiter und Mentor einer den Rahmen gottesdienstlicher Musik sprengenden, ein zahlreiches interessiertes Publikum ansprechenden musikalischen Regsamkeit war. Ilse Maria Reich gab seit 1978 regelmäßig Konzerte an den großen Orgeln der zentralen Konzerthäuser Bukarests, dem Athenäum und dem Rundfunk.

Nach ihrer Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland 1988 konnte sie die internationalen Tourneen natürlich einfacher und leichter durchführen als vom kommunistischen Rumänien aus. Ihre Heimat und auch Bukarest hat sie dabei nicht vergessen. Mit ihren beiden rumänischen Musizierpartnerinnen, der Cellistin und Gambistin Anca Iarosevici (lies Jarosewitsch) und der Sopranistin Georgeta Stoleriu, konzertiert sie in Kammermusikabenden als Cembalistin auch jetzt noch regelmäßig in Bukarest und Siebenbürgen. Selbstverständlich lässt sie sich nach wie vor als Solistin an den großen historischen Kirchenorgeln Siebenbürgens (in Kronstadt, Hermannstadt, Bistritz, Mediasch, Schäßburg) und an den Konzertorgeln in Bukarest hören. Auch mit ihren Söhnen, dem Sänger Christoph Reich und dem Flötisten Jürgen Reich, bestreitet sie manchen Konzertabend, wobei sie sich als vortreffliche Klavierbegleiterin entpuppt. So wie sie früher mit der Sängerin Martha Kessler und dem Flötisten Virgil Frâncu (beide Bukarest) zusammen musizierte, so tritt sie seit den letzten Jahren mit dem Bukarester Studio für alte Musik auf.

In Landshut nahm sie 1989 die Stelle einer Kirchenmusikerin an der Auferstehungskirche an. Ihren pädagogischen Neigungen ging sie – gewissermaßen in die väterlichen Fußstapfen tretend – seit 1990 als Leiterin der Städtischen Musikschule im schwäbischen Rottenburg nach. Sie hat die Schule mit auf- und ausgebaut, sie zu einer bemerkenswerten musikalischen Erziehungsstätte geformt und hier 1993 auch die über die Grenzen Rottenburgs hinaus bekannt gewordene Chorgemeinschaft der Musikschule gegründet und seither geleitet. Mit den Ensembles der Schule studierte sie – wie schon in Bukarest – auch größere Vokalwerke ein, wobei ihr Mann, Pfarrer Christian Reich, sie als Dirigent unterstützte, wenn sie den Cembalo- oder Orgelpart übernahm oder wenn es galt, Orchesterwerke aufzuführen. 2006 wurde sie hier in den Ruhestand verabschiedet und mit der Bürgermedaille in Silber ausgezeichnet.

Als Nachfolgerin von Dieter Barthmes übernahm Ilse Maria Reich 1997 die Leitung der Siebenbürgischen Kantorei, eines vom Pfarrer, leidenschaftlichen Musikfreund und Chorsänger Wieland Graef gegründeten Chors, der sich hauptsächlich aus ehemaligen Mitgliedern siebenbürgischer Kirchenchöre und der beiden Bach-Chöre in Hermannstadt und Kronstadt zusammensetzt. Die Sänger, die wie alle Siebenbürger Sachsen zerstreut in ganz Deutschland leben, kommen periodisch zu Rüstzeiten zusammen, um zu proben und zu konzertieren. Die Dirigentin hat den Chor weiter ausgeformt und das Singrepertoire erweitert.

Weit gefasst ist auch Reichs eigenes Repertoire als Organistin: Es umfasst alle Stilperioden und Gattungen der Orgelmusik. Zu ihrem Konzertrepertoire zählen so gut wie alle Orgelkomponisten der Barockzeit, in vorderster Linie die von Johann Sebastian Bach, dessen Gesamtwerk sie gespielt hat – in manchen Rezensionen ist von „bedeutender Bach-Interpretin“ die Rede –, dazu die Romantiker Mendelssohn, Brahms, Liszt, Franck, Reger u.a.

Selbstverständlich spielt sie auch die Konzerte für Orgel und Orchester sowie für Cembalo und Orchester. Als „moderne“ Organistin spielt sie desgleichen Musik unserer Zeit, darunter vor allem Werke von Messiaen, Kodály, Bartók, Hindemith, Johann Nepomuk David und regelmäßig auch Orgelmusik von rumänischen Komponisten: George Enescu, Tudor Ciortea, Anatol Vieru, Serban Nichifor (lies: Scherban Nikifor), Myriam Marbé, Ede Terényi, Liana Alexandra. Einige dieser Orgelwerke wurden für sie geschrieben und sind ihr gewidmet, während sie ihrerseits durch die Aufführung solcher Werke manchen Namen weitergetragen hat. Moderne Orgelkompositionen siebenbürgisch-sächsischer und banater Komponisten stehen ebenfalls in ihrem Repertoire: Wilhelm Georg Berger, Helmut Sadler, Dieter Acker, Andreas Porfetye. Desgleichen pflegt sie überlieferte siebenbürgische Orgelmusik wie beispielsweise Stücke von Daniel Croner.

Selbstverständlich hat die Organistin Schallplatten eingespielt, Rundfunkaufnahmen gemacht, ist im Fernsehen aufgetreten und hat eine ganze Reihe neuer Orgelkompositionen uraufgeführt.

Klaus Kessler schreibt über Ilse Maria Reich in einem Konzertbericht aus Bukarest 1981, sie habe „jenes Niveau von technischer Virtuosität, geistiger Reife, Erfahrung, Musik- und Stilwissen erreicht, wo diese genannten Qualitäten zu einer Resultante verschmelzen, deren Ergebnis die ausgeprägte, unwiederholbare künstlerische Persönlichkeit ist, die jedes Konzert zu einem nachhaltigen musikalischen Ereignis zu gestalten weiß“.

Für ihr Lebenswerk seien Ilse Maria Reich von dieser Stelle aus die herzlichsten Glückwünsche ausgesprochen. Gleichzeitig hoffen wir, dass sie die Tradition, für die sie steht, noch lange fortführen möge.

Karl Teutsch

Schlagwörter: Musik, Orgelspielerin, Hermannstadt, Bukarest, Chor Siebenbürgische Kantorei

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Neueste Kommentare

  • 18.02.2014, 12:21 Uhr von pedimed: Ihr Rottenburg liegt in Niederbayern und nicht im schwäbischen!!! mfG! [weiter]

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