6. September 2010

Wie viel Heimat braucht der Mensch?! Zur Essaysammlung „Einen Halt suchen“ von Joachim Wittstock

Schon der titelgebende Einleitungsessay „Einen Halt suchen“ des diesjährigen Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreisträgers Joachim Wittstock wirft die siebenbürgisch-sächsische Grundfrage auf nach einem Halt im Glauben am Beispiel des Reformators und Begründers der selbstständigen evangelischen Landeskirche der Siebenbürger Sachsen, Johannes Honterus (1498-1549). Wittstocks Essaysammlung „Einen Halt suchen“ ist im Hermannstädter hora Verlag erschienen.
Beim Baden in einem reißenden Gewässer nur durch den Griff nach einem Holunderstrauch (Hontertstreoch) dem Ertrinken entronnen, beschließt der junge Kronstädter Johannes seinen Familiennamen symbolisch in Honterus zu ändern. Ähnlich Luther, der in einem Gewitter ausruft „Hilf, heilige Anna, ich will ein Mönch werden“ und Halt im Glauben – zunächst in einem Kloster – findet, wird hier in der möglicherweise, wie Wittstock erwähnt, erfabelten Geschichte der Halt im Glauben gefunden. Indem die evangelische Landeskirche der Siebenbürger Sachsen als eine der ersten Institutionen in Europa die allgemeine Schulpflicht in allen siebenbürgisch-sächsischen Gemeinden einführte, bot sie einen zusätzlichen Halt an Bildung.
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Der Buchumschlag (Vorder- und Rückseite) wurde von Stefan Orth gestaltet.
Dieser Sinnsuche wird bis zur Wendezeit nachgegangen anhand von literarischen Beispielen von Hans Bergels Erzählung „Begegnung mit Treff“ (1957), Paul Schusters Novelle „Strahlenlose Sonne“ (1961), Andreas Birkners Roman „Heinrich, der Wagen bricht“ (1978), Erwin Wittstocks Roman „Das jüngste Gericht in Altbirk“ (1971), Hans Liebhardts Skizze „Zirkus Guido“ (1981), Georg Schergs Roman „Bass und Binsen“ (1973) und Wolf von Aichelburgs Erzählung „Andrasch aus dem Brunnen rief“ (1971). Nach dem Umbruch fährt Joachim Wittstock fort mit Eginald Schlattners Roman „Der geköpfte Hahn“ (1998), Carmen Elisabeth Puchianus Erzählung „Strohschneider“ (1995) und Franz Hodjaks „Geschichten um Stanislaus“ (1992). Einen universellen Halt findet Joachim Wittstock sowohl für die Rumäniendeutschen, aber auch für die Rumänen kulturübergreifend in Goethes Faust II in seinem Essay „Im Namen von Faust, Helena und Euphorion, deutsch-rumänische Begegnungen in der neueren Literatur“. Der Literaturkritiker Ion Roman hat in seinem umfangreichen Studienband „Goethesche Echos in der rumänischen Kultur“ / „Ecouri goetheene in cultura românească“ Editura Minerva, Bukarest 1980, die Fleißarbeit geleistet, die Wirkung Goethes auf rumänische Kulturschaffende zu dokumentieren.

Constantin Noica, der originellste und hintersinnigste Philosoph der Ceaușescu-Ära, wirft in seinem Essay „Abschied von Goethe“ (1976) Faust ein Übermaß an Kompromissbereitschaft, an Wendigkeit, Eigennutz und Genusssucht vor. In Faust II sieht Noica eine teuflische Beschränkung auf eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten. Diese würden allein vom Intellekt abstrakt durchdrungen und nicht realiter erlebt. Wenn das Mögliche über das Reale siegt, wird der naturhafte Menschentypus vom ideologischen abgelöst. Statt Faust Mephisto. Rumäniens Ostblocksozialismus lässt hier grüßen.

Bei Stefan Augustin Doinaș, dem letzten und sprachlich genauesten Übersetzer des Faust ins Rumänische (1982), wird die Begegnung zwischen Faust und Helena als Synthese zwischen Antike und Moderne aufgefasst. Helena ist das illusorische Idealbild Fausts, der durch sie zum der weiblichen Schönheit nachjagenden Don Juan wird und letztlich damit ein tragisch-scheiternder Liebhaber ist. Für den im rumänischen Ostblocksozialismus wirkenden Doinaș eine bemerkenswert mutige Abrechnung mit illusorischen Utopien, für die er Faust II als Anlass nimmt, um Ceaușescu Rumänien vorzuführen.

Die Faustübersetzung von Lucian Blaga (1955) ist nach Meinung vieler Literaturkritiker die poetisch eigenwilligste und ästhetisch wohl auch gelungenste. Vielleicht auch, weil Blaga das „faustische Streben“ auf originelle Art in sein Werk einfließen ließ, um es dort zu aktualisieren.

Der Sohn von Faust und Helena, Euphorion, als Sinnbild eines flügellosen Höhenfluges, der tragisch enden muss, wird in Rumänien gern als Titel literarischer Essays, aber auch literarischer Vereine gewählt. Seit April 1990 erscheint in Hermannstadt ein Periodikum des Rumänischen Schriftstellerverbandes „Euphorion“ auch eingedenk der biografisch mit Hermannstadt verbundenen Goethe-Verehrer Blaga, Noica und Doinaș. Dem Leitungsausschuss gehört auch Joachim Wittstock an, so dass die rumänischendeutsche Literatur hier eine unüberhörbare Stimme erhalten hat.

In dem Essay „Deutsch schreiben in Rumänien“ plädiert Wittstock, wie auch im Essay „Auseinander strebend, zueinander laufend“ für ästhetische Maßstäbe und Eigeninitiative. Er weist hier darauf hin, dass die gegenwärtige deutschsprachige Literatur Rumäniens hauptsächlich durch höchst anerkennenswerte Einzelinitiativen bestimmt wird, der dankenswerterweise Schulen, Bibliotheken, die deutschen Konsulate und auch Wirtschaftskammern helfend unter die Arme greifen. Es gilt: Eigeninitiative vor Planwirtschaft.

Seit dem Umbruch von 1989 ist mit dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien – vor allem auch über seine regionalen Gliederungen – die Gemeinschaft der Rumäniendeutschen wieder zum selbstverantwortlichen historischen Subjekt ihres Schicksals geworden. Sie ist nicht mehr bloß Objekt staatlicher Minderheitenpolitik mit von oben eingesetzten Staats- und Parteifunktionären. So fördert dieses Forum auch zahlreiche Publikationen, nicht zuletzt auch literarische, um die eigene Identität zu bewahren, wie es Joachim Wittstock in seinem Grundsatzessay „Literatur als Zeugnis einer kleinen Gemeinschaft“ darlegt. Über dieses Engagement können auch die Beziehungen zu den rumänischen wie auch ungarischen Autorenkollegen und ihren Redaktionen rege bleiben in wechselseitigen Übersetzungen und in publizistischer Mitarbeit, überdies in der Aufarbeitung literaturhistorischer Grundsatzfragen.

Ingmar Brantsch


Joachim Wittstock: „Einen Halt suchen“, hora Verlag, Hermannstadt/Sibiu, 2009, 352 Seiten, ISBN 978-973-8226-79-1, zu bestellen im Siebenbuerger.de/Shop.
Einen Halt suchen
Joachim Wittstock
Einen Halt suchen

hora Verlag

352 Seiten
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Schlagwörter: Rezension, Hermannstadt

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