11. Januar 2021

Zum Tod eines engagierten Geistlichen, Heimatkundlers und Genealogen: Reinhold Schullerus (1931-2020)

Der Verfasser dieses Nachrufs lernte den am Reformationstag, 31. Oktober 2020, Verstorbenen erst in der letzten Etappe dessen erfüllten Lebens als aktives Mitglied des Sektion Genealogie des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde e. V. Heidelberg kennen. Somit steht im vorliegenden Nachruf nicht der evangelisch-lutherische Pfarrer und Familienvater – der in der Beilage „Kirche und Heimat“, Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 15. Dezember 2020, von Paul Sattler bereits gewürdigt wurde – sondern vielmehr der Landeskundler, Buchautor und Familienforscher im Mittelpunkt.
Reinhold Schullerus mit einem Teil seiner ...
Reinhold Schullerus mit einem Teil seiner genealogischen Karteisammlung, 2012. Foto: R. Offner
Am 13. Juli 1931 wurde Reinhold Schullerus als Spross einer weitbekannten siebenbürgisch-sächsischen Pfarrerdynastie in Zendresch geboren. Vier Jahre später zog seine Familie nach Schaas um, wo er dann aufwuchs und seine Kindheit und Jugendjahre verbrachte. In Schäßburg, wo sein Vater als Bezirksdekan wirkte, besuchte er zusammen mit seinen drei Brüdern bis 1948 das Bischof-Teutsch-Gymnasium („Bergschule“) und danach das Lehrerseminar, das durch die Schulreform an die Stelle des Gymnasiums getreten war. Damals endete nämlich die Autonomie der konfessionellen Schulen, die Schäßburger Lehrerinnenbildungsanstalt und das Hermannstädter Knabenseminar wurden zusammengelegt, und so entstand die Pädagogische Schule mit deutscher Unterrichtssprache. Hier erwarb sich der Pfarrersohn 1950 sein Lehrerdiplom, wonach erste Berufserfahrungen in den Banater Gemeinden Liebling und Ebendorf folgten. Wegen seiner im Sinne der damaligen stalinistisch-kommunistischen Ideologie „ungesunder sozialen Herkunft“ wurde Schullerus von den Machtinhabern drangsaliert und für mehr als drei Jahre in ein Arbeitslager, getarnt als Militärdienst, nach Lupeni geschickt. Anschließend folgte ein Jahr Lehrdienst in Peschendorf bei Schäßburg. In diesen schweren Jahren reifte der Entschluss heran, der Familientradition getreu evangelische Theologie zu studieren, was dann in Hermannstadt auch geschah. 1960 begann er den geistlichen Dienst als Vikar in Deutschweißkirch. Hier sollten zwölf gute und gesegnete Jahre folgen, wo der junge Pfarrer Eva Schaser, ebenfalls eine Pfarrerstochter und Lehrerin, heiratete und mit ihr eine Familie mit drei Kindern (Herbert, Alida, Martin) gründete.

Die Kirchengemeinde Baaßen wählte Reinhold Schullerus 1972 zu ihrem Pfarrer, wo auch seine Gattin als Lehrerin Anstellung fand. Sechs Jahre später wurde er sogar als Dekan (Dechant) mit der Leitung des Kirchenbezirks Mediasch betraut. Dort lebte und wirkte nun, für die anvertraute Kirchengemeinde vielseitig engagiert, das Ehepaar Schullerus bis zu dessen Aussiedlung nach Deutschland 1993, wo ihre Kinder seit 1990 lebten. Damit war jedoch seine Tätigkeit als Geistlicher in Siebenbürgen noch nicht beendet, denn zwölfmal weilten sie in den Sommermonaten – aus Goldkronach in Oberfranken kommend – in Mediasch, um in seinem ehemaligen Kirchenbezirk in pfarrerlos gebliebenen Gemeinden Gottesdienste anzubieten, aber auch, um Pfarrerkollegen als Urlaubsvertretung zu unterstützen. Bemerkenswerterweise arbeitete er in dieser Zeit konsequent auch an der Archivierung der kirchlichen Bücher aus den Gemeinden seines vormaligen Dekanates. Parallel dazu recherchierte er eifrig, sieben Jahre lang, für die Erstellung der Ortsmonografie seiner letzten Gemeinde. Diese waren unzählige beharrliche, aber auch gut investierte, kostbare Arbeitsstunden des Heimat- und Landeskundlers, denn das Ergebnis seiner Fleißarbeit wurde 2002 unter dem Titel „Baaßen. Geschichte einer sächsischen Gemeinde in Siebenbürgen“ im Verlag der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung in München verlegt und in Nürnberg gedruckt. Mit seinem Werk, einer reichhaltigen und fundierten Ortschronik, lag er voll im Trend, denn in der Zeit nach der politischen Wende 1989 erschienen viele Ortsmonografien von Gemeinden, Marktflecken und Städten. Den Anlass dazu boten der folgenschwere Exodus der Mehrheit der siebenbürgisch-sächsischen Einwohner sowie der nachfolgende Niedergang oder zumindest die erhebliche Schwächung und Metamorphose vieler Ortschaften und Gemeinschaften. Daraus leitete sich oft der Drang zu Datenerfassung, Dokumentation und Archivierung einer schwindenden Welt durch Vertreter der Erlebnisgeneration ab. In die Zahl dieser engagierten Landeskundler reihte sich Reinhold Schullerus, der berentete, aber in der alten Heimat freiwillig weiterhin aktive Pfarrer, ein und wandelte sich allmählich zu einem begeisterten Hobbyhistoriker, Kirchen- und Familienforscher. Auch damit diente er bewusst seiner ehemaligen Kirchengemeinde, deren Mitglieder nun mehrheitlich nach Deutschland übersiedelt waren und in einer ortsübergreifenden Heimatortsgemeinschaft Baaßen landsmannschaftliche Kontakte pflegten. Reinhold und Eva Schullerus wirkten im Vorstand dieses Vereins tatkräftig mit.
Ehepaar Eva und Reinhold Schullerus in ihrem ...
Ehepaar Eva und Reinhold Schullerus in ihrem Garten in Goldkronach, 2012. Foto: R. Offner
In jeder Ortsmonografie stecken viel Arbeit und Herzblut des Verfassers. Dies gilt auch für die Geschichte von Baaßen, die Pfarrer Schullerus verfasst hatte und die nicht nur in ungewohnt großem Format, sondern auch in einer exzellenten Qualität erstellt wurde. Das Werk zeichnet sich durch einen gut durchdachten Aufbau, eine chronologisch geordnete Gliederung und vor allem durch einen bestechenden Reichtum an heimatkundlichen Inhalten und beeindruckenden Illustrationen aus. Im ersten der sechs Kapitel „Die ersten Jahrhunderte“ legt er ein solides Fundament der Ortsgeschichte, gefolgt von den „Institutionen und Körperschaften, die das Gemeindeleben bestimmten“ mit der Darstellung der kirchlichen und weltlichen Leitungen bzw. der Nachbarschaften, der Schule und der Wirtschaft. Hier sei hervorgehoben, dass Baaßen insbesondere durch das überregional geschätzte Heilbad und durch das bedeutende Erdgasvorkommen bzw. die Erdgasgewinnung neben einer breit gefächerten Landwirtschaft aus ökonomischer Sicht überdurchschnittlich viel zu bieten hatte. Somit ist es verständlich, dass diese Themen (Obstgarten, Weinlese, Baaßner Schweinerasse, mondäne Badekultur etc.) ausführlich geschildert und mit authentischen Bildern illustriert werden.

Etwa ein Drittel des Buchumfanges macht die jüngere Geschichte der Gemeinde aus. Das Kapitel „Schwerpunkte verlagern sich“ spricht die beiden folgenschweren Weltkriege an und stellt die rumänische Bevölkerung der Gemeinde dar. Es fehlen auch nicht die Listen der Kriegsteilnehmer, Gedenktafeln für die Gefallenen und Verschollenen. „Die Gemeinde Baaßen nach dem Zweiten Weltkrieg“ beinhaltet chronologisch das einschneidende Ereignis der Deportation von fast 200 Dorfbewohnern in die Sowjetunion, hauptsächlich in das Donezk-Becken, von denen nur ein Teil zurückkehrte. Dieses Unterkapitel listet die Verschleppten detailliert auf und ergänzt das Thema um Zeugenberichte und Fremdbeiträge (Gedichte, Memoiren). Zur Sprache kommen auch die Besetzung sächsischer Höfe durch sog. Kolonisten (Rumänen und Roma), die leidvolle Einführung der Kollektivwirtschaft und die Entstehung der Staatsfarm: Obstplantagen, Bienenzucht, Großbäckerei. Das deutschesprachige Schulwesen und das rege kulturelle Leben der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg werden reich bebildert aufgeführt (Lehrkräfte, Theater- und Tanzgruppe, Adjuvanten/Blaskapelle, Kirchenchor, Feste und Trachtenpflege), ebenso das kirchliche Leben unter den in der kommunistischen Ära eingeschränkten Möglichkeiten, in dem das Ehepaar Schullerus in den 1970er- bis 1990er-Jahre vielseitig engagiert und prägend mitwirkte. Besonders poetisch und authentisch wirkt der Kurzbeitrag der Tochter Alida Schnebel, geb. Schullerus: „Manchmal vermisse ich das Läuten der Kirchenglocken“. Das letzte Kapitel behandelt die Zeit um die politische Wende mit dem zunehmenden Auswanderungsdruck (Beispiel: Wortbeitrag Johanna Otts, geb. Faff) und dann ab 1990 die massive „Flucht in die Freiheit“, wie der Beitrag Ernst Werners betitelt ist, die wiederum das allmähliche Ende der Geschichte der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinde Baaßen einläutete. Er verzichtet jedoch auf den Versuch einer objektiven Ursachenanalyse. Nicht vergessen wurden auch die Hilfsaktionen aus dem Ausland (Bad Salzuflen/Wülfer und Mühldorf in der Wachau), die nach dem Umsturz des Ceaușescu-Regimes Baaßen erreichten. Auf nur einer Seite präsentiert er die Heimatortsgemeinschaft der ehemaligen Dorfgemeinschaft, die in Deutschland lebt und bei ihren Treffen alte Freundschaften sowie gute Beziehungen pflegt und Erinnerungen auffrischt. Mit einer historischen Zeittafel und dem Literaturverzeichnis wird die Ortsmonografie abgeschlossen. Mit seinem Buch hat Pfarrer Schullerus ein gelungenes, gründlich dokumentiertes Werk vorgelegt und damit der Gemeinde Baaßen ein würdiges Denkmal mit Vorbildcharakter gesetzt, das zu den allerbesten siebenbürgisch-sächsischen Heimatortsmonografien zählt.

Bereits während den ausgiebigen Recherchen zum Buch begann Reinhold Schullerus, in den Beständen des Kirchenarchivs seines ehemaligen Kirchenbezirks zahlreiche Kirchenbücher (z. B. Matrikel) zu untersuchen, Auszüge und Kopien anzufertigen, Listen zu erstellen, Karteien anzulegen und Literatur zu studieren. Daraus ist eine beachtliche Sammlung an genealogisch relevanten Daten entstanden, die auch weit nach dem Erscheinen seiner Ortsmonografie fortgesetzt und ergänzt werden konnte. Ein weiteres Projekt beschäftigte den rührigen Rentner, ein neues Ziel hatte er sich gesetzt. In enger Zusammenarbeit mit seinem Vereinsfreund Dr. Werner Klemm (heute Karlsruhe) und weiteren Mitstreitern nahm er sich vor, weitere Bände des Lexikons „Die Pfarrer und Lehrer der Evangelischen Kirche A. B.“ zu erstellen und in der Schriftenreihe zur Landeskunde Siebenbürgens zu publizieren. Den ersten Band [22/I] veröffentlichte Dr. Ernst Wagner 1996 beim Böhlau Verlag. Reinhold Schullerus’ und Werner Klemms emsige und akkurate Sammeltätigkeit führte bis dato zur Entstehung einer beeindruckend großen Datenbank mit Biografien mehrerer Tausender evangelischer Geistlicher und Lehrer Siebenbürgens aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Die etwa sieben Umzugskartons füllende handschriftliche Karteisammlung mit zahlreichen Namenslisten und Registern überließ Schullerus 2017 dem Schreiber dieser Zeilen, als Leiter der Sektion Genealogie des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde, um sie dem Siebenbürgen-Institut an der Universität Heidelberg zu übergeben. Auch für diesen erheblichen Beitrag des Pfarrers Reinhold Schullerus zur Kirchen-, Bildungs- und Familiengeschichte Siebenbürgens gilt die uneingeschränkte Anerkennung und redlich verdiente Dankbarkeit der Wegbegleiter, Mitstreiter, Vereinskollegen und Landsleute. Nicht unerwähnt bleiben sollten seine großzügige Geldspende an den AKSL (2020) sowie eine bedeutende Bücherspende (2012) an die Siebenbürgische Bibliothek in Gundelsheim und an das Ungarn Institut – Hungaricum an der Universität Regensburg.

Priv.-Doz. Dr. Robert Offner

Schlagwörter: Porträt, Nachruf, Genealoge, Pfarrer, Baaßen

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