17. August 2023
Moralisch unbeugsam, literarisch unverwechselbar: Der Schriftstellerin und Regimekritikerin Herta Müller zum 70.
Wer als Deutscher aus Rumänien kommt, kennt sie wohl, und unter den Landsleuten genießt sie auch sicherlich eine hohe Wertschätzung. Herta Müller, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, die bei der Verleihung dieses Preises großzügig zugeneigte Worte für ihre Freunde, die ehemaligen Mitglieder der „Aktionsgruppe Banat“, fand, begeht am 17. August 2023 ihren siebzigsten Geburtstag.

Für mich als Sozialwissenschaftler und Schriftsteller mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund wie Herta Müller erscheint zunächst als das Interessanteste und Wichtigste, was sie über die Diktatur geschrieben hat. In ihrer Literatur hat sie überaus eindrucksvoll die Wesenszüge, die Deformationen wie auch die Schwächen solcher Herrschaftssysteme, wie diese nicht zuletzt im nationalkommunistischen Rumänien unter dem Ceauşescu-Regime zu erleben waren, gründlich erschlossen und erkenntnisreich verarbeitet. In einem bereits 2003 verfassten Beitrag versuchte ich zu zeigen, wie sich die in den gängigen Totalitarismustheorien festgehaltenen Merkmale totalitärer Diktaturen sehr trefflich und zugleich bedrückend in den literarischen Arbeiten Herta Müllers veranschaulicht finden. Ihre Romane und Reflexionen und insbesondere der Roman „Herztier“ (1994), auf den sich meine Analysen damals hauptsächlich bezogen, lehren uns zu sehen und zu verstehen, dass eine Diktatur nicht nur ein wohl durchdachtes und durchorganisiertes Herrschaftssystem, sondern mehr noch die Summe vieler einzelner kleiner Dinge ist, die in nahezu sämtliche Winkel des alltäglichen Lebens und Denkens der Menschen zumeist zerstörerisch hinein reichen. Die Diktatur ist auch und vielleicht vor allem ein „Zustand in den Köpfen“, wiewohl natürlich ebenso eine rigide, durch Gewalt gestützte äußere Kontrolle des Verhaltens der Menschen dazu gehört. Erst die ständige Präsenz und die willkürliche Androhung von Gewalt bewirken psychische Verletzungen und führen Dispositionen und Zustände herbei, wie sie in Diktaturen typisch sind, wobei solche Herrschaftsordnungen natürlich auch über eigene „Anreiz- und Belohnungssysteme“ verfügen, wie Herta Müller etwa am Beispiel sozialer Aufsteiger oder abgestufter Privilegien der Kreise der der ideologischen Herrschaft Zugeneigten zeigte. Schließlich ist die Diktatur auch ein Kampf gegen die Denkenden, gegen die Intellektuellen, die Intellektuelle sind und nur bleiben können, wenn sie nicht den Bestrebungen der Diktatur willig und gefügig werden und damit eine Karikatur ihrer selbst. Dies ist nicht ganz einfach und fordert nicht selten eine mutige Haltung.

Von ähnlicher Bedeutung und wahrscheinlich noch größerer Reichweite wie die literarischen Arbeiten zu dem Themenkreis der totalitären Diktatur ist sicherlich auch Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ (2009), der die Verleihung des Literaturnobelpreises an sie bekanntlich mitbegründete. In diesem Werk findet sich in eindrucksvoller literarischer Verarbeitung und zugleich mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität das kollektive Trauma der bürokratisch geplanten und durchorganisierten Massendeportation der Deutschen aus Rumänien und aus anderen Ländern des sowjetischen Einflussgebietes am Ende des Zweiten Weltkrieges verdichtet. Also die bedrückenden Erfahrungen der Zwangsarbeit unter einem inhumanen Lagerregime, mit strengen, gewaltgestützten Regelungen, Zwängen, Kontrollen, Demütigungen, Schikanen und Repressionen, unter oft rudimentären Unterbringungs-, Hygiene- und Lebensbedingungen, bei im Winter eisiger Kälte, häufiger Krankheit, nahezu ständigem Hunger, körperlicher Schwäche, Gebrechlichkeit und vielfach eingetretenem Tod literarisch dargestellt. Dies sollte auch und gerade in unserer Zeit eine sehr eindringliche Erinnerung und Mahnung, angesichts des brutalen Überfalls der Ukraine durch Russland und den dabei erfolgten und bekannt geworden Gräueltaten sein, sind die Orte der Deportation der Deutschen aus Rumänien doch vielfach identisch oder räumlich sehr nahe denen der heutigen Kampfhandlungen gelegen.

Anton Sterbling
Schlagwörter: Kultur, Literatur, Nobelpreis, Banat, Diktatur
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